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Der Antiquar stirbt nicht aus

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HOLZGESCHNITZTE DECKEL, Lederrücken, Messingschließen, ein lateinischer Text, verschnörkelt, vom Holzstock gedruckt, langsam zerfallendes Papier ... Wer an einem solchen alten Folianten den Inhalt höher einschätzt als die äußere Gestalt, der gehe hin und kaufe' sich ein billiges, neues Taschenbuch, das liest sich leichter, steckt sich bequemer ein und leistet im übrigen oft die gleichen Dienste. Doch wer ein echter Bibliophile ist, der hat für die Weisheit nur einen achtlosen Blick, wenn sie im Kleid von der Stange wandelt. Nur was rar ist, ist wert, gesammelt zu werden. Was soeben in zehntausend Exemplaren auf den Markt geworfen wurde, ist höchstens ein Gebrauchsgegenstand.

Ware ist das vergilbte, vom Holzwurm bewohnte Buch-Individuum freilich ebenso wie die druckfeuchte Neuerscheinung. Neue Bücher führt der Sortimenter, alte Bücher sind Sache des Antiquars. Nicht alle seine Kim-den sind allerdings von der Leidenschaft für das Alte erfüllt, die meisten kommen vielmehr aus Gründen reiner Zweckmäßigkeit. Vor allem, wenn sie Bücher erstehen, die nicht Jahrhunderte, sondern nur Jahre oder Jahrzehnte alt sind. Manches vor dem Krieg erschienene Werk über irgendein Wissensgebiet ist besser als so manches neue. Mancher Freund der belletristischen Literatur möchte einen Roman oder eine Gedichtsammlung, die, vor zehn oder zwanzig Jahren kein Erfolg, seither nicht mehr gedruckt wurde. Und mancher nicht besonders reiche Student muß sich mit einer früheren Ausgabe eines Lehrbuehes begnügen, das neu zu teuer zu stehen käme. Allerdings, versicherte uns ein bekannter Wiener Antiquar, werden solche Studenten immer seltener.

ES GIBT PICKFEINE, KLEINE ANTIQUARIATE. Die Auswahl mag nicht gigantisch sein, dafür ist fast jedes einzelne Buch eine Seltenheit und Kostbarkeit. Und es gibt riesige Antiquariate, die zwar wenige jahrhundertealte Folianten und Klassiker-Erstausgaben vorzuweisen haben, dafür aber eine besonders große Auswahl minder wertvoller Bücher. Eines der größten Antiquariate von Wien verfügt über ein Lager von etwa zweihunderttausend Bänden, alle sorgfältig in Packpapier eingeschnürt, mit Nummern versehen und in einem riesigen Keller in hunderte Meter langen, labyrinthisch verwinkelten Regalen aufgestapelt. In der Buchhandlung steht ein großer Zettelkasten, darin hat jedes Buch sein Blatt. So kann jede Frage nach jedem Buch in Sekundenschnelle beantwortet werden. Ist es vorhanden, dann macht sich ein Bote auf den Weg vom Geschäft in das wenige Häuser entfernte Magazin. Doch das meiste, was da lagert, stammt aus der Zeit zwischen dem Anfang unseres Jahrhunderts und dem ersten Weltkrieg. Ein großer Teil ist praktisch unan-bringlich geworden.

Die Antiquare von Wien haben große Sorgen — zeitbedingte Sorgen. ,.Neue“ alte Bücher sind immer schwerer aufzutreiben. Die Bibliotheken verstorbener Gelehrter gehen immer häufiger geschlossen in den Besitz wissenschaftlicher Institute über. Sonstige private Bibliotheken werden nach dem Tod ihres Besitzers immer seltener verkauft. Man hat „das“ nicht mehr nötig. So kam's, daß ein altes, renommiertes Wiener Antiquariat, das vor dem zweiten Weltkrieg noch durchschnittlich 60 Prozent seiner Einnahmen aus dem Handel mit alten Büchern bezog, heute zu 70 Prozent vom Sortimentsbuchhandel lebt.

EIN SPANNENDES STECKENPFERD ist die Jagd nach alten Büchern für den Bibliophilen - für den reinen Antiquar, der sich auf wertvolle alte Werke spezialisiert hat, bedeutet sie die Jagd nach dem täglichen Brot. Er ist gezwungen, immer neue Jagdgründe zu erschließen. Die Kundschaft ist zahlungswillig, und der Antiquar hat es durchaus nicht nötig, um einige Schilling zu feilschen, wenn er ein lohnendes Objekt an der Angel hat.

