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Der „böse Blick“ und die Technik

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Der Vordere Orient ist heute längst nicht mehr das, was er noch vor zwanzig, dreißig Jahren war; die Strukturänderung, die auch ihn ergriffen hat, hat viele der Charakteristika, die für den Ausländer mit dem Begriff Orient unlöslich verbunden waren, zum Verschwinden gebracht. Mit dem Eindringen westlicher Technik, mit dem Entstehen eines modernen Nationalismus und besonders mit der Eroberung der weiten Räume durch Auto und Flugzeug hat das patriarchalische Leben dieser Region der Welt einen schweren Stoß erhalten, und der mit dem Verschwinden der Kolonialherrschaft einsetzende Angleichungsprozeß an den westlichen Standard hat ein erschreckend überstürztes Tempo eingeschlagen. Die Beduinen ziehen zwar noch immer durch die Wüste — wenn auch ihr Wanderradius, zumindest in den Randgebieten, durch das Vordringen der landwirtschaftlichen Technik in tausende Jahre wertlos erschienene Gebiete immer mehr eingeengt wird —, aber wenn ein Flugzeug über sie hinwegfliegt, glauben sie nicht mehr an Zauberei und sagen nicht mehr: „Min esch-scheitän“: vom Teufel. Sie sagen völlig gleichgültig „Thayärah“ und denken im besten Fall nach, ob es eine israelische oder eine ägyptische Thayärah, ein Flugzeug also, ist. In den Städten und auch in den Dörfern geht der scheinbar zeitlose Lebensstil, den man den orientalischen zu nennen gewohnt war, in einen halbwestlichen oder, besser gesagt, levantischen über, und was die Märchenwelt der Basare betrifft — nun, sie ist auf Kaffeetäßchen aus Gablonz, auf Dolche aus dem Ruhrgebiet und auf Tücher reduziert, die nicht mit der Hand in Damaskus, sondern mit der Maschine irgendwo in England gewebt und zu den Klängen eines aus einem Radio kommenden amerikanischen Jazz verkauft werden. Die völlige äußerliche Angleichung des Vorderen Orients vor allem an die internationale Uniformierung der Welt ist nur eine Frage nicht allzu langer Zeit. ;.

KNOBLAUCH, KUTTE UND WOLFSNAME

Diese schnell fortschreitende Angleichung der östlichen Masse an die vornehmlich technisch bestimmte Entwicklungstendenz einer Welt,“ deren physische Macht sioh nun nur noch indirekt — durch Kapital- und Waffenlieferungen — auswirkt, ist, wie angedeutet, einstweilen eine vorwiegend äußerliche. Das heißt, die Mentalität wie überhaupt die seelische Bewegungsrichtung des Mannes in den Basaren oder in der Wüste paßt sich ihr in einem weit langsameren Tempo an. Es besteht daher keine natürliche und am wenigsten eine natürlich gewachsene Korrelation zwischen seelischen und politischökonomischen Entwicklungstendenzen.

Am augenfälligsten äußert sich diese Tatsache in jenen Bezirken des täglichen Lebens, da technische Neuheiten in einer stark mit parareligiösen Elementen gesättigten Atmosphäre zu wirken beginnen, wo also moderne Technik und metaphysische, auf Dämonenglauben und Dämonenabwehr zielende Symbolik nebeneinander existieren. Der arabische Autolenker, welcher die Funktion des Dynamos und die Tatsache der Benzinverbrennung als Bewegungsursache seines Fahrzeugs als durchaus natürlich und beinahe selbstverständlich akzeptiert, wird es nicht verschmähen, sein Auto vor etwaigen gefährlichen Folgen dieses technischen Prozesses durch eine Schnur blauer Glasperlen, angebracht am Kühlerkasten, zu schützen. Der aus Jemen gekommene braune Jude, welcher mit einer selbstverständlichen Handbewegung seinen Radioapparat einstellt und vielleicht als Laborant in einem wissenschaftlichen Laboratorium arbeitet, wird möglicherweise nach der Arbeit ari der Austreibung eines Dibbuq, eines bösen Geistes, aus dem Körper eines Wahnsinnigen unter allem seit Jahrtausenden überlieferten Zeremoniell teilnehmen. Und mit der gleichen Natürlichkeit wird ein christlicher Araber aus Nazareth oder ein Mohammedaner aus Jordanien, der mit Hilfe moderner Betonmixer und anderer Bauhilfsmaschinen sich ein sehr modernes Haus bauen läßt, nach Fertigstellung des Rohbaues über dem Eingangstor eine Schnur blauer Glasperlen, ein Hufeisen und einen Bund Knoblauch befestigen, denn alle diese Dinge, besonders der Knoblauch, sind bewährte Mittel gegen den „bösen Blick“ von Neidern und auch gegen Jeden Djinn, also gegen jeden Dämon.

