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Der Baum, der mitten in derVelt stellt

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Die Geschichte hat damit begonnen, daß ich auf einer alten Landkarte einen Platz fand mit der Aufschrift: Der Baum, der mitten in der Welt steht. Daneben war ein Baum gezeichnet. Dieser Baum ging mir, wie man sagt, nach. Nach etlichen Wochen war ich soweit, daß ich mir vornahm: Diesen Baum mußt du sehen. Ich suchte auf einer genauen Spezialkarte in der Gegend, wo vermutlich der Baum zu suchen war, fand die Bezeichnung aber nicht. Ich schlug in Büchern nach. Nichts zu finden. Das reizte mich noch mehr, und ich überlegte: Man müßte die Gegend systematisch absuchen und herumfragen, dann würde man die Stelle zweifellos finden. Nun habe ich einen Freund, der Besitzer eines Wagens ist. Dieser fiel mir ein und ich nahm mir vor, ihn zu bewegen, mit mir den mythischen Baum zu suchen. Er wäre natürlich nie dazu zu bewegen gewesen, aber der gute Mann hat eine schwache Seite, an der ich ihn packte. Er ist ein großer — hm — Sparer. Je älter er wird, um so mehr hängt er an dem Geld. Er fürchtet sich im Ernst, im Alter betteln gehen zu müssen. Zum Fahren ist er, bei diesen Benzinpreisen, viel zu geizig. Also versprach ich ihm, den Treibstoff zu zahlen.

„Du mußt auch einmal hinauskommen“, sagte ich. „Die Fahrt kostet dich nichts und mir ist geholfen.“

Ich sagte ihm zuerst nichts von meinem Baume, umriß aber die Gegend, die ich gerne besuchen wollte. Anfangs wollte er nicht recht, aber als ich ihm zuredete, ging er auf meinen Plan ein und wir fuhren tatsächlich eines Tages los. Als wir im engeren Umkreis des Baumes waren, begann ich meine Forschungen.

Das war ein großer Leidensweg. Stellen Sie sich vor, Sie fragen nach einer bekannten Ortschaft, sagen wir, nach Maria-Taferl. Da haben Sie bald eine exakte Auskunft, nach

der Sie sich richten können. Aber ich mußte fragen nach dem Baum, der mitten in der Welt steht, und das ist etwas anderes. Zuerst war ich noch selbstsicher und ging geradewegs aufs Ziel los. „Wissen Sie, wo der Baum ist, der mitten in der Welt steht?“ fragte ich einen alten Bauern zum Beispiel, der vor dem Haus saß und Pfeife rauchte. Vielleicht hörte er schlecht, vielleicht glaubte er, nicht recht zu hören. Er ließ mich die Frage wiederholen und sah mich dann mißtrauisch an. Wenn ich gleich nach dem Weg ins Paradies gefragt hätte, wäre es auf dasselbe hinausgekommen. Ich versuchte zu erklären, daß das wahrscheinlich ein alter Ausdruck sei, der heute nicht mehr gebräuchlich ist. Aber da nützen Erklärungen nichts. Er schüttelte den Kopf, nicht nur, weil er nein sagen wollte, sondern weil ihm das Ganze verdächtig erschien, und ich ging weiter. Weil ich damals etwas lauter sprach, kam mein Freund auf das Ganze drauf. Als ich über die Wiese zum Wagen ging, fragte er mich: „Was hast du den Alten gefragt?“ — „Nach dem Weg“, wich ich aus. Aber er bohrte weiter: „Was für ein Baum ist das, welchen du suchst?“ Mir wurde angst und bange und ich versuchte abzulenken. „Wir wollen jetzt Rast halten“, sagte ich, „und essen, hernach will ich es dir erzählen.“ Wie ließen uns auf der Wiese nieder, holten die Eßsachen heraus und aßen. Ich hoffte, er würde vergessen, aber es ließ ihm keine Ruhe. Ich mußte bekennen. „Daß ich eine Schwäche für große Bäume habe, weißt du doch. Das ist doch nichts Schlechtes, andere haben andere und gefährlichere Leidenschaften. Der Baum bedeutete den Menschen immer etwas Mythisches. Du hast von den alten Kultstätten der Juden etwa gehört, die auf den Höhen ihre heiligen Bäume hatten. Auf dem Berge in Bethel etwa, wo Gott zu Jakob sprach, stand durch 1000 Jahre eine Terebinthe und durch wieder 1000 Jahre eine Eiche. Der berühmteste

heilige Baum stand im Paradiese, nach dem der Baum, den wir suchen, zweifellos seinen Namen hat.“