Eine ganze Reihe Wiener Antiquare ist längst zu Stammgästen in den Flugzeugen zwischen Wien und London geworden — London erwies sich eigenartigerweise als ein guter Einkaufsmarkt für deutsche Erstausgaben, und wenn, was gelegentlich der Fall ist, an der Themse gesuchte Viennen-sien auftauchen, so bekommt man sie dort wesentlich billiger als bei uns. Eine Mappe voll mit Wiener Ansichten aus dem 18. Jahrhundert fand vor einigen Monaten auf diese Weise den Weg zurück.

Wem London zu weit ist, der versucht sein Glück in Paris oder in Italien, wo ebenfalls i immer wieder, ein guter Fang auf dem Gebiet der deutschen Literatur glückt. Der Rat, nach Prag zu fahren und dort deutsche Literatur einzukaufen, ist allerdings überholt. Doch jahrelang war Prag streng geheimgehaltener Jagdgrund der Wiener Antiquare. Der Grund dafür war eher traurig: Die Regierung gab über eine eigens gegründete „Zentralstelle“ die Bestände ab, die aus enteigneten Buchhandlungen, aufgehobenen Klöstern, beschlagnahmten Privathäusern stammten...

HEKTISCH WIE UNSER GANZES WIRTSCHAFTSLEBEN wurde auch der Betrieb im- Antiquariatsbuchhandel. Heute so wie einst kauft der Antiquar etwa den Inhalt eines Bücherschranks aus einem Nachlaß — 300 Bände, aus mehreren Wissensgebieten, bunt zusammengewürfelt. Einst wurde eine so erworbene Kollektion karteimäßig erfaßt und auf Lager gelegt — und in aller Gemütlichkeit, in Jahren und Jahrzehnten, abverkauft. Zur karteimäßigen Erfassung fehlen heute die Arbeitskräfte, dafür kann der Buchhändler damit rechnen, daß der gesamte Posten, soweit er sich überhaupt zum Verkauf eignet, nach drei Monaten restlos aus dem Lager verschwunden ist. Was dann noch vorhanden ist. bleibt meistens überhaupt unanbringlich. Die Kundschaft wird immer anspruchsvoller — wobei viele Antiquare darüber klagen, daß das Erscheinungsdatum eines Werkes heute oft eine viel größere Rolle spielt als der Wert des Inhalts.

Längst wurde auch das Verlagswesen in den Sog des großen Wirtschaftstrubels gerissen. Dadurch gewann ein Zweig des Buchhandels, den man ungefähr zwischen Sortiment und Antiquariat einordnen kann, unerhört an Bedeutung: Der „Ramschbuchhandel“.

Ramsch — das klingt nach wertloser Literatur, bedeutet jedoch sehr oft das glatte Gegenteil. Man versteht unter Ramsch verlagsneue Bücher, die im Großen abgestoßen werden, weil sie liegengeblieben sind. Einst konnte man noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen eines Buches die Bestellkarte ausfüllen und an den Verleger schicken — heute lassen sich nur noch wenige Verlage darauf ein, alles, was bei ihnen erschienen ist, auf lange Sicht auf Lager zu halten. Es fehlt mitunter am nötigen Platz, bestimmt aber an der Geduld und in einigen Fällen wahrscheinlich auch an einer echten verlegerischen Einstellung. So werden viele Werke einige Jahre nach ihrem Erscheinen, egal ob ein Erfolg oder nicht, soweit noch in den Magazinsräumen des Verlags vorhanden, zum Ramscher geführt, der sie zu stark herabgesetzten Preisen an verschiedene Buchhändler weitergibt, die sie als Gelegenheitskäufe in die Auslagen legen.

VIELLEICHT IST ES NICHT ZULETZT DER WUNSCH, die Objekte seiner Sammlerleidenschaft aus dem profanen, allzu profan gewordenen Getriebe herauszuhalten, was für den echten Bibliophilen alten Schlags das Stöbern nach alten Büchern abseits von allen Buchhandlungen so reizvoll macht. Dachböden, seit Jahrzehnten nicht mehr ausgeräumte Kisten und

Koffer sind zum Beispiel eine Fundgrube für Sammler mit Instinkt. Auf dem Dachboden einer alten Tante fand ein Wiener Bücherfreund einen dicken Band, in Leder gebunden, mit einem prachtvollen Kupferstich auf dem Titelblatt und folgendem umständlichem Titel: „Matthaei Gothofredi Purmanni, Chirurgi und Stadt-Artztes zu Breßlau großer und gantz neu-gewundener Lorbeer-Krantz, oder Wund Artzney, In III. Theil und 127 Capitel abgetheilet, Darinne ein jedweder aufs beste und grundrichtigste sehen kann...“ und so weiter.