So kennt also der Orient auch heute noch — und nicht nur der Vordere Orient, sondern das ganze große Asien bis in die Tundren Sibiriens — eine unabsehbare Zahl von Talismanen, Amuletten und anderen Arten von prophylaktischen und therapeutischen Abwehrmitteln gegen Krankheiten, Dämonen und gegen alle Einwirkungen aus einer anderen, nicht kontrollierbaren Welt. Glasperlen, zumeist blauer Farbe, am Hals des Menschen, am Kopf des Kamels, am Auto — ja, ich sah sie (in einem Fall sogar an einem Radioapparat — oder an den Haaren des Säuglings schützen vor dem „bösen Blick“, Schmuck in Form einer Hand, des Halbmondes oder von Sternen ist gleichfalls ein Schutzmittel, während Münzen am Kopf des Kindes für den, natürlich fiktiven Verkauf des Kindes .zeugen, um es vor Beschädigung durch einen die Mutter verfolgenden Dämon — die Araber nennen ihn Qarine, was sowohl die Verfolgerin wie auch die Gemahlin heißt — zu schützen. Zum eigenen Schutz tragen sowohl Mutter wie Kind Fußringe, die aus dem Metall von Münzen geschweißt werden, welche zu diesem Zweck erbettelt sein müssen. In dieses Gebiet gehört übrigens auch die dem Fremden am meisten ins Auge fallende Sitte arabischer Christen, kleine Kinder, etwa bis zum Alter von fünf Jahren, in Franziskanerkutten zu kleiden. Sieht man Familien mit einem derart gekleideten Kind in den Straßen, dann kann man sicher sein, daß dieser Familie vorher einige Kinder weggestorben waren und sie daher den Nächstgeborenen — auch in diesem Fall natürlich fiktiv — der Kirche weiht und dadurch den verfolgenden und tötenden Dämon durch die heilige Kleidung vom Kind abzuhalten sucht. Mohammedaner hingegen schützen ihr Neugeborenes in derartigen Fällen mitunter dadurch, daß sie ihm den Namen Dhib geben. Dhib heißt auf deutsch Wolf, und der Wolf ist das einzige Tier, das alle Dämonen ohne Ausnahme fürchten.

Selbstverständlich muß alles, was schön ist, gegen den „bösen Blick“ des Neiders geschützt werden. Der naheliegendste, primitivste Schutz ist natürlich der, die Schönheit zu verdecken bzw. sie äußerlich in ihr Gegenteil zu verwandeln. Der mitunter unvorstellbare Schmutz, in dem die Kinder der Beduinen und auch vieler Fellachen aufwachsen, entspricht weniger der Wassernot oder der völligen Unkenntnis primitivster Hygiene, sondern soll vor allem verhindern, daß man ihre Eltern um sie beneidet. Die Braut wieder, die in ihren besten Festkleidern zur Hochzeit geführt wird, muß Amulette in größtmöglicher Anzahl tragen, da sie in diesem Augenblick besonders schön und daher nicht nur für Menschen, sondern auch für böse Geister begehrenswert erscheint.

HEILUNG MIT FEUER UND PRÜGEL

Ist ein Mensch von einer Krankheit ergriffen, dann geht er heute wohl schon zumeist zum Arzt — er ist in den meisten Fällen sogar Mitglied der Krankenkasse —, aber daneben bedient er sich doch nicht allzu selten auch sympathetischer Mittel, das heißt einer Maske oder anderer geschriebener oder gedruckter Amulette aus Papier, Pergament, Haut, Holz, Tierknochen oder Metall. Weizenkörner wieder, Halbedelsteine und besonders Alaun, getragen am Kopf, an der Hand oder am Körper, haben nicht nur als Heilmittel, sondern auch als Präventivmaßnahme gegen alle nur erdenklichen Krankheiten zu gelten. Schwangere jüdische Frauen aus Persien und aus dem Kurdistan tragen mitunter Armspangen aus Silber mit Zitaten aus den Psalmen. In diesen Abwehrkreis gehört auch die blaue Tätowierung der Beduinenfrauen, welche nicht nur als Schönheits-, sondern auch als Dämonenabwehrmittel im Gebrauch steht, und vermutlich auch die Tatsache, daß das Tob, das lange, im Bund geraffte Kleid der Beduinenweiber, stets von dunkelblauer, also dämonenfeindlicher Farbe ist.

In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß noch heute bei den Beduinen selbst in der israelischen Negevwüste, wo es einen eigenen Regierungsarzt für die Stämme gibt, die Medizinmänner der Nomaden, die ihre Kranken nach uralter Wüstentherapie behandeln, sehr in Ansehen stehen. Ihre Tätigkeit ist natürlich mit einem beiderseitigen Risiko verbunden. Für den Kranken aus leichtverständlichen Gründen, und für den Attiba, wie die beduinische Bezeichnung für den Heilkünstler ist, weil die Wüstenpolizei ihm gelegentlich ins Handwerk pfuscht. So vor kurzer Zeit, als einem berühmten Attiba des Huza'il-Stammes eine allem Anschein nach an

