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Der Altmeister

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„Und, Herr Rabilsky“, so fragte ich hierauf, „wie denken Sie sich den Verlauf des Wettkampfes?“

Da der Altmeister geraume Zeit über die Antwort nachdachte, hatte ich Gelegenheit, das Zimmer genau zu betrachten. In Berücksichtigung der Persönlichkeit, die hier wohnte, konnte man es einfach nennen. Eine Hirtenbinsenmatte bedeckte den Fußboden. Links, bei dem kräftig entwickelten Klavier, standen zwei Lehnstühle in einer dröhnend nach vorne geschobenen Stellung. Einer davon war mit einer Seidenschnur abgeschlossen: die Sage ging, der große Lasker habe darin eine Tasse Tee -getrunken. In dem anderen saß Frau Rabilsky, eine Katze auf dem Schöße. Nicht rasserein, das sah ich, aber doch: eine auffallende Variante. Unter einer Glasglocke stand der Bauer, der damals, im Bagdadturnier, den Aufmarsch der Weißtruppen zum Stehen gebracht hatte. Rabilsky ■ selbst saß mir gegenüber in einem Lederlehnsessel und hatte die Beine mit genialer Achtlosigkeit vor sich auf den Tisch gelegt.

„Ich denke alle Partien zu gewinnen“, antwortete er schließlich.

Ich konnte meine Ueberraschung nicht verhehlen. Auch Frau Rabilsky blickte auf. „Alle, Meister?“ fragte sie ehrfurchtsvoll.

„Alle, mein Kind“, erklärte Rabilsky, „ich bin nach London gekommen, um zu siegen, nicht um zu verlieren.“

Gegen diese Ansicht war wenig einzuwenden.

„Denken Sie auch Dr. Euwe zu schlagen?“

„Nein. Ich werde ihn zerschmettern.“

Rabilsky hatte diese Worte ruhig und deutlich ausgesprochen. Nur ein Flimmern im rechten Auge des Meisters verriet den Ernst der Lage. Ich bemerkte, daß die Katze mit eingekniffenem Schwanz das Zimmer verließ.

„Ich will Ihnen mal was sagen“, fuhr Rabilsky fort, sich vorbeugend, „ich habe eine neue Variante. Willst du einen Augenblick aus dem Zimmer gehen, Anna?“

Frau Rabilsky raffte ihre Stricknadeln zusammen und entfernte sich. Der Altmeister sah vorsichtig umher, beugte sich dann andermal zu mir vor und flüsterte: „Pf6—e4.“

Ich erblich. Dies war mehr als genial. Dies war übermenschlich.

„Sie begreifen die Folgen“, legte Rabilsky dar, indem er in seinen Stuhl zurückfiel, „der rechte Flügel wird aufgerollt, die Springer verlieren die Sammlung, die beiden Läufer werden zurückgeworfen, während die Koni-gin--“

„Enorm“, flüsterte ich.

„Unterbrich mich nicht“, sagte Rabilsky, während eine kleine Zornwolke über sein Gesicht zog, „die Königin wird zwischen e4 und g5 geknackt. Hierauf wird unter den Bauern eine Panik ausbrechen, die durch Lf4—h6 noch zunehmen wird. Selbstverständlich werden die Türme herbeieilen, doch an h5 machtlos zerschellen.“

„Aber würden Euwes Pferde diese Charge nicht vorhersehen?“ fragte ich, keuchend analysierend.

Der Altmeister lachte herzlich. „Werter Freund“, sprach er, „denk mal an Ta4—b4!“

Ich errötete. „Gibt es noch mehr, Meister?“ fragte ich schüchtern.

„Es gibt noch mehr“, antwortete Rabilsky, indem er die Beine in eine günstigere Stellung legte; „ich betrachte Sie aber als zu dösig dafür.“

„Fand dieser Zug nie eher Anwendung?“

„Nein“, antwortete Rabilsky mit fester Stimme, „zwar läßt der 32. Zug in der Partie Andersen—Steinitz am 12. Oktober 1880 ein Vermuten in dieser Richtung aufkommen, doch auch nicht mehr als dies. Auch die Partie Goethe—Eckermann macht einen Augenblick daran denken, doch sie weicht schließlich nicht von den üblichen Schablonen ab. Schade, sie übersahen Pb7—c5.“

Plötzlich verfinsterte sich das Gesicht des Altmeisters. Seinem Blick folgend, sah ich links von seinem Stuhl ein Schachbrett mit vollständiger Aufstellung. Ich mußte erkennen, die Stellung war verwickelt. Sie zeigte Spuren eines einmal dagewesenen, offenen und aufrichtigen Königsgambits, in dem soliden französischen Stil von 1895, das slawische Elemente aber nach und nach jämmerlich getrübt hatten. Rabilsky winkte mit der Hand und streckte sich in einer bequemen Remishaltung aus. „Ich bin zu Ihrer Verfügung“, sagte er einfach.

