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Der alte Mann will seine Ruhe haben

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Zw Kurhaus von Meran wurde eine Ausstellung sämtlicher Werke Ezra Pounds eröffnet. Leihgaben hierzu stellten die Familie des Dichters, der am 30. Oktober seinen 73. Geburtstag feierte, und der Verleger Giovanni Scheiwiller aus Mailand zur Verfügung. Anlaß dieser großen Ausstellung ist der 50. Jahrestag des Erscheinens des ersten Gedichtbandes von Ezra Pound, „A lume spento“, der 1908 in einer kleinen Auflage in Venedig herauskam.

AUF ALTEN LANDKARTEN sind Schloß Tirol und das gleichnamige Dorf in Kapitallettern eingetragen, während das nahe Meran im Tal, wenn überhaupt, nur ganz klein verzeichnet ist. Schloß Tirol ist der Stammsitz der Grafen von Tirol, die es zur Landesherrlichkeit brachten. Als Landesherren bevorzugten sie bald Innsbruck als Residenz.

Heute ist das kleine Dorf Tirol, wenn es auf Karten auch nur als Stern letzter Größe aufscheint, ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen. Seit kurzem aber ist es wieder ein Zentrum geworden. Ezra Pound hat sich hier niedergelassen, der Grand Old Man der amerikanischen Dichtung und immer noch erster Kandidat für einen Prix Nobel. Hier ist ein guter Platz, um auszuruhen von einem rastlosen Leben in beiden Hemisphären und vor allem von den schweren Jahren in St.-Elizabeth's-Hospital in Washington, in dem er seit 1945 gefangengehalten wurde, ein Löwe im Käfig.

Die Brunnenburg, italienisch Castel Fontana, ist ein gotisierendes, etwas skurriles Bauwerk mit Zinnen, ineinander verschachtelten Gängen und Treppen, ein richtiges Labyrinth. Es liegt vielleicht hundert oder zweihundert Meter unter Schloß Tirol, immer noch hoch über dem Tal der Etsch, und ist kostbar ausgestattet. Es gehört dem bekannten Aegyptologen Prinz Boris de,

Rachewiltz, der mit Mary, der Tochter Pounds, verheiratet ist. Pound hat seine beiden Enkelkinder, den elfjährigen Siegfried-Walter und die neunjährige Patricia im Juli, als er aus Amerika hier eintraf (die Ueberfahrt hatte er auf dem „Cristoforo Colombo“ gebucht), das erste Mal gesehen.

EIN SCHMALER FUSS-STEIG führt von Dorf Tirol, wo der aus Meran kommende Autobus Endstation hat, zur abenteuerlich anmutenden Kulisse der Brunnenburg hinab, kaum zehn Minuten zu gehen. Ein Mann in weinrotem Hemd, Shorts und Sandalen, mit Schirmmütze und kleinem weißem Bart kommt den Pfad herauf: Pound auf seinem Morgenspaziergang, mit seiner Tochter den Weg hinauf zur Ortschaft, die Post holen und Besorgungen machen. Er ist über meinen Besuch informiert. Er beginnt sogleich — nach der Frage, welche Sprache mir am angenehmsten sei (ich sage: Englisch) — zu sprechen. Er bedauert höflich, daß- er nur wenig Deutsch kann. Die Steigung scheint ihm keine Schwierigkeiten zu machen; rüstig ausschreitend, erzählt er. Pläne, Gedanken; wissenschaftliche Fragen beschäftigen ihn, die Ethnologie, das Wissen vom Menschen, der Kreis um Leo Frobenius, dessen Namen er mehrmals erwähnt. Der Enkel, Dr. Sebastian Frobenius, hat soeben aus Paris seinen Besuch auf Brunnenburg angekündigt. Da hier eine Beziehung zur Rassentheorie naheliegt (und wohl auch, weil er in letzter Zeit oft als „unverbesserlicher Faschist“ bezeichnet wurde — zu Unrecht, denn er läßt sich, so außerordentlich seine Gedankengänge manchen erscheinen mögen, in kein Schema pressen), erklärt Pound, jedes Mißverständnis ausschließend, seinen Standpunkt; der dem Kenner seiner Werke ja vertraut ist. Pound gehört zu den wenigen Dichtern, die sich in jeder Verszeile direkt und ohne sentimentale Färbung ausgesprochen haben.

Sein besonderes Interesse gilt zeitgeschichtlichen Fragen; sehr viel wäre ihm an einer wirklich objektiven Darstellung der letzten 40 Jahre gelegen; hier gälte es, Quellen zu sammeln. Auch wenn er auf Frobenius, Kulturmorphologie und Mythologie zu sprechen kommt, betont er sofort, daß ihm nichts an einer rückwärts-gewandten Wissenschaft liege. Das, was auch konkret auf unsere heutige Situation Bezug hat, ist ihm von Bedeutung; nur die Kenntnisse, die uns zu klarem Erkennen und rechtem Handeln führen. Auch wenn der Name nicht fällt, spürt man, wie sehr sein Denken von der praktischen Vernunft eines Konfuzius geprägt wurde.

