Der Demos Europas und seine Völker

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Europa erlebte in den letzten Monaten eine Rückkehr törichter nationalsozialer Illusionen. Länder der Europäischen Union setzen wieder auf die eigene Identität. Doch es braucht einen europäischen Demos, den Grundstein der europäischen Demokratie. Der Demos Europas ist eine IQ- und Ethos-Leistung.

Nun, nach dem Wenzeltag, dem Sankt Patrick Day der Tschechen, den sich die Österreicher für ihren Wahltag ausgesucht haben, musste ich wahrlich glauben, dass der Tschechenfürst seine südlichen Nachbarn sündig machen wollte. Aus uralter Freundschaft. Vielleicht aus dergleichen Europa-Eifersucht heraus. Denn wir verdanken Europa einem anderen himmlischen Wesen als unserem Jahve.

Er herrschte noch in der Ära der körperlich liebenden Götter. Er hat eine Königstochter entführt, die durch ihre Schönheit verführte. An dieser diebischen Liebe muss etwas Göttliches sein, denn aus der Heimat Europas haben wir die Schrift bekommen. Vielleicht als Schmuggelware, aber ein Gegengift für unsere Vergesslichkeit.

Seitdem haben wir viel geschrieben, um Geschichten festzuhalten, die sonst so flüchtig treu gewesen wären wie einst der stierige Zeus. Und rechthaberisch, denn jeder frische Schreiber glaubt, dass das Festnageln der eigenen Worte auch deren Ewigkeit meint. Doch das Göttliche war stierig stur und ewiglich eigensinnig. Jeder wollte Europa nur als das eigene Beefsteak.

Europäischer Demos

Oh, Gott, oh, Zeus, oh leidende Literaten des nationalen Eigensinns, wir haben soviel gegeneinander geschrieben, dass die Tinte in uns zum Kreislauf des Unfugs wurde. Es hat lange gedauert, bis wir es ahnten. Europa sei keine Beute, kein Schlachtfeld, kein Diebesgut. Sie ist (und ich behalte hier den tschechischen Genus bei) die Göttin der Sprachen. Versteht jeden von uns, der sie verstanden hat. Ihre Tempel sind zahlreich, wenn auch bescheiden. Sie ähneln den Kaffee- mehr als den Gotteshäusern. Die Wahrheit heißt hier Nuance, das Gebet - Gabe. Das letzte Gericht - Gerüchte, good news als Risiko des denkenden Lebens.

Es macht bereits nervös, denn so eine Entwicklung braucht einen europäischen Demos, den Grundstein der europäischen Demokratie. Dieser Demos entmachtet keine der Nationen Europas, er macht sie demokratisch. Der Demos Europas ist eine IQ- und Ethos-Leistung. Man kann nämlich kein gelobtes Land finden außer als Stadtviertel in einer Babylonia Europeana, wo die Nationalität integriert.

Um nicht über Österreich zu sprechen, reden wir lieber von Prag. Auch dort tut man jetzt, als wäre Europa ein Hurrikanauge, das unser heiliges Wenzelland, die Insel der Identität, zu überfluten droht. Man setzt auf das Eigene, um nicht das Messbare zu wagen. Es gibt nämlich auch geistige Mülldeponien, erst nach ihnen stinkt es in Neapel. Demos Europas meint Wertegemeinschaft. Werte aber haben Preise. Es geht um kein Gelabere der TV Talk Profis, es ist ein hartes Ringen. Und noch immer gibt es Europäer, die glauben, in ihrem nationalen Secondhand Shop das zu bekommen, was erst erschaffen werden muss.

Die europäische Entwicklung der letzten Monate (siehe Frankreich, Holland und Irland mit ihren Abstimmungen) und jetzt die Wahl in Österreich belegen die törichte Rückkehr der alten nationalsozialen Illusionen, deren Preis mir bereits bezahlt zu sein schien. Der alte nationale Sozialismus (übrigens terminologisch eine tschechische Erfindung) baute rot und braun auf die nationalistische Aggressivität, kombiniert mit sozialer Massenenteignung. Er hat uns den zweiten Dreißigjährigen Krieg 1914 -1945 geschenkt, von dem wir uns erst 1989 erholt haben.

Tabuthema Europa

Man schreckt uns mit Neoliberalismus ab und belebt alt-kommunistische Rituale. Immer stärker wird nun der soziale Nationalismus, als defensive Strategie der EU-Oldies. Auch er will sich nicht messen lassen in einem Wettbewerb. Er will das Angehäufte genießen, die Privilegien der Jalta-Teilung der Welt. Die Dividenden der Dichotomie.

Mein biografisches Feedback wehrt sich dagegen und ich komme mir wieder so naiv vor wie damals 1968 nach dem Einmarsch der brüderlichen Helfer aus dem heutigen Putinien. Zu der Zeit war Europa ein Tabuthema, eine Einbildung der unvölkischen Intellektuellen, eine der wahren Zukunft abgewandte Spinnerei. Und dennoch leben wir heute allesamt darin. Und haben innenpolitische Sorgen mit dessen Widersachern. Die Faktizität der neuen Nähe ist nicht mehr zu kippen.

Europa der Nicht-Nörgler

Ich habe immer meine Schwierigkeit gehabt, an Hegels berühmte List der Vernunft zu glauben. Man wollte sie uns beibringen als die Regel der Entwicklung. Nach ihr war das Dumme an der Menschengeschichte zu etwas gut. Und immer fand sich ein Genosse der Geschichtlichkeit, der uns erklärt hatte, wozu sein Böses gut sei.

Lust des Naiven lag mir näher. Sie glaubt nicht an Reparatur des Göttlichen, sie erkennt dessen Kontingenz an, sie hat Intellekt genug, das dennoch Greifbare zu erkennen, und sie hat den Mut, danach zu greifen. Darum entstehen bewohnbare Gegenden.

Ja, Kontinente - wie dieses Europa, in dem auch ein Wiener Café zu finden sein wird - als Haus der Nicht-Nörgler.

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