Epilepsie kidende Frau zur Behandlung übergeben wurde. Er band sie in seinem Zelt an, prügelte sie 13 Tage nach einem nur ihm bekannten System und würgte sie täglich zweimal, um den Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hatte, aus ihr herauszupressen. Anscheinend aber war die Behandlung doch nicht die richtige. Am 13. Tag stand die Frau nach der Sprechstunde nicht mehr auf, denn sie war tot. Vor Gericht gebracht, verteidigte sich der Medizinmann — der, nebenbei bemerkt, das Honorar von 100 Pfund und einem jungen Schaf sich im voraus hatte zahlen lassen — damit, daß der böse Geist in der Frau zur Gattung der fliegenden Dämonen gehörte und immer wenn er schlief in die Kranke zurückkehrte. Wiewohl die Familie der Getöteten, die das Risiko nach beduinischer Auffassung für selbstverständlich hielt, keine Strafverfolgung verlangte, wurde der Mann ins Gefängnis geschickt. Er quittierte das Urteil mit der Bemerkung, daß er in Hinkunft seine Praxis ausschließlich auf einfache, also auf nichtfliegende Dämonen beschränken werde.

Zur Selbstbehandlung wie auch besonders zur Prophylaxe ohne Zuhilfenahme von Spezialisten bedient man sich natürlich der Talismane, deren Zahl unübersehbar ist. Die Voraussetzung für den Erfolgswert eines Talismans — das Wort kommt übrigens vom arabischen „tilasm“, dessen Wortstamm „magische Linien ziehen“ bedeutet, während es im Hebräischen „qamea“: „das Angebundene.“, heißt — ist die, daß der Talisman in direktem oder indirektem Zusammenhang mit leicht erkennbaren Krankheitssymptomen steht. So wird noch da und dort von arabischen Bauern gegen Augenkrankheiten ein getrocknetes Kuhauge als Talisman verwendet, und die Frucht des Dattelbaumes, also eines überaus fruchtreichen Gewächses, besonders aus der Gegend des Wüstenstrafklosters Mar Saba, gegen Kinderlosigkeit. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß die Farbe des Heilmittels sehr häufig seine Verwendung erklärt. Gegen Blutungen im allgemeinen schützen rote Korallen, Nasenbluten stillt der Blütstein, Bernstein wird gegen Gelbsucht gebraucht, und gegen den sehr viele Krankheiten auslösenden „bösen Blick“ hilft natürlich auch ganz gut ein getrocknetes blaues Tierauge oder seine Nachbildung aus Glas.

Im allgemeinen haben Mohammedaner, Christen und Juden verschieden geartete Talismane. Gelegentlich aber überschneiden sich die Gebrauchsbezirke, und der Hilfesuchende greift, sich über nationale und religiöse Denkgrenzen hinwegsetzend, in das Gebiet der Dimonen-abwehr des benachbarten Volkes. Dies geschieht besonders in Fällen, wo verschiedene Gemeinschaften eng nebeneinander im gemeinsamen Raum leben.

DAS GEHEIMNISVOLLE BLAU

In welchem Maße diese Grenzen verschwinden, zeigt schon die Tatsache, daß der Schutz gegen Angriffe von gefährlichen Mächten hier wie dort häufig auf die gleiche Weise bewerkstelligt wird. Bei Juden wie bei Christen und auch bei Mohammedanern finden wir an Hauseingängen den „ets-hayyim“, den sogenannten Lebensbaum, eine Linie mit je drei Seitenästen, oder aber den Abklatsch einer in blaue, weiße, gelegentlich auch in schwarze Farbe getauchten Hand. Daneben natürlich auch, je nach der Religion, das Kreuz, den Halbmond oder den sechszackigen Stern Davids, welch letzterer aber auch gelegentlich auf muslimischen Häusern zu finden ist. Die Blaufärbung von Fenster- und Türrahmen und der Treppen ist Allgemeingut des Orients, wie auch die Sitte, die Gräber von heiligen Männern blau zu kalken. Dazu sei bemerkt, daß die blaue Farbe als Mittel gegen den „bösen Blick“ wohl mit der Farbe blauer Augen zusammenhängt, die infolge ihrer Seltenheit im Orient als besonders gefährlich gelten.

Das ungeheuer weite und ebenso interessante Gebiet der Talismane, Wunderkuren und magischen Übungen, das sich im Vorderen Orient immer und immer wieder mit sehr realer technischer Aufbautätigkeit überschneidet, kann natürlich in einer kurzen Darstellung nur angedeutet werden. Es ist kaum wahrscheinlich, daß gewisse jahrtausendealte abergläubische Vorstellungen aus dem Ideenkreis der großen Masse — und nicht selten auch aus dem durchaus selbständig denkender Intellektueller — völlig verdrängt werden. Sie sind so stark, daß sie sogar dann und wann Kompromisse mit der Moderne schließen können, ohne Wesentliches aufzugeben. Ein Stück Alaun in einer Füllfederkapsel, auf der sehr deutlich der Firmenname Waterman zu lesen ist, um den Hals eines Säuglings gehängt, oder ein Sprengstück aus einer Granate aus dem belagerten Jerusalem als Mittelstück einer blauen Glasperlenschnur sind durchaus keine Konzessionen an den Geist der modernen Zeit, sondern das Gegenteil: die Technik wird unbedenklich in den Dienst der Dämonenbekämpfung eingebaut.

DIE FURCHE

SEITE 10 NUMMER 51 17. DEZEMBER 1960

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