Ezra Pound macht den Eindruck ungebrochener Kraft. Die Jahre in St. Elizabeth haben ihm, so scheint es, nichts anhaben können. Er selbst betont freilich gleich, daß er nicht auf dem laufenden sei, keine Kontakte mehr in Europa habe. Er fragt rasch und prägnant. Etwa wo heute in Europa Zentren, Brennpunkte seien, welche Professoren etwas zu sagen hätten; wer wohl ausführlich und präzis auf detaillierte Fragen antworten wird, wenn man sich an ihn wendet. Deutlich schwebt ihm der Begriff der Kultur als einer echten Gesprächsgemeinschaft der großen Geister vor. Pound notiert ein paar Namen, die ich nenne. Den Eranos-Kreis, Kerenyi, Eliade, Portmann. Dann Löwith, Adorno. — Auch von persönlichen Gegnern, wie etwa Reinhold Niebuhr, spricht er ohne Erbitterung. Auf sein Schicksal kommt er gar nicht, und wenn, dann nur nebenbei, zu sprechen. Keine Klage, keine Anklage. Es sind allgemeine Probleme der Zeit, die ihn ausfüllen. Er fragt nach wichtigen Neuerscheinungen in deutscher Sprache; nach Schriftstellern, die aktiv Stellung zur Zeit bezögen. Ich nenne zwei Tote: Bertolt Brecht, Reinhold Schneider. (Merkwürdig, daß meist nur der Kommunismus, seltener das Christentum einen Schriftsteller zum Einsatz der eigenen Persönlichkeit bei aktuellen Fragen bewegen kann!) Dann fragt Pound nach Schriftstellern, die auch an Problemen der Nationalökonomie interessiert seien; hier weiß ich keinen Namen zu nennen. Pound schüttelt den Kopf; er ist enttäuscht. Man spürt es wie einen Stich, wie er sich plötzlich allein fühlt auf der Welt. Wer, auch von seinen alten Freunden, Eliot, Hemingway, hat ihn wirklich verstanden?

AM NACHMITTAG, um 4 Uhr, nach der Siesta, ist Lesestunde. Pound hat, kurz nach seiner Ankunft auf Brunnenburg, begonnen, im Kreise der Familie die Cantos vorzulesen. Er will sein Hauptwerk noch einmal durchgehen. Er sitzt auf dem Sofa, die Familie um ihn; auch Vanni Scheiwiller, der Verleger aus Mailand, der eine Reihe bibliophiler Ausgaben seiner Werke herausgebracht hat, ist anwesend. Soweit vorhanden, nimmt jeder ein Exemplar der Cantos; der kleine Walter verfolgt den Text, mit den Fingern die Zeilen nachfahrend.

Pound liest den 36. und 37. Gesang. Er liest nicht eigentlich, er trägt vor, als ob es Noten zum Text gäbe, als ob die Cantos auch komponiert wären. Es ist ein Sprechgesang von großer Eindringlichkeit. Der Name besteht zu Recht. Es sind wirklich Gesänge.

Jemand sagte einmal, den Cantos begegnen, heiße zum erstenmal Whisky trinken: der Geschmack ist ungewohnt, man vermag nur wenig zu kosten. Aber schon spürt man, daß dies eine große Sache ist, zu der man immer wieder zurückkommen wird. — Vielleicht ergibt sich uns ein spontanes Eindringen und tieferes Verstehen der Cantos erst, wenn wir sie einmal gehört haben. Ich weiß nicht, ob es schon eine Langspielplatte von einer Pound-Lesung gibt; es wäre eine dringende Aufgabe, eine solche Aufnahme zu machen. Wie er im Canto 37 aus einigen Zitaten von Sätzen Martin van Burens (des amerikanischen Präsidenten) und Zahlen aus Bankbilanzen eine Verurteilung eines ihm verhaßten Geldsystems kompiliert, wie sie dichter — und damit in Wahrheit auch dichterischer — nicht gedacht werden kann — das muß man gehört haben.

Eliot sagte, man solle moderne Gedichte rezitieren, als ob man aus einer Zeitung vorlese, am Frühstückstisch: nüchtern, ruhig, interessiert. Brecht meinte, Gedichte müßten so sachlich gelesen werden, als ob man in einer Diskussion spreche; auch Unterbrechungen dürften nicht schaden. Ganz anders Dylan Thomas, der seine Verse mit naiver, unmittelbarer Sinnenfreude deklamierte; anders auch wieder Pound. Seine Art zu lesen, die ganz und gar gebändigt ist, steht in einer großen Tradition, geht sehr weit zurück. Man wird an die Epoche der Troubadours erinnert, glaubt einem ihrer Zeitgenossen zuzuhören, vielleicht Guillaume de Poictiers oder Arnaut Daniel. (Sehr präzise Aufnahmen von Liedern der Troubadours, Trouvere, Minnesänger liegen in der Archivproduktion der Deutschen Grammophon-Gesellschaft vor.) Auch wenn Pound kein anderes Instrument benötigt als die menschliche Stimme und kein anderes Mittel als das volltönende Wort: es ist Dichtung aus dem Geist des Mittelalters. Pound ist der Wolkenstein unserer Zeit, er ist wie dieser weit herumgekommen und hat eine umfassende Kenntnis der Literatur aller Länder, hat viel Vergessenes wieder ans Licht gebracht, vieles verwendet und verwandelt.