Der Freund biß nochmals ab, dann sagte er: „Ich glaube, du wirst enttäuscht sein, wenn du deinen Baum siehst, vielleicht haben ihn die Bauern schon gefällt,' vielleicht hat man ein Hotel daneben gestellt, vielleicht hat er nie existiert.“ Ich widersprach und versuchte ihn zu locken: „Ich stelle mir vor, ein runder, mächtiger Hügel wölbt sich über der Ebene empor und oben steht riesig und göttlich der Baum, vielleicht ist er 300 Jahre alt, wahrscheinlich aber wenigstens ein halbes Jahrtausend. Wir werden oben stehen und der Wind wird in seinen Zweigen rauschen, es wird sein wie im Paradiese. Wir werden ein Welterlebnis dort haben, wie noch nie ...“ — „Und eine Theophanie wie Jakob“, spottete er. Als wir gegessen hatten, drängte ich zum Aufbruch, ich glaubte, den Baum in der Nähe zu spüren.

Was soll ich von meinem Leidensweg erzählen. Ich fragte viele Menschen, alte und junge, gebildete und Bauern, wir fuhren im Kreis und niemand kannte den Baum. Das Erniedrigende war, wie sie mich ansahen, wenn ich die Frage stellte. Die einen kamen sich als gefoppt vor, die anderen hielten mich für einen Narren. Und der Freund wurde immer ungeduldiger. Wie teuer mußte ich meinen Traum . bezahlen! Zum Unglück wurden die Straßen schlechter und am Ende waren es nur mehr Bauernwege, die wir fuhren. Mein Freund jammerte, daß ich seinen Wagen zu Tode schinde, und drohte mir mit der Rechnung für eine Generalreparatur. Er wollte nicht mehr stehenbleiben, wenn ich wieder einmal fragen ging, und zeitweise begann ich selber zu zweifeln. Doch auf dem vergilbten Blatt war er deutlich zu sehen, und die Entfernungen konnten nur 40 oder 50 Kilometer sein.

Wir kamen schließlich zu einem Gärtner und ich kaufte meinem Freund einen Blumenstock, der ihm besonders gefiel. Er war selber wie ein kleiner Baum und hatte selten schöne Blüten. Nachdem ich gezahlt hatte, fragte ich den Gärtnerburschen nach meinem Baume. Er lachte nicht, er beherrschte sich, aber ein Schmunzeln ging über sein Gesicht, das er nicht verbergen konnte. Er habe nichts davon gehört, sagte er, aber er wolle die andern fragen. Sie saßen in der Kammer und aßen gerade. Er zog die Tür hinter sich zu, aber ich hörte, wie sie schallend lachten. Und . gerade dort sollte sich die erste Frucht meiner Mühe zeigen. Eine merkwürdige alte Dame, die ich zuerst gar nicht beachtet hatte, wartete auf Blumen. Sie mischte sich ein und sagte: „Mein verstorbener Mann hat mir einmal von diesem Baume erzählt, er hat ihn selber gesehen.“ Welch ein Glück! Leider wußte sie nur ganz allgemein, wo er zu suchen war. Und wir fuhren los. Wieder kreuzten wir in der Gegend, wieder fragte ich jeden Menschen auf der Straße, wo wir nur stehenblieben, aber keiner wußte eine Antwort. Zum Schluß kam, was kommen mußte. Mein Freund weigerte sich, weiter zu fahren. Im Leben sei es oft so, daß man auf die schönsten Wunschträume verzichten müsse. Es sei uns nicht beschieden, den Baum zu finden, der mitten in der Welt steht. Ueberhaupt sei das Ganze ein Unsinn, denn jeder Baum stehe im Mittelpunkt der Welt. Er habe es satt, auf diesen elenden Wegen zu fahren und sich von den Leuten für verrückt ansehen zu lassen. Alles Reden half nichts. Traurig gab ich nach. Er aber wendete sich stracks nach Norden zur Hauptstraße, um diese verfluchte Gegend zu verlassen, wie er sagte. Ein einziges Mal gelang es mir, mit einer List den Wagen zum Stehen zu bringen. Ich sprang hinaus, obwohl er mich zurückhalten wollte, und lief auf einen Mann zu, der auf der Straße arbeitete. Zum letzten Male wollte ich nach meinem Baume fragen. „Wissen Sie, wo der Baum ist, der mitten in der Welt steht?“ — „Ja“, antwortete er, „dort drüben.“ Und er zeigte mir in der Ferne einen runden Hügel, der sich gegen den Himmel wölbte. Auf dem Gipfel sah ich den Baum. Ueberglücklich dankte ich und lief zum Wagen. „Ja, ja“, sagte der Freund, „wir fahren gleich hin. Steig' nur ein.“ Als Ich neben ihm saß, fuhr er fort, so schnell er konnte. Als ich ihn halten hieß, wurde er grob und schalt mich einen Narren. „Der Mann hat dich doch nur zum besten gehalten, genau wie das alte Weib. Jetzt fahren wir heim, sonst schnappst du über.“

