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"Der Brenner": Pass und Feuer

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Ludwig von Ficker zum 85. Geburtstag.

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Ludwig von Ficker zum 85. Geburtstag.

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Ludwig von Ficker, der am 13. April seinen 85. Geburtstag beging, ist der letzte Überlebende von den großen Einsamen der Jahrhundertwende, die als Publizisten den im „Zeitgeist“ erstarrten Geist zu beschwören suchten und deren Lebenswerk zu den wesentlichen Elementen einer im 20. Jahrhundert neu sich bildenden geistigen Sphäre gehört.

So verschieden die inneren und äußeren Beweggründe auch waren, die etwa Charles Peguy zu seinen „Cahiers de la Quinzaine“ zwangen, Karl Krauss zur „Fackel“ und Ludwig von Ficker zur Gründung des „Brenner“ veranlaßten: der gemeinsame Ursprung ihres Beginnens liegt im tiefen Wissen um den „Fluch und Segen der Wortwerdung“. Jeder auf seine Art war ein Verkünder des Wortes, das scheidend und wertend dem Gedanken seinen Platz gibt und damit die geistige Ordnung setzt.

Am Beginn des „Brenner“ (1910) steht der dionysische Mensch, der Denker und Dichter Carl Dallago; dem starren Traditionalismus, dem Mythos von Gott, Kaiser und Rom stellt er seine Forderung nach „der Wiederherstellung des Menschen im Geiste seiner ursprünglichen Bestimmung“, nach dem „Recht, das einzig im Empfinden liegt“, entgegen. 40 Jahre später sagte Ludwig von Ficker am Grab Dallagos:

„Man muß diese Zeit erlebt haben, die im Gedächtnis unserer alten Herzen bisweilen noch wie ein unausgeträum-ter Traum der Wirklichkeit sich regt: jene Übergangszeit um die Jahrhundertwende mit ihrem Einbruch stürmischer Bewegung in die Stagnation des Althergebrachten ..., dann, nur dann, wird man die Impulse denkerischer und dichterischer Willkür recht verstehen, die ehedem Erscheinungen wie Nietzsche, Dehmel und Walt Whitman in einem spät erwachten, von einem leidenschaftlichen Hang nach Aufgehen in ursprüngliche Daseinsformen bewegten Herzen hervorrufen mußte.“

Carl Dallago zuliebe hatte Ludwig von Ficker den „Brenner“ ins Leben gerufen, aber wäre hinter diesem Freundesdienst nicht der unerschütterliche Wille Fickers gestanden, „alle voreiligen Antworten auf die Frage des Daseins einer neuen Prüfung zu unterziehen..., die vertrauten Gegensätze, die zwischen den widersprechenden Lösungen klaffen, einer tieferen Integration zuzuführen“, die Zeitschrift wäre bald das Opfer blinden Eifers geworden und hätte sich in den monologisch-metaphysischen Reflexionen ihrer Mitarbeiter erschöpft. Zum „Brenner-Kreis“ dieser Zeit zählen, neben den Hauptautoren Dallago, Arthur von Wallpach, Karl Röck und K. B. Heinrich, unter anderen der später berühmt gewordene Hermann Broch, Albert Ehrenstein, F. Th. Csokor, Martina Wied und der Dichter des „Nordlicht“, Theodor Däubler.

Doch erst die apokalyptischen Visionen Georg Trakls wiegen den „Brenner“ auf den Weg in die großen polemischen Diskussionen, die später mit Theodor Haeckers Konzeption der Wahrheit als Idee und Ferdinand Ebners sprachphilosophischer Erkenntnis, „daß es kein absolutes, sondern nur ein relativ zum Du existierendes Ich“ geben kann, zu einem Umbruch des philosophisch-religiösen Denkens führten.

In der Gestalt Georg Trakls, mit der ganzen Gewalt seines Genies, war der legitime Erbe der Kultur des Abendlandes, der schuldbeladene, ausgesetzte Sohn des „entarteten Geschlechts“, in den irrationalen Lebensraum des „Menschen von paradiesischer Bedürfnislosigkeit“ eingebrochen. Mit der Verklärung seines Todesbewußtseins durch das prophetisch-gleichnishafte Gedicht rückte das Problem der Sprache, des Wortes als Symbol des Göttlichen, das Frag und Antwort gleichermaßen in sich birgt, in den Mittelpunkt des „Brenner“.

Im November 1914 stirbt Georg Trakl, 27jährig, im Garnisonspital in Krakau: Er hatte die Schlacht von Grodek überlebt — aber für ihn führte kein Weg mehr aus der Hölle des Schlachtfeldes. „Alle Strafen münden in schwarze Verwesung“, steht am Ende seines Passionsweges.