Der gleiche Sammler, ein Wiener, hatte eines Tages in Kärnten zu tun — in der Nähe von Villach war's — und fand auf dem Dachboden eines Bauernhauses ein altes Buch. Ein sehr altes Buch, ein köstliches, reich illustriertes Andachtsbuch. Arg beschädigt, aber immerhin...

Er ging in die Stube hinunter, wo die Familie gerade um den Tisch beim Nachtmahl saß, legte das Buch vor den Bauern hin und sagte: „Ich glaube, Sie brauchen dieses Buch nicht, ich sammle alte Bücher, ich würde es gern kaufen!“

Der Vater wollte die Entscheidung der Großmutter überlassen, einer uralten, wortkargen Frau, mit der der Fremde kaum einige Worte gewechselt hatte. Bedächtig sagte sie: „Das ist ein heiliges Buch. So ein Buch kann man nicht verkaufen, nein, das darf man nicht verkaufen. Aber schenken darf man es. Nehmen Sie's!“

Wer Bücher nur in Buchhandlungen kauft, wird schwerlich solche Erleb-. nisse haben.

Konsequente Bibliophile scheuen sich nicht, das, was sie suchen, auch der Makulatur zu entreißen — so wie manche kostbare Briefmarke in einem Haufen zum V -rbrennen weggeworfener Briefe entdeckt wurde, so kommt auch zwischen dem Altpapier, das zum Einstampfen abtransportiert wird, manchmal ein durchaus mitnehmens-wertes Buch zum Vorschein. Um Schätze handelt es sich dabei heute nicht mehr, doch es gab Jahre, da war es anders. In jenen Jahren, in denen mindestens die halbe Weltliteratur auf der Liste der verbotenen Werke stand und ganze Bibliotheken geflüchteter Österreicher in alle Winde zerstreut und zum Teil vernichtet wurden, konnten sachkundige Leute die eine oder andere Rarität davor retten, zu Zeitungspapier verarbeitet zu werden.

Ein paar Jahre später, nach dem Krieg, gab es eine große Umtauschaktion: Altpapier gegen Kohle. Unter den Haufen größtenteils völlig wertloser Bücher, die lastwagenweise in die Umtauschlokale gebracht wurden, befand sich eines Tages ein Posten schöner Bücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Sie stammten aus einem — Antiquariat, dessen Besitzer es vorzog, seine Bücher heute gegen Kohle umzutauschen und nicht zu frieren, als sie morgen zu verkaufen. Er ahnte nicht, welchen Aufschwung das Geschäft mit alten Büchern einige Jahre später erleben sollte. Trotzdem wollte er verhindern, daß seine Bücher einen neuen Besitzer und vielleicht gar den Weg zurück in eine Buchhandlung fänden — deshalb war jedes einzelne aus dem Einband gerissen und auf das schändlichste zerfetzt.

Es ist, wie man sieht, nicht jeder, der mit alten Büchern handelt, deshalb auch ein Bücherfreund.

AUCH IM DOROTHEUM glückt Leuten mit Spürnase immer wieder ein guter Fang. Und selten, sehr selten, angelt ein Bibliophiler auf seinen Streifzügen durch die Trödle-reien zwischen Haufen von Hadern, alten Zeitungen, leicht beschädigten Petroleumlampen und ausrangierten Öfen ein Buch zutage, das die Mühe lohnt. Im großen und ganzen sind die Wiener Weiden heute abgegrast.

Lind außerhalb Wiens? Im großen Maßstab!

Woher auf die Dauer neues „Material“? Bücher mit ornamental gepreßten Ledereinbänden, mit Messingschließen, vom Holzstock gedruckt, werden heute bekanntlich nicht mehr hergestellt. Muß der Antiquar Angst haben, daß ihm im Zeitalter des Taschenbuchs, der Massenauflage und der Titelinflation die Luft ausgeht? Muß er fürchten, daß die Zeit des wertvollen Einzelstücks vorbei ist, daß keine neuen bibliophilen Raritäten entstehen?

Nun, es kommt auch heute noch vor — und manchmal genügt dazu sehr kurze Zeit. Die alte Propyläen-Kunstgeschichte zum Beispiel, die zwischen 1925 und 1935 erschien und damals 30 bis 35 Mark pro Band gekostet hat, bringt heute mühelos bis zu 800 Schilling pro Band. Eine Weinheber-Erstausgabe ist kaum noch erschwinglich. Es muß nicht immer deutsche Klassik sein.

Aber auch verschiedene Kunstbücher, die zwischen Kriegsende und 1950 in französischer Sprache erschienen sind, erzielen auf Versteigerungen bereits den fünf- bis zehnfachen Neupreis.

Obwohl sie als Taschenbücher um einen Pappenstiel zu haben sind.

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