Ich konnte mich nicht durchsetzen, aber später erfuhr ich, daß der Mann auf der Straße recht hatte, und ich weiß nun, wo der Baum steht, und ich werde ihn wiedersuchen, wenn ich auch zu Fuß hingehen muß. Damals sollte es nicht sein. Die Mächte waren zweifellos dagegen. So etwas kann man, wie viele große Dinge im Leben, nicht erzwingen. Sie müssen einem zur rechten Stunde ge-

schenkt werden. Aber trotzdem hatte ich auf jener Fahrt noch ein erschütterndes Erlebnis.

Wir rasteten einmal vor einem Bauernhaus und tranken Apfelmost, als eine Frau aus dem Tor humpelte. Sie war nicht sehr alt, aber überaus elend. Als sie uns sah, blieb sie stehen und fragte, woher wir kämen. „Wir haben den Baum gesucht, der mitten in der Welt steht“, antwortete mein Freund, und das war das erste Mal, daß er vor Fremden darüber sprach. „Ich kenne auch so einen Baum“, sagte sie, „aber vielleicht ist es ein anderer als der, den ihr sucht. Als ich noch gehen konnte, war ich oft dort. Doch jetzt werde ich ihn nicht mehr sehen.“

Sie setzte sich neben uns auf die Bank und begann, wie es Kranke gerne tun, von ihrem Leiden zu sprechen. Sie hatte seit zehn Jahren am Fuß eine riesige offene Wunde, die nicht mehr zuheilte. Unter furchtbaren Schmerzen siechte sie dahin. Von ihrem Baum erfuhr ich nur, daß er so etwas wie ein Heiligtum jener Gegend war. Ich war ganz sicher, daß es nicht mein Baum war, aber die Frau tat mir leid und ich bat den Freund, daß wir die Arme hinbrächten. „Das bringt dir Glück“, sagte

ich. Er sagte nicht ja noch nein, doch als die Frau seine Hand faßte und küßte, gab er nach, denn es war nicht weit zu fahren.

Die Fahrt war traurig. Die Kranke sprach kein Wort im Wagen, sie hatte ihre Hände gefaltet und betete ununterbrochen. Während der ganzen Fahrt, die zum Glück nicht lange dauerte, litt sie, wie ich sah, furchtbare Schmerzen.

Endlich waren wir am Ziel. Auf einer Anhöhe, mitten im Freien, stand eine Kapelle und dahinter ein großes Kreuz. Zu Füßen des Kreuzes saß die Schmerzensmutter mit der Leiche Jesu und aus ihrem Herzen floß ein Wasserstrahl. Schluchzend wankte die Frau hin und plötzlich kam es mir wie eine Erleuchtung: Ist das nicht der Baum, der mitten in der Welt steht? Der andere, den ich gesucht habe, der stand im ersten Paradies. Jetzt steht das Kreuz als jener Baum da, der Weg und Ziel, Unheil und Heil bedeutet.

Wir tranken aus der Quelle, die aus dem Herzen der Schmerzensmutter floß, und führten unsere Kranke wieder heim. Es Ist kaum zu glauben, aber ihre Schmerzen waren verschwunden.

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