In dem aufsehenerregenden „Brenner-Jahrbuch 1915“ erschienen die letzten Gedichte Trakls zugleich mit dem großartigen Essay „Der Krieg und die Führer des Geistes“ von Theodor Haecker, mit Dallagos „Versuch einer Wiedergabe des Taoteking“, mit Rilkes „Versen“ und der „Rede vom Tode“ von Sören Kierkegaard. Dichterische Visionskraft und denkerische Prophetie bilden in diesem Buch eine vollkommene Analogie. Da steht in der satyrischen Anklage Haeckers:

„ ... Gewiß! Gewiß! Es wurzelt das Unheil selbst, das hereinbrach, tief in nie getilgter Grundschuld der Menschheit — aber des Unheils Umfang hat doch empirisch bestimmte Ursachen... Es ist eine geistige Verfassung, in der man schwätzt und schwätzt und niemals denkt; ein grauenvolles Schauspiel wird sein, wenn ein Affe dem Menschen das Philosophieren abguckt... Er wirft die schöpferische Entwicklung, deren Sinn und Inhalt er so namenlos fremd und häßlich gegenübersteht... einfach als“,hölzernes Eisen' in die Rumpelkammer der logischen Schnitzer — fertig, erledigt — und grinst...“

Und aus der Nacht, die auf den letzten aller Tage folgt, klagt die Stimme des toten Dichters Georg Trakl:

„Schlaf und Tod, die düstern Adler
Umrauschen nachtlang dieses Haupt;
Des Menschen goldenes Bildnis
Verschlänge die eisige Woge
Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen
Zerschellt der purpurne Leib.
Und es klagt die dunkle Stimme
Über dem Meer.
Schwester stürmischer Schwermut,
Sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt
Unter Sternen,
Dem schweigenden Antlitz der Nacht.“

Theodor Haecker, gebürtiger Protestant aus Württemberg, der bereits 1913 den ersten und zweiten Weltkrieg, den Verlust der Westgrenzen und den Verlust der Ostgrenzen prophezeite, der Philosoph, der berufen gewesen wäre, ein Praeceptor Germaniae zu werden, lebte, wie auch Ludwig von Ficker, als anonymer Korrektor eines Verlages, ebenso wie die Volksschullehrer Ludwig von Wittgenstein, Ferdinand Ebner und Daniel Sailer, in jener inneren Emigration, die für so viele „Spannungsmenschen“ zwischen 1870 und 1930 symptomatisch war. Preisgegeben dem Kapf um das tägliche Brot, leidend unter dem Mangel einer Gesellschaft lebendiger Geister, fanden diese nach innen gekehrten Propheten auf den kleinen Inseln der Gesprächsgemeinschaften — wie der „Brenner“ eine war — das einzig ihnen gemäße und mögliche Forum; hier wurde das Licht der Gedanken gehütet und „die heiße Flamme des Geistes“ immer von Neuem entfacht, während der Kontinent ringsum in dunkler Kälte erstarrte.

Die Bedeutung des „Brenner“ als eine Insel der Denk- und Geistbewegung, als Sammelpunkt „jener Zugvögel der Zukunft“ - wie Friedrich Heer sie nennt - liegt im Gegensatz zu anderen Schriften darin, daß sich in einem Brennpunkt eine Fusion des „denkerischen Besitzes“ mit dem „lebendigen Ergriffensein“ ereignete: die Verbindung von Erkenntnis und Offenbarung zur Wirklichkeit des Glaubens.

Ferdinand Ebners Werk „Das Wort und die geistigen Realitäten“ öffnete dem „Brenner“ den Weg zum neuen geistigen Verständnis des Absoluten, durch das Wort in seiner Beziehung zum „Urwort“, der mystischen Liebe, die dem Menschen die Sprache verlieh, „die Brücke zum Du, an dem das Ich sich erst zu erkennen vermag“. In einem großen Aufsatz, „Die Wirklichkeit Christi“, schreibt Ebner: „Das Wort, das im Anfang war, mußte dem seiner Menschlichkeit entfrem-denten und darum von Gott abgewandten Menschen menschlich nahekommen, um ihn wieder zurückzuversetzen in den Grund und eigentlichen Sinn seines Lebens.“

In der Wirklichkeit Christi hat sich die mystische Liebe uns offenbart, hat der Mensch durch das fleischgewordene Wort die Erfahrung seiner selbst gemacht.

Von verschiedenen Seiten führten die Wege der Dichter und Denker des „Brenner-Kreises“ in das Zentrum der großen geistigen Auseinandersetzungen: mit dem Problem der gültigen Position des gläubigen Menschen im Kraftfeld der Kirche — „deren absolute Autorität Denknotwendigkeit ist“ —, mit der Verantwortlichkeit der Kirche, die — wie Ebner sagte — „vor das Licht der Welt ihre bunten Fenster gestellt und durch ihre Weihrauchdämpfe seinen Glanz verdunkelte“, mit der Verantwortung des Christen für den Glauben und dessen Institution.

