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Der Amerikanismus in uns

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• AMERIKANISMUS... die in den USA entstandene Überzeugung, daß der Amerikaner dank seiner demokratischen Lebensordnung befähigt sei, ein vollkommenes Menschentum zu entwickeln und es somit notwendig sei, amerikanische Tendenzen im Gegensatz zu den als rückständig empfundenen europäischen zu pflegen. (Das Bertelsmann-Lexikon, 1966.)

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• AMERIKANISMUS... die in den USA entstandene Überzeugung, daß der Amerikaner dank seiner demokratischen Lebensordnung befähigt sei, ein vollkommenes Menschentum zu entwickeln und es somit notwendig sei, amerikanische Tendenzen im Gegensatz zu den als rückständig empfundenen europäischen zu pflegen. (Das Bertelsmann-Lexikon, 1966.)

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• AMERIKANISIEREN... 1. etwas nach amerikanischem Vorbild einrichten; er amerikanisierte seinen ganzen Lebensstil, hat ihn amerikanisiert. 2. ... sich der amerikanischen Lebensweise anpassen; die Einwanderer wurden, du hast dich amerikanisiert. (Ullstein, Lexikon der Deutschen Sprache, 1969.)

Im Monat November 1969 waren innerhalb weniger Tage an den drei prominentesten Sprechbühnen Wiens drei Übersetzungen aus dem Englischen zu sehen:'

• Im Theater in der Josefstad't die Tragödie einer eingealterten Lebensgemeinschaft zweier Homosexueller; ein Ereignis zwischen ansonsten „stinknormalen Leuten“.

• Im Akademietheater das Stüde eines jungen Amerikaners, der überzeugt ist, seine „respektablen Landsleute (seien) zu den absurdesten Untaten bereit“, wenn es gilt, ihre Respektabilität zu wahren.

• Das Burgtheater übernahm es, im Bewußtsein der Menschen einiges von den „Resten des Überbaues versinkender Gesellschaftsverhältnisse wegzusprengen“. Moral, Philosophie, politische Ideen. Es geschieht mit geballter Ladung: König Friedrich II. von Preußen, der Alte Fritz, wird als sexueller Versager, als ruinierter Auswurf demaskiert und nach Gebühr in die Hinterhöfe der Weltgeschichte befördert. Der Autor, ein junger Amerikaner, wollte es, daß dieses sein erstes Stück zuerst an einer der „großen europäischen Bühnen“ gespielt wird und dann erst am Broadway in New York. Das Wiener Burgtheater erfüllte diesen Wunsch.

In der nicht abreißenden Folge der Erotisierung und Sexualisierung der zeitgenössischen Literatur gibt es zu den Festtagen noch Höhepunkte:

• Zu Weihnachten 1969 ist der Roman des US-Schriftstellers John Updike mit dem Titel „Ehepaare“ der Belletristik-Bestseller Nr. 1 auf dem deutschen Büchermarkt. Dieses Buch vom „multilateralen sanktionierten und ritualisierten Ehebruch unter zehn amerikanischen Mittelstandsehepaaren“ bringt laut US- „Newsweek“ und BRD-„Spiegel“ die ganze „Sexualskala von Haarestreicheln bis zum Zehenlutschen“ und das nicht ohne „religiös-moralische Obertöne“. In den USA wurde von dem Buch eine Erstauflage von zwei Millionen Exemplaren verkauft.

Die Familie wird demontiert

Vor 20 Jahren brachte der amerikanische Biologe Alfred Kinsey mit Unterstützung der Rockefeller-Stif- tung den ersten Band seiner aufsehenerregenden Untersuchungen über das sexuelle Verhalten von Mann und Frau heraus. Gestützt auf diesen legendären Kinsey-Report entwarfen nachher Wissenschaftler, Künstler, Politiker, Geistliche usw. ein für Herrn Jedermann faßbares neues Bild vom Menschep und dazu neue Modelle für das menschliche Zusammenleben. Kinsey ging es unter anderem darum, die Haltlosigkeit bisheriger Anforderungen gesellschaftlicher Moral zu beweisen. Die „biologischen Tatsachen“, mit denen Kinsey die herrschende Gesellschaftsmoral Umstürzen will, erweisen sich bei näherer Prüfung zum Teil als wissenschaftlich nicht fundiert; Mentalität wird als Wissenschaftlichkeit, Tendenz als objektive Wahrheit ausgegeben. Trotzdem hat gerade dieses Infiltrat des Amerikanismus wie kein anderes die europäische Kulturtradition herausgefordert. In skandinavischen Staaten, die zuweilen „amerikanischer als Amerika“ sein möchten, wird die Legalisierung der vollständigen Wahlfreiheit in den sexuellen Be ziehungen der Erwachsenen zur Diskussion gestellt; in Österreich wendet sich einer der prominentesten Funktionäre des Justizwesens gegen die als ungerecht empfundene Bevor- rechtung ehelicher gegenüber allen anderen sexuellen Beziehungen.

