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Der Architekt der Fußgänger

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Innsbruck, Anfang Februar 1957

ES LOHNT SICH, in diesen Tagen nach Innsbruck zu fahren. Nicht nur wegen der herrlichen Schnee- und Schiausflüge, die die Umgebung Innsbrucks in dieser Jahreszeit zu bieten hat: sondern vor allem wegen einer Ausstellung, die seit einigen Wochen im Institut Franęais in der Karl-Kapferer-Straße 3 zu sehen ist. Prof. Dr. Maurice B e s s e t, der Leiter des Instituts, seit Jahren mit Le Corbusier eng befreundet, ist es gelungen, die erste Le-Corbusier- Ausstellung in Oesterreich zustande zu bringen. Spät, aber doch kann so die österreichische Oeffentlichkeit Bekanntschaft mit einem der größten (vielleicht dem größten) Architekten unseres Jahrhunderts machen. Spät: denn heuer, am 6. Oktober, feiert der 18 87 in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz geborene Charles Edouard Jeanneret (dies sein bürgerlicher Name) seinen 70. Geburtstag. Aber doch: die erste Bekanntschaft schon erregt die Menschen, und sie kommen in Scharen: aus Salzburg und Bayern, aus Vorarlberg und Südtirol, Menschen, die sich nie Kunstausstellungen ansehen,' Lehrer mit ihren Schulklassen und Schüler allein, von Landeck bis Kufstein. Mehr als 250 Besucher werden täglich gezählt. „Er beunruhigt die Menschen“, sagt Prof. Besset, „sie fühlen instinktiv, daß die Architektur so nicht weitergeht, sie wollen sich informieren, wie es weitergeht.“ In der Tat: das Werk Le Corbusiers ist ein Blick in die Zukunft.

VOR DEN GROSSEN SCHAUBILDERN wird lebhaft diskutiert. Alles scheint neu und ungewohnt. Da stehen die Häuser auf „pilotis“, auf Pfosten, und sparen so die Bodenfläche des Hauses aus. Erstmalig finden wir die „pilotis“ 1922, beim Citrohan-Haus; noch sind sie nicht so klar entwickelt wie schließlich bei der Wohneinheit in Marseille, erbaut 1945 bis 1951. „Ein Bau, der schwebt —meint eine Dame nachdenklich, „drückt sich da nicht die Fragwürdigkeit unserer Existenz überhaupt aus?“ Ihr Begleiter, offenbar mit diesem Sessellift zur Metaphysik nicht einverstanden, widerspricht. „Mir scheint diese Bauweise Leichtigkeit, Freiheit, Sieg über die Schwerkraft, den Sieg des Menschen über die Natur, die ihm dienstbar wird, zu manifestieren“, sagt er.

ANDERE BESUCHER KOMMEN. Lehrer, die dozieren, meist gut vorbereitet durch die Lektüre der Le-Corbusier-Bücher, die in der Bibliothek des Instituts aufliegen: einfache Menschen, die von allen Einzelheiten überrascht und überwältigt sind; verbildete und unverbildete. Vor den Wohnvierteln der „strahlenden Stadt“ bleibt eine Besuchergruppe stehen. „Wenn ich an meine Wiener Gemeindewohnung denke“, sagt einer, „schaudere ich, wie rückständig wir sind “ Besonders fasziniert der geniale Entwurf für eine Dreimillionenstadt (1922), der zur Grundlage für viele Projekte Le Corbusiers, ausgeführte und unausgeführte, wurde. „Wer kann sich das wohl leisten? Welcher Staat hat Geld dafür?“ fragt einer. „Wenn wir uns Kriege leisten können, könnten wir uns wohl aych eine Stadt von Le Corbusier leisten“ gibt ein anderer zur Antwort. „Mehr kostet’s bestimmt nicht, und gesünder ist s außerdem."