Während der Sprachphilosoph Ebner in der geistigen Realisierung des „loh“ — einer „persönlichen Wahrheit“ —, die Formung der neuen christlichen Gewissensbildung suchte, konzipierte der politische Denker Haecker „Wahrheit als Idee“ — Objektivierung und damit Ordnungsprinzip —, und in den Traumvisionen der Paula Schlier spiegelten sich die Elemente der Eschatologie in dem pneumatischen Raum eines wahrhaft katholischen Bewußtwerdens.

Auf dem Forum des „Brenner“ wurde das Problem der Kirche — das letztlich das Problem unserer Kulturgemeinschaft ist — bis zur äußersten Konsequenz durchgedacht; das Ergebnis dieses Prozesses manifestiert sich in der 14. „Brennen-Folge, die zu Weihnachten 1933 erschien: in Paula Schliers Brief über „Die Kirche“ an Karl Thieme und in dem großen Aufsatz „Zur Situation der Kirche“ von Ignaz Zangerle. Theodor Haecker hatte ein Jahr zuvor in seinen „Betrachtungen über Vergil, Vater des Abendlandes“ die Katastrophe prophezeit, die, von Deutschland ausgehend, in den nächsten Jahren über Europa hereinbrechen würde; in Zangeries resummierendem Essay wird nun der Weg gewiesen, der durch das Chaos hindurchführt:

Der wahre, wenn auch nicht immer offen zutage liegende Sinn aller profanen Geschichte ist die Heilsgeschichte der erlösten Menschheit, deren sichtbare Stellvertretung die Kirche ist... Die Säkularisierung des europäischen Staates ist so weit vorgeschritten, daß die Kirche auch dort, wo er sich in scheinbarer Antithese konservativ und autoritär gibt, Abstand halten muß... Und darum darf es nicht sein, daß im totalen Staat die Stimme des Laienvolkes verstummen muß, weil das“,Volk' zu schweigen hat, denn im Ernstfall verfügt die Kirche diesem Staat gegenüber nur über das aus einzelnen bestehende Laienvolk ...

In seines Namens doppelter Bedeutung — als Paß und als Feuer — hat sich der „Brenner“ erfüllt: Er ist ein Berg, über den der Weg vom Norden nach dem Süden führt, und er ist eine heiße Flamme, in der das zu Eis erstarrte religiöse Bewußtsein sich wieder zum Meer geistiger Substanzen verflüssigte. — Für den einzelnen aber, von dem der Protestant Kierkegaard sagte, „er könne seiner Zeit nicht helfen, er könne nur ausdrücken, daß sie untergeht, und Platz schaffen, daß Gott kommen kann“, für den einzelnen ist der „Brenner“ ein Licht auf dem Weg zur katholischen Heimat der Geister, zur Erlösung aus der Ich-Einsamkeit: „der Wiederherstellung des ursprünglichen Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen“.

In Mühlau bei Innsbruck, nahe dem kleinen Friedhof, auf dem Georg Trakl ruht und Carl Dallago, feiert nun der Schöpfer des „Brenner“ seinen 85. Geburtstag; 44 Jahre seines Lebens — von 1910 bis 1954 — hat Ludwig von Ficker für den „Brenner“ gelebt; Jahrzehnte seines ausgesetzten Daseins — Jahrzehnte der Entbehrung und der Sorge, Jahrzehnte immer erneuter Opfer. Alles, was er besaß, und alles, was er hätte fordern können, Geld und Stellung, Anerkennung und persönliches Glück, gab er hin für die Idee des „Brenner“: „dem isolierten Anspruch einer Stimme im Rahmer einer kleinen Zeitschrift Gehör zu verschaffen“.

Die unerschöpfliche Quelle seiner großen Natur, die Menschlichkeit Ludwig von Fickers, war die magnetische Kraft, um die sich der „Brenner-Kreis“ bildete; so wurde der junge Denker und Dichter, den ein Kritiker einmal beschrieben hat als den „herrlichen Jüngling mit den leuchtenden, strahlenden Augen des Genies“, zum Bruder und Vater, zum Förderer und Freund der Einsamen und zum Schöpfer eines Werkes, las zu einem „Raum stellvertretender geistiger Vorentscheidungen“ geworden ist.

Wer einmal eine Stunde mit Ludwig von Ficker verbringen durfte, ihm zuhörte, mit ihm sprach und mit ihm schwieg, dem wurde ein Glück geschenkt von besonderer Art — der hat ein Wunder erlebt: „die menschliche Begegnung, die das einzige ist, was bleibt“.

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