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Der Arzt kann Lebenskraft nicht geben, sondern nur aktivieren

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Dem Leben trauen ” ist ein Buch über die Kunst des Lebens. Bezeichnenderweise wurde es nicht von einem Lebenskünstler geschrieben, der sein System verkündet, sondern von einer selber nur mit Not überlebenden Arztin, die ihre Erfahrung wie ein Vermächtnis weitergibt.

Rahel Remen, Jahrgang '38, Amerikanerin jüdischer Herkunft, war Kinderärztin im Gleis der sogenannten Schulmedizin, bis sie an deren Prellböcke stieß. Apparate und Chemie um jeden Preis, Distanz zum Patienten als oberstes Gebot, Expertengeheimnistuerei: „In gewisser Weise ist das Medizinstudium selbst eine Art Krankheit. Es dauerte Jahre, bis ich mich völlig davon erholt hatte.” Sie verließ ihre akademische Karriere und leitet heute nach eigenen Methoden ein Krebshilfezentrum. Eigene schwere Krankheit und Behinderung waren zudem entscheidend für ihr Leben.

Im Buch sind an die hundert -nüchtern gesprochen - Fallbeschreibungen versammelt: Linderungen, Heilungen, Sterbebegleitung, Geburten, und manchmal, man kann es ruhig so sagen, Wunder. Doch jeder Fall ist für sich ein solches, „wenn mitten in der tiefsten Schwäche einen die Lebenskraft überrascht”. Lebenskraft ist das Wundermittel. Der Arzt liefert sie nicht, beschwört sie nicht einmal aus dem Überwirklichen herbei, sondern aktiviert sie im Patienten „wie ein Gärtner, der seine Rosen kennt und beschneidet. Durch jeden Strauch strömt das Leben ein wenig anders.” Derart behutsam sind die Bilder, mit denen diese Frau kompetent fürs Leben arbeitet.

Heilen ist für sie kein isolierter Vorgang, sondern Wechselwirkung. Zunächst zwischen Heiler und Patient: Der Arzt muß sich zum Patienten hin entgrenzen, muß seinen „Mundschutz” abnehmen, darf mit ihm weinen, sogar beten, oft mit der erstaunlichen Bückwirkung, daß der Arzt selbst gestärkt aus der Begegnung hervorgeht, wenn er hört, was alles er mit dem Verletzten gemeinsam hat. Rückwirkungen, auch oft von Sterbenden, durch deren „Macht, die

Zurückbleibenden auf ungewöhnliche Weise zu heilen”, vielleicht nur durch ein letztes Wort, das wie ein M antra weiterwirkt. Heilen auch nicht verstanden als etwas Reserviertes für Experten, sondern als eine Gabe, die wir alle haben: „Vielleicht ist die Welt eine große Therapiegemeinde', und wir alle heilen uns gegenseitig.” Heilen schließlich als ständiges Zentrieren um die Ganzheit: „Vielleicht wird im Augenblick des Todes die Ganzheit wieder hergestellt. Und vielleicht streift sie uns manchmal auch im Leben.”

Das wichtigste für Rahel Remen ist das Zuhören als eine heilende Berührung wie Handauflegen, weit jenseits des Physikalischen. „Die meisten Geschichten tragen wir gleichsam ungelesen bei uns, bis wir bereit beziehungsweise fähig sind, sie zu lesen.” Sie führen, wenn wir uns im wechselseitigen Zuhören üben, zur „einen großen Geschichte, der unserer wahren Identität”. Alte Erkenntnis der Psychotherapie, hier aber nicht spezialisiert als Verfahren, sondern eingebettet in ein umfassendes Verständnis von Zusammenleben als festem Bestandteil einer Lebenskunst. Wie eine Frucht dieser Zuhörkunst sind im Buch die Geschichten kunstvoll dargestellt, im einzelnen wie auch durch übersichtliche Verbindungstexte. Es bleibt kein Unbehagen über Bloßstellungen, wie man es oft beim Lesen von therapeutischen Berichten hat. Keine Geschwätzigkeit, keine Polemik, keine Anpreisung, nur inständiges Werben für einen besseren Weg des Heilens, und eine bessere Möglichkeit des Lebens, die menschengerecht und zugleich gottgefällig ist.

Ich weiß nicht, ob dieses Buch dem Sachbuch oder dem Religiösen zuzuordnen ist. Jedenfalls trifft sich auf diesem hohen Niveau der Arzt wieder mit dem Priester, das Heilende mit dem Heiligen. Zu hoffen bleibt, daß diese Art von Arztsein und Patientsein Schule macht.

DEM LEBEN TRAUEN

Geschichten, die gut tun Von Rahel Naomi Remen Ubersetzung: Lothar Schneider Blessing Verlag, München 1997. 320Seiten, geb., öS283,-

Kraft zur Ganzheit

Eine der dramatischsten Manifestationen der Lebenskraft kann man im Pflanzenreich beobachten. Wenn die Zeiten hart sind und es wegen Nährstoffmangel nicht zur Blüte kommt, entwickeln bestimmte Pflanzen Sporen. Diese Pflanzen haushalten mit ihrer Lebenskraft, mauern sie gewissermaßen ein, um zu überleben. Das ist eine wirksame Strategie ... Auch Kinder bilden ,Sporen', wenn niemand ihnen zuhört ... (So) mauern Kinder die ungeliebten Teile ihrer Persönlichkeit ein ... Die Lebenskraft der Sporen ist in ständiger Bereitschaft, sich zu entfalten, tastet die Umgebung ab, hält Ausschau nach der ersten Gelegenheit, um sich bis zur Blüte zu entwickeln. Aber viele Menschen vergessen, daß das Ausbilden einer Spore nur als temporäre Strategie taugt. Nur wenige überprüfen Umgebung und Milieu, wie es die Pflanzensporen tun, um festzustellen, ob sich die Bedingungen zu ihren Gunsten gewandelt haben, so daß Ganzheit wieder möglich wird.

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