„Meister, wie kamen Sie zur Pflege des Schachspiels?“

„Durch den Parkettboden meines Vaters. Auf dessen Rauten baute ich meine ersten Theorien.“

„Wie alt waren Sie damals?“

„Ich war den Windeln kaum entwachsen“, sprach Rabilsky nachdenkend, „drei, vier Jahre, denke ich. Als ich fünf Jahre alt war, spielte ich meine erste Partie mit einem Nachbarjungen, Friedrich van Swieten.“

„Sie gewannen selbstverständlich?“

„Nein“, antwortete der Meister, und in seiner Stimme zitterte der Aerger noch nach, „ich verlor. Zufälligerweise berührte ich Turm b2. Es war ein Irrtum.“

„Und dann, Meister?“

„Dann?“ Der Gastgeber konzentrierte sich kurz. „Dann schlug ich meinen Onkel, Ferdinand Rabilsky, Frachtschiffkapitän aus Riga. Es war ein abgelehntes Damengambit, ich sehe es noch vor mir. Er konnte es nicht glauben. Am nächsten Tag vernichtete ich ihn in einer slawischen Partie. Er irrte darauf auf dem Südmeer umher. Man hat nie mehr etwas von ihm erfahren. Darauf folgte eine Periode der Einkehr. Ich studierte die Methode der mongolischen Meister und /nachte sogar eine Studienreise nach Tibet. Auch Persien besuchte ich, wo ich einige persische Varianten an Ort und Stelle besichtigte. Aber es langweilt mich, mit Ihnen zu reden. Sie können gehen.“

Aus dem Niederländischen übersetzt von A. F. C. Broieut. ,

Herr „Seufsecern“

Von Raimund Schiffner Es gibt eine moderne Form des „eingebildeten Kranken“: es ist Herr „Seufzegern“. Seinen Namen erhält er davon, daß er nur allzugern seufzt. Ueber seine Krankheiten natürlich und selbstverständlich vor seinen lieben Mitmenschen. Herr „Seufzegern“ fühlt sich nämlich ununterbrochen von Krankheiten gepackt und seine Existenz aufs äußerste gefährdet. Wenn etwas der Föhn bläst und ihn deshalb der Kopf drückt, glaubt er bereits, daß er eine Mittelohrentzündung habe, die ihm ins Gehirn gestiegen sei. Wenn Herrn „Seufzegerns“ Gesicht vom vielen guten Essen bereits überdimensional dick geworden ist, schwört er, daß seine Kiefern total vereitert seien und seine Wangen deshalb so aufgeschwemmt. Wenn ihm der Magen etwas zwickt, weil er das Wasser immer zu kalt trinkt, ist er überzeugt, daß ein elendes Geschwür sein Inneres durchsetzt. Hustet er, weil er ständig raucht, so fürchtet er, dies seien die ersten Anzeichen von Lungenpest.

Herr „Seufzegern“ geht natürlich nur allzugern zum Arzt. Ein berühmter Wissenschafter erklärte, vier Fünftel seiner Patienten seien nur „Seufzegerns“. Jeder von ihnen seufzt, wenn er zu ihm in die Ordination kommt, und seufzt noch mehr, wenn er hört, daß er eigentlich keragesund ist. Vor allem glaubt er es überhaupt nicht. Denn Herr „Seufzegern“ versteht viel von Medizin. Er weiß genau, wieviel weiße Blutkörperchen er haben sollte und wieviel er nicht hat und daß er infolgedessen Leberinjektionen bekommen müßte. Er weiß auch, daß seine bleiche Gesichtsfarbe auf einen Mangel an Vitamin C zurückzuführen ist und der Arzt deshalb verpflichtet wäre, ihm einen Sulfonamid-Stoß zu versetzen. Auch ist er sich vollkommen im klaren, daß er ein vegetativ-sensibles Nervensystem hat und deshalb ständig von einer Nervenkrise bedroht ist. Ebenso ist er überzeugt, daß das Jucken in seiner rechten Hand nur eine Folge seines Barfußgehens in der Sommerfrische war, ohne daß er damals bedacht hat, daß der Erdboden ja tetanusverseucht ist.

Herr „Seufzegern“ ist unendlich dankbar jedem, der ihm geduldig zuhört. Seine Dankbarkeit steigert sich ins Ungemessene, wenn der Zuhörende ein bekümmertes Gesicht macht, das Wort „bedenklich' murmelt und Herrn „Seufzegern“ rät, sofort einen Spezialisten aufzusuchen oder sich zumindest rönt-genisieren zu lassen. Ueberglücklich ist er, wenn man ihm irgendein lateinisches Wort sagt, das nach Krankheit riecht, wie „Defrai-titis“ oder „Cunculatis“; er lebt drei Tage von der Illusion, dieser Krankheit — von der er zwar noch nie gehört hat — zum Opfer gefallen zu sein. Und er wird dem Arzt hartnäckig nicht glauben, der ihm versichert, daß er nur einem Spaßvogel aufgesessen sei, denn diese Krankheiten gäbe es überhaupt nicht. Er wisse das viel besser.

Aber warum seufzt Herr „Seufzegern“ nur allzu gern? Ein altes Sprichwort sagt, daß

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