DIE FACHLEUTE sind am meisten vom „Mo- dulor" beeindruckt. Während ihr Stildenken, beeinflußt durch zu lange Berufsausübung, bei vielen Projekten Le Corbusiers nicht mehr ganz mit kann, akzeptieren sie den „Modulor“ sofort. Der „Modulor“ ist die „Skala einer neuen Harmonik auf der Grundlage menschlicher Maße, allgemein anwendbar in Architektur und Mechanik." In der Architektur ist der Mensch wieder das Maß aller Dinge geworden: denn die Bauwerke sind für ihn bestimmt. Es ist für das konkrete Denken Le Corbusiers bezeichnend, daß er diese Erkenntnis der modernen Architektur ganz wörtlich nahm und ein „Maß des Menschen“ schuf, das überall und von jedermann anwendbar ist. Albert Einstein aber sagte über den „Modulor“: „Er ist ein Maßsystem, das das Schlechte schwierig und das Gute leicht macht.“

FOLGEN WIR DEN WESENTLICHSTEN STATIONEN im Werke Le Corbusiers. Da ist das Citrohan-Haus, gebaut als Serienbaus für Citroen, mit systematischer Standardisierung der Konstruktionselemente, Skelett, Fenster, Stiegen usw. Walter Hess umreißt kurz das Wollen Le Corbusiers: „Er fordert Eisenbetonbau, frei im Raum und im Licht, mit gehobenem Untergeschoß auf Pfosten stehend, ohne tragende Wände, mit Fensterbändern (achtfache Be lichtung), Dachgarten; das Wohnhaus, zusammengesetzt aus Wohnzellen mit innerer Stockwerkgliederung und variablem Grundriß (,Wohnmaschine‘, entwickelt aus der .Mechanik des häuslichen Lebens'), genormte industrielle Bauteile, einheitliche, vom Menschen abgeleitete Maßverhältnisse (.Modulor1).“. Eindrucksvoll die Villa in Gardies, erbaut 1927. Le Corbusier erklärt ihre Wirkung: „Die Fassade trägt weder Fußböden noch Dach, sie ist nur noch ein Schleier aus Glas oder Mauerwerk, der das Haus umschließt. Der luxuriöse Eindruck des Inneren wird nicht mehr durch reiche Materialien hervorgerufen, sondern bloß durch die Anlage der Räume und die Proportionen.“

WIE DER STIL WALTER GR0P1US' an das Gotische anklingt, so ist Le Corbusier im Romanischen verwurzelt; der Mittelmeerraum ist seine geistige Heimat. Nicht nur die romanische Architektur aber, auch die arabische Architektur hat ihn beeinflußt. In der Villa Savoye, Poissy, 1929 bis 1931, ermöglichte er einen „richtiggehenden architektonischen Spaziergang, der ein sich stets erneuerndes, unerwartetes. manchmal überraschendes Erlebnis von Raum und Formen vermittelt...“ Dazu schreibt er: „Die arabische Architektur gibt uns eine wertvolle Lehre. Sie wird im Gehen, vom Fuß her erlebt. Erst im Schreiten, in der Bewegung sieht man die Ordnungen der Architektur sich entwickeln. Dieses Prinzip steht im Gegensatz zu dem der Barockarchitektur, die, auf dem Papier, von einem theoretisch fixierten Standpunkt aus entworfen wird. Ich ziehe die Lehre der Araber vor ..."

LE CORBUSIER IST DER ARCHITEKT DER FUSSGÄNGER. Dies nicht bloß deshalb, weil man sich seine Bauten zu Fuß erobern muß, sondern weil Architektur für ihn in erster Linie ein soziales Problem ist. Der Bau von Villen und Einfamilienhäusern spielt in seinem Werk — im Gegensatz zu dem von Wright und Neutra etwa — nur eine verhältnismäßig geringe Rolle. Ist Neutra der Architekt der Autobesitzer, so ist Le Corbusier der Architekt der Fußgänger. Als er 1945 das ‘Gemein- scbaftszentrum für die zerstörte Stadt Saint-Diė neu plante, sprach er von den „königlichen Rechten des Fußgängers“, die es in erster Linie zu wahren galt. Das Core, die Agora der Stadt, ist bei seinem Entwurf selbstverständlich für den Fährverkehr gesperrt : „Royautė du piėton.“ Dadurch schuf Le Corbusier einen Modellfall eines modernen Civic Center, eines

Stadtzentrums, das der Stadt einen geistigen Mittelpunkt gegeben hätte, wie ihn Venedig — dank seiner Kanäle — im Markusplatz besitzt. Hätte: denn leider wurde das Projekt von Saint-Die nicht durchgeführt; zumindest nicht in Saint-Die (heute wurmt das niemanden mehr als die kurzsichtigen Stadtväter von Saint-Die). In Ahmedabad und Chandigarh in Indien aber wird es, angepaßt an die dortigen Erfordernisse, verwirklicht.

