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Der Christ und die moderne Kunst

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Novemberabend, in Wien; dunkle Gassen, überragt vom Gerippe des Stephänsdoms; ganz in seiner Nähe hat Hans Fronius sein Quartier aufgeschlagen. Die Zeitungen berichten von der Ausstellung seiner Graphik: ein Kafka-Illustrator, der, kongenial einfühlend, dem seltsamen Wesen dieses Dichters gerecht wird. Wer ist Kafka? Ein junger Diditer der „verlorenen Generation“ aus dem ersten Weltkrieg, kurz nach diesem, wenig geachtet, verstorben. Geplagt von seltsamen Gesichten, in denen Menschen seltsam an einer Schuld zugrunde gehen, die sie nicht begreifen. Vor und im zweiten Weltkrieg ist nun dieser Kafka modern geworden: in Amerika, England, Frankreich, der Schweiz. Man streitet sich um ihn, in Paris verbrennen Gegner seine Schriften. Die Kafka-Mode, viel diskutiert, scheint im Abnehmen zu sein. Diesen Kafka hat nun Hans Fronius illustriert: eine düstere Welt, in Zwielicht, in Schuld getaucht. Man begreift nicht recht, warum der Künstler sich gerade diesen Autor als Thema für seine unleugbare Begabung wählen mußte — immerhin, man sah ihn an — und ging. Die Zeitungen hatten über den „Kafka-Illustrator“ berichtet und auch über eine in einem Wiener Verlag erschienene Kafka-Mappe. Die ganze Sache ist zu Ende. Neue Ausstellungen werden eröffnet, neue Bilder, neue Gesichter, der Jahrmarkt des Lebens geht weiter.

Wie viele Wiener haben die Ausstellung tatsächlich gesehen? Und wie viele von jenen, welche sie sahen, haben begriffen, daß es hier um mehr geht als um Namen wie „Kafka“ und selbst „Fronius“? Wie viele haben den Zusammenhang rwisdien dieser Welt des herbstlichen Wiens 1946 — der Ruine des Doms, Not und Elend in den Straßen — und den Gesichten, der beiden Künstler, des Dichters und des Zeichners, eingesehen? Wie viele Christen zumal haben begriffen, daß es hier für sie sehr viel zu sehen, das heißt zu lernen gibt?

Dem Kampf um die moderne Kunst kommt eine elementare Bedeutung zu für den Aufbau eines neuen Menschenbildes* Es geht hier nicht, wie so viele Zeitgenossen immer noch glauben machen möchten, um Fragen des Geschmacks, der Mode, des persönlichen Empfindens. An der Frage der modernen Kunst scheiden sich die Geister. Es gibt kaum ein bedenklicheres Zeichen für die innere Überalterung weiter Kreise als ihre ablehnende Stellung dieser Kunst gegenüber. In Frankreich, dem gegenwärtig vielleicht führenden Land der Christenheit, hat man es begriffen: da erscheint unter Leitung des P. Regamey eine Zeitschrift „L'art sacre“, welche den Kunstströmungen der Gegenwart weit offen steht. Schulungskurse für den französischen Klerus in Stadt und Land werden veranstaltet, um ihn aufzuklären über die religiöse Bedeutung der modernen Kunst. Auf breiter Front wird der Kampf gegen religiösen Kitsch geführt. So war es möglich, daß im Sonderheft einer katholischen Zeitschrift, welche die Pariser zu einer Nachtandacht im Stadion von Co-lombe aufrief, ein Bild von St.-Sulpice, einer der bekanntesten Pariser Kirchen, zu finden war, mit der Unterschrift: Beispiel eines faden, sentimentalen, geschmacklosen Frömmigkeitsstils. Dieselbe Nummer trug ein Geleitwort des Kardinals von Paris und war herausgegeben von führenden Theologen der Hauptstadt.

Warum all diese Bemühungen? Weil man dort begriffen hat, daß der modernen Kunst zumindest eine dreifache Bedeutung zukommt: 1. als Erzwingung einer Gewissenserforschung des Menschen, gleichviel welcher Konfession und Parteirichtung er angehören mag; 2. als Prüfung des Christen auf seine christliche Substanz, auf seinen Gehalt aus echten menschlichen und religiösen Werten; 3. als Raum einer möglichen neuen Begegnung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Christen und Nicht-christen.