Die Alten belästigen die Jungen

Seit Anfang der sechziger Jahre verschärft sich beständig der Konflikt Autorität—Quantität, der im geschichtlich gewordenen Begriff der Demokratie systembedingt ist. Wieder ist es der Kinsey-Report, der das Problem der „von den Eltern ungebührlich belasteten Kinder“ popularisiert und aus dieser Sicht einen Beitrag zu den Tendenzen einer „radikalen, egalitären Form der Demokratie“ in einer „vaterlosen, anti-autoritären Form der Gesellschaft“ geleistet hat.

Während das von amerikanischen Technokraten entworfene Industriesystem zusammen mit den Fortschritten der Wissenschaften und der Technik eine scheinbar unwiderlegbare Bewährung erfährt, erreicht die

Emanzipation der jungen Menschen von Familie, Gesellschaft und Staat einen Höhepunkt. Vor allem sind es mobile Gruppen Intellektueller und Künstler, die die Spielregeln des Industriesystems ablehnen.

Mit einer oft geradezu romantischen Zukunftsgläubigkeit nehmen viele junge Intellektuelle unseres Landes in einem Zug das Manifest der amerikanischen Beat-Generation und die Vorstellung von der Technostruktur der von den Beatniks zur Zerstörung bestimmten „schlechtesten aller Welten“ in sich auf. So erlebt die Kolonie, mehr oder weniger, das gefährliche Schicksal des Mutterlandes jenseits des Ozeans.

Die Sanften werden gewalttätig

Durch den Rationalismus des herrschenden Industriesystems weht ein

Sturm und Drang mit explosiver Vitalität Zum erstenmal seit dem Auftreten Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast geschieht es neuerdings in Europa, daß irgendein Animateur von seiner Bühne aus ein Auditorium in ein Pandämonium stürzen kann. Die Alten trösten sich vielfach mit der Formel: Besser Pop- Musik als Politik und Gewalt. Aber die Formel stimmt nicht. Was es mit Pop-Musik auf sich hat, drückt Jac Holzmann so aus:

• Ich will hier einmal klarstellen, daß wir (die Produzenten von Pop- Musik) nicht die nützlichen Idioten irgendeiner Revolution sind. Wir meinen, daß die Revolution durch Poesie gewonnen wird, nicht durch Politik; daß die Poeten die Struktur der Welt verändern werden.

Hippies und Gammler, Provos und Kommunarden von 1970 erweisen sich en masse genauso manipulierbar wie junge Menschen, die um 1930 den damaligen politischen Animateuren ausgeliefert gewesen sind. Ihr Nihilismus ist auch nicht anders als jener, den Iwan S. Turgeniew in dem berühmten Bekenntnis eines Nihilisten um 1870 in dem Roman „Väter und Söhne“ beschreibt:

• Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich keiner Autorität beugt, der ohne vorherige Prüfung kein Prinzip annimmt und wenn es auch noch so sehr in Ansehen steht. Für unser Handeln (also für das der Nihilisten) bestimmend ist nur die Rücksicht auf das Nützliche, auf das, was wir als nützlich erkennen. Heutzutage scheint es nützlich, zu verneinen; und deshalb verneinen wir. ... Es gibt in unserer Gesellschaft keine Institu tion, die nicht zerstört werden müßte.

Es sieht so aus, als hätten Cohn- Bendit und Herbert Marcuse um 1970 bei Turgeniew abgeschrieben. So wie um 1870 die russische Intelli- genzia zwischen dem zaristischen „Establishment“ und einer in Passivität erstarrten Masse zerbrach, zerbricht jetzt, 100 Jahre nachher, der Aufruhr der Intellektuellen zwi schen Industriesystem und Wohlstandsgesellschaft. Das kalkulierte Risiko ist 1970 das gleiche wie um 1870: Wann wird der Aufruhr der Gebildeten in eine Bewegung der Masse einrasten? In Rußland geschah es, als sich der Marxismus und Lenin der Situation bemächtigten.

• Auch die Sanften von heute wollen die Macht; und sei es um den Preis der Gewaltanwendung. Nur in den Dialogen der Intellektuellen ist eine Revolution ein unblutiger Sieg des Verstandes über „alte Mythen“; in der Geschichte hinterläßt jede Revolution eine breite Blutspur.