ARCHITEKT DER FUSSGÄNGER: das wird nicht nur in seiner Planung einer neuen, menschenwürdigen Stadtstruktur sichtbar, sondern auch in seinem berühmtesten Werk, „dem Haus Le Corbusier", wie es die Marseiller nennen. Diese Wohneinheit enthält 337 Wohnungen von 23 verschiedenen Typen. Insgesamt wohnen 1700 Menschen in dem Gebäude. Es ist von Süden nach Norden orientiert. Es ist 165 Meter lang, 24 Meter tief, 56 Meter hoch. Die Standardwohnungen sind zweistöckig, die Fenster jeder von ihnen gehen nach zwei Seiten: nach Osten blickt man auf Kalksteinberge der Provence, nach Westen auf das Meer. Der Zugang zu den Wohnungen erfolgt durch fünf übereinanderliegende „innere Straßen". In halber Höhe des Gebäudes liegt die Geschäftsstraße. Hier befinden sich Lebensmittelgeschäfte, der Friseur, eine Waschanstalt, ein Postamt, Restaurant und Hotel. Die Dachterrasse ist den Kindern reserviert, die hier auch ein Planschbecken haben. Auf dem Dachgarten befinden sich auch ein Aussichtsturm und ein Sonnenbad. Alle diese Einrichtungen haben zu einer neuen Gemeinschaftsbildung beigetragen.

SIEHT MAN DIE KÜHNE FORM dieser Unite d'Habitation, so begreift man das Wort Le Corbusiers: „Die Architektur ist das präzise und -grandiose Spiel der Formen im Licht.“ Wenn Gropius der Konstrukteur und Neutra der Psychologe unter den Architekten unserer Tage ist, dann ist Le Corbusier der Plastiker unter ihnen. Kein Tag vergeht, an denen er sich nicht zwei Stunden lang als Plastiker betätigt. Da bereiten sich die Lösungen vor, die er später in großem Maßstab verwirklicht. Als solche Fingerübung, nicht als selbständige Werke, müssen seine Plastiken verstanden werden.

VON DER WOHNMASCH1NE ZUR „STRAHLENDEN STADT": das ist der Weg, den Le Corbusier gegangen ist. „Die Wohn- maschine“ war die erste ganz große Konzeption, die er verwirklichen konnte (und die er in der Folge mehrfach wiederholte und erweiterte). Sie faßt alle Errungenschaften seiner Architektur zusammen. Die „strahlende Stadt“ aber, die nun als Hauptstadt des Pandschab in Indien entsteht und für 500.000 Menschen gebaut wird, die „modernste Hauptstadt der Welt“, ist seine zweite Tat, durch die er in die Weltgeschichte der Architektur eingehen wird. Sie wird die Genialität seiner Stadtstruktur in der Praxis erweisen. „Um herauszubekommen, was ich beim Bau dieser Stadt tun dürfte, habe ich oft zwei Elemente der Schönheit dieser Gegend betrachtet", sagte Le Corbusier, „die Frauen und die Kühe " Zwischen „Wohnmäschine" und „strahlender Stadt“ aber liegt noch eine Reihe bedeutender Werke, von denen wir hier nur die Kapelle von Ronchamp (1950 bis 1955) nennen wollen, eine der schönsten Wallfahrtskirchen Europas.

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ÖSTERREICH ENTDECKT LE CORBUSIER: wird es nur die Bevölkerung bleiben, die Le Corbusier als einen der großen Architekten unseres Jahrhunderts entdeckt, oder werden auch die öffentlichen oder privaten Stellen oder Persönlichkeiten, die über die Vergebung von Bauaufträgen zu entscheiden haben, in ihm den genialen Architekten unserer Epoche erkennen? Nur wenige Architekten, von Roland Rainer bis zur Arbeitsgruppe 4, bemühen sich bei uns, eine Situation der Stagnation, in der das Mittelmaß Triumphe feiert, zu überwinden. Es wäre der schönste Erfolg dieser Ausstellung, die von Innsbruck aus nach Salzburg, Linz, Graz und Wien gehen soll — in manchen Städten bemühen sich sogar mehrere Stellen um sie —, wenn sie Oesterreich zu einem Bauwerk von Le Corbusier verhelfen würde. Oder zu mehreren.

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