Zum ersten: die moderne Kunst fragt nicht: Wie träumten sich die Menschen im 16. und 17. Jahrhundert zu sein, sondern wie sind sie heute, wie sehen sie wirklich aus. „Die Menschen?“ Nein, sondern wir: wir Bürger zweier Kriege, wir Mittler und Teilhaber an all den großen und kleinen Lügen unserer Zeit. Gestern drängten wir uns im Schützengraben oder Luftschutzbunker, heute in Schlangen vor Lebensmittelläden, in Nachtlokalen, in den Parks des Schleichhandels, in der zutiefst unsauberen Atmosphäre unseres öffentlichen und privaten Lebens. Wir lieben es, im privaten Gespräch zu klagen: die Zeitungen lügen, die Mächtigen der Erde lügen, unser Nachbar lügt — eines aber wollen wir nicht wahrhaben, daß wir selbst zutiefst der Lüge verfallen - sind. Welche innere seelische Deckung besitzen die Werte, die wir leichtsinnig ausgeben, in Gesten, Gebärden, Worten? Über all dies gibt uns die moderne Kunst Auskunft. Sie zeigt der Zeit, sie zeigt uns selbst unser wahres Gesicht: und deshalb wird sie. gehaßt von jenen, welche diese Zeit durch die Lüge beherrschen und; von jenen, welche ihr durch die Lüge entfliehen wollen: von den Diktatoren (Hitler verbot die moderne Kunst bekanntlich grundsätzlich) und von allen bürgerlichen und unbürgerlichen Illusionisten, welche die mörderische Ruhe ihres gewissenlosen Lebens nicht eintauschen wollen gegen die Unruhe einer im Gewissen angesprochenen Existenz.

Zum zweiten: die moderne Kunst stellt nicht nur im allgemeinen an den Menschen die Gewissensfrage: Wie steht es mit dir, wie siehst du wirklich aus, mein Lieber? Gleichst du nicht diesen, jenen fragwürdigen Gestalten, zumindest diesem traurigen Käfer, der (in Kafkas „Die Verwandlung“) gestern noch ein kleiner Beamter, heute als ein ekeldunkles, schwermütig-schwerfälliges kalkgcpanzertes Untier müde durch die Stube kriedit? Tiere und Untiere, wer denkt hier nicht an die große christliche Kunst vergangener Zeiten, an einen Bosch, an die apokalyptischen Visionen der mittelalterlichen Kunst? Der Mensch im Gefälle seiner Versuchungen: der Christ am Kreuz dieser Welt, Zerschlagen durch eigene Narrheit, geschändet durch Lüge, die Versuchung der Macht, unterworfen der Herrschaft des Bösen. Wann werden alle Christen unsere Zeit begreifen, daß in den jammervollen Gestalten moderner Graphik, die zwischen Himmel und Erde einen unwirklichen Tanz tanzen, sie vielleicht selbst gemeint sind? Wann werden sie sich- erkennen in den scheinbar seelenlosen Porträts der modernen, in diesen bald stumpfen, bald brennenden Gesichtern, welche von Sünde, Schuld sprechen und so unendlich leiden, gerade weil sie niemals Mund und Herz öffnen werden zu einem Confiteor der Worte und der Taten?

Zum dritten: ist diese Kunst nicht grausam, hart, unerbittlich, unmenschlidi? Warum muß sie immer wieder „im Schlamm wühlen“? Gibt es denn nur Buben, zwielichtige, läppisch-verquollene Gestalten, von Lust und Sehnsucht verzehrt und verzerrt? Wer dergestalt in der modernen Kunst nur Sadismus und Masochismus, ein Verlangen schamloser Selbstentblößung und liebloser Enthüllung der Fehler des „Nächsten“ sieht, verkennt völlig ihr Wesen. Er sieht nicht, daß auf dem Grunde dieser Kunst nicht Haß, Neid, Sticht des Verderbens ruhen, sondern das Wichtigste, was heute Menschen Menschen zu bieten haben: die Redlichkeit einer großen Liebe und eines großen Erbarmens. Was ist denn diese moderne Kunst, menschlich gesprochen, anderes als der Aufschrei wunder Herzen, welche zutiefst verletzt sind durch die Gewalttaten der Zeit, der „Welt“? Ein Appell an die harten Herzen, die duimpf-verschlossenen Sinne, die Trägheit der Gemüter, die Beklommenheit der Geister. Dies ist das Anliegen dieser Kunst. Sie richtet sich nicht gegen das Heilige, wie so viele sich selbst glauben machen wollen, wohl aber gegen das Scheinheilige, gegen die humanitäre Phrase: deshalb ist diese Kunst wie kaum etwas anderes in der Gegenwart geeignet, einen neuen Raum zu eröffnen für eine Begegnung der heute in so vielen weltanschaulichen, politischen und konfessionellen Lager getrennten Menschen. Hier wird ein neues Gespräch begonnen, ein Gespräch über Größe und Grenze des Menschlichen. Teilnahms-berechtigt ist jeder, der bereit ist, sich selbst, sein Leben unter das Gericht der Wahrheit zu stellen. Ans dunklen, leid-umzogenen, prüfenden Augen blickt uns der Dichter, d e r E i n s a m e, an. Wird er, nach diesem Kriege, wieder nur eine

Beute der Snobs, der Ästhetiker, der Soireen bleiben? Wird die Kunst eines Fronius auf enge Ausstellungsräume und Mappen beschränkt bleiben oder wird sie weiter dringen, in weitere Kreise Wiens Eingang finden? Wir erwarten die nächste Ausstellung des Künstlers m Wien. Das Werk aber wartet auf die Menschen, die durch Sehen Ein-Sehen in das wahre Wesen unserer Zeit ringen. Dieser Einsicht zu dienen ist die hohe Aufgabe der modernen Kunst.

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