Pound verweist anschließend im Gespräch auf die Section Rock-Drill seines Werkes (8 5—95 de los Cantares), in der, auf einer anderen Ebene und mit neuen Ausdrucksmitteln, die hier angeschlagenen Themen wieder aufgenommen und reflektiert werden; so daß die Architektur des Gesamtwerkes klarer hervortritt. (Die Rock-Drill Cantos: eine deutsche Uebersetzung ist bis heute nicht da. Eva Hesse, seine ausgezeichnete Uebersetzerin und Interpretin, sollte auch sie deutsch vorlegen; vielleicht wäre die Beifügung eines erläuternden Kommentars zu empfehlen.)

POUND WIRD HINAUSGERUFEN. Einmal sind es Photographen, die ein paar Aufnahmen machen wollen — mit und ohne Enkelkinder, im Hintergrund wenn möglich Schloß Tirol —, dann handelt es sich wieder um ein Interview. Beinahe schon, daß die Journalisten zum Fenster hereinklettern. „Und sie schreiben dann, was sie wollen, ob es stimmt oder nicht — vor allem, wenn man nicht freundlich ist zu ihnen“, klagt die Tochter, die ausgezeichnet Deutsch spricht. Schloß Brunnenburg müßte einen Portier haben — oder eine Zugbrücke. Principessa Mary sagt: „Mein Vater will endlich Ruhe. Er ist nicht hierhergekommen, um überflüssige Fragen zu beantworten und sich dann, wenn er der Fragerei müde ist, gar noch faschistische Aktivität vorwerfen zu lassen!“

Das, was Pound gedacht hat, hat er immer gesagt; und für das, was er gesagt hat, ist er immer eingestanden, gleichgültig, ob es ihm Nachteile gebracht hat. Hätte er das alles gesagt, was eifrige Journalisten ihm jetzt in den Mund legen, er würde dafür einstehen; aber er hat es eben nicht gesagt; oder zumindest: nicht so gesagt, wie es geschrieben wurde und oft Aergernis erregt hat.

Wie ist diese unkorrekte Pound-JBericht-erstattung zu erklären? Einmal gibt es auch heute noch, gerade in Italien, manche, die ihm übelwollen, die ihm seine Reden über Radio Rom während des zweiten Weltkrieges nicht verzeihen können; dann ist es nun einmal Pounds Schicksal gewesen, zeit seines Lebens Fanatiker anzuziehen, die bei ihm Bestätigung finden wollen; die Aeußerungen dieser Leute erregen natür-

EZRA L00M1S POUND - das ist de, Name eines amerikanischen Dichters, der am 30. Oktober 1885 in Hailey, Idaho, in den USA geboren wurde. Und das ist der Name eines Zeitalters der Dichtung, das mit der dichterischen Revolution des Jahres 1912 begann, die Pound vorantrug. Er wollte das Zeitalter der Dichtung, das immer währt, in vielen Epochen aber verborgen ist, wieder gegenwärtig machen. Er wollte unter lauter großen Dichtern leben. Da er nicht in den Zeiten Catulls und Properz', in denen Dantes und Cavalcantis leben konnte, wollte er in seiner Zeit die Voraussetzungen schaffen helfen, die eine neue Blüte der Literatur ermöglichten. Damit unsere Zeit nicht zurückbleibe hinter den alten.

Um dieses Ziel zu erreichen, tat er alles, was einem einzelnen Menschen möglich ist, und mehr: tat er Gigantenarbeit. Er begann damit, das „Abstrakte“ zu verdammen, das nach der Jahrhundertwende noch als Dichtung galt. Er schuf wunderbare Gedichte, die in den mehr als hundert „Cantos“ gipfeln, einem „work in pro-gress“, das heute noch nicht abgeschlossen ist. Er machte Ueb er Setzungen unbekannter Meisterwerke aus vielen Sprachen, aus dem Chinesischen, Italienischen, Provencalischen. Er schrieb sehr viel didaktische Werke, Essays und Pamphlete. Insgesamt publizierte er mehr als 75 Bücher. Als Lehrer war er Dichter, als Dichter war er Lehrer. Immer wieder gab er Anregungen und Hinweise und korrigierte die Werke seiner Freunde. lieh erst recht seine Gegner. Wieder anderen, vielleicht den meisten, geht es nur um die Sensation, sie sind eilig und schlecht informiert, kennen nicht seine Werke — und dann erscheint, mit irgendeinem zusammengestoppelten Kommentar, sein Bild in den Zeitungen — „zwischen Gina Lollobrigida und Marilyn“, wie er selbst amüsiert bemerkt.

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