Das Establishment importiert weiter

Seit Anfang der fünfziger Jahre preisen in den USA die politischen Parteien ihre Programme und Kandidaten mit der Methode an, die von der Wirtschaft beim Warenabsatz praktiziert wird.

Der Mann, der 1956 in San Franzisko die „Produktion“ des Parteitages überwachte, war George Murphy, Public-Relation-Direktor von Metro- Goldwyn-Mayer. Von Beruf Schauspieler, wurde Murphy regelrecht „Producer“ des Ganzen. Die Delegierten zum Parteitag waren die Akteure eines Schauspiels, dessen Szenen gestellt waren. Murphy stand, eine schwarze Brille tragend, hinter der Rednertribüne und gab von dort aus seine Regiezeichen für Tusch, Stretch-out und Abblenden. Nur das von ihm produzierte kam ins Fernsehen. Als ein Delegierter aus Nebraska gegen die manipulierte Wahl des Präsidentschaftskandidaten per acclamationem protestierte und einen „Mr. Joe Smith“ als geg nerischen Zählkandidaten vorschlug, ließ Herr Murphy den Mann aus Nebraska von den Regieassistenten hinausschmeißen.

Anläßlich dieses Parteitages haben auch die Geistlichen der ansonsten nicht mit ideologischen dog tags (Hundemarken) behängten Partei in ihren Invocations die Hauptslogans des Parteitages übernommen. Eine Neuerung bestand darin, Außen stehende, die keine Delegierten und zum Teil keine Parteigänger waren, in großer Zahl auf die Tribünen des Tagungsraumes zu setzen. Im Drehbuch waren diese Besucher als „unabhängige, klardenkende Bürger“ ausgewiesen; in Wirklichkeit war es die Claque, die auf Zeichen des Producers für die jeweils gewünschte Geräuschkulisse sorgte: Beifall oder „Buh-Rufe“.

Man könnte sagen: Eine Kroll-Oper made in USA. Eine Kroll-Oper, die sich von der 1933 in Berlin aufgemachten in der Methode unterscheidet: mit der Unerwünschte entfernt werden; nicht mit der Methode Adolf Hitlers, sondern mit der Mr. Murphys. 1958 (als diese Methoden hierzulande noch nicht eingeführt waren) wies in den USA Kenneth Boulding bereits darauf hin,

• eine Welt der unsichtbaren Diktatur sei denkbar, die sich noch der demokratischen Regierungsform bedient.

Mit dem Machtantritt der Telekratie hat Boulding Recht bekommen.

Eine Hochwassermarke des Amerikanismus

Ende November 1969 wurde an der Freien Universität (FU) Berlin, wichtiger Einfuhrhafen geistiger Produkte des Amerikanismus in Europa, zum erstenmal in der Geschichte des deutschen Hochschulwesens anstatt eines Rektors ein Präsident nach amerikanischem Vorbild bestellt.

Der neugewählte Präsident ist 30 Jahre alt, Diplom-Physiker und besitzt nicht Doktorat und Dozentur. Seine Amtsdauer ist auf sieben Jahre bemessen.

Gefragt wie er aus der „alten, weithin ineffektiv gewordenen Ordi- narien-Universität durch moderne Verwaltungsmethoden und durch Strukturreformen eine demokratisierte Leistungshochschule machen will“, erwiderte der Präsident,

• es gäbe wissenschaftliche Untersuchungen einerseits und auch praktische Erfahrungen in Amerika anderseits, die erkennen lassen, daß man beide Komponenten (Effizienz plus Demokratisierung) koppeln könne; man könne so von einem Optimierungsprozeß, der allerdings ein sehr langwieriger Prozeß sein wird, sprechen.

Der Import des im Mutterland in schweren Krisen befangenen Hoch- schulmodells der USA nach Deutschland hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Rezeption der von zahlreichen Reformen umwitterten Demokratie in die Kirche.

• Die Universität des deutschen

Humanismus, das Berliner Modell 1810, ist an dem jetzigen Punkt der Entwicklung ersatzlos zu Ende. An demselben Punkt schlägt der Amerikanismus an die Hochwassermarke. Postskriptum: Amerikanismus ist nicht dasselbe wie Amerika und die Amerikaner; so wenig Protestantismus und Katholizismus mit Kirche Christi und Kirchenvolk gleichgesetzt werden dürfen. Aber der Amerikanismus ist in der jetzigen kolonialen Epoche Europas präsent, ausgestattet nit wirksamer ideeler und materieller Macht, populär in seiner 3innfälligkeit. Die Konfrontation Europas mit dem Amerikanismus ist lie Herausforderung des Selbst- Dehauptungswillens der Europäer.

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