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Der deutsche Bundespräsident erzählt sein Leben

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Wenn bedeutende Menschen, zumal Auserwählte, die zu hohen Ehren und zu hohen Aemtern gelangt sind, rückschauend ihr Leben erzählen, dann spiegeln die geschilderten Anfänge nur zu oft, absichtlich oder ungewollt, den späteren Glanz wider. Dominant ist in derlei Schöpfungen meist das Streben, in der Raupe den herrlichen Schmetterling erahnen zu lassen, rezessiv — und als Selbstbeweihräucherung raffinierter — das gemimt unschuldige Staunen, wie denn aus so bescheidenen Voraussetzungen ein so glorreiches Ergebnis quellen konnte. Ja, ja, das wahre Genie bricht sich eben Bahn, der Gerechte, der Kluge, der Starke triumphiert über finstere, feindliche Gewalten. Nichts von allen dem ist in den bezaubernden Jugenderinnerungen des heutigen deutschen Bundespräsidenten zu finden. In einet schlichten und darum dem Gegenstand völlig gemäßen, wortkünstlerisch ob ihrer Unmittelbarkeit und Treffsicherheit überzeugenden Sprache zeigen sie das Weiden eines ungewöhnlich begabten jungen Menschen aus bestem südwestdeutschen Bürgertum altbäuerlichen Stammes. Legen wir den herzgewinnenden Band aus der Hand, so haben wir weder das Empfinden, aus dem künftigen Redakteur der Naumannschen „Hilfe“, der nach dem Erwerb eines großen, runden gelben Topfes mit blauen Blumenmustern den Eisenbahnzug aus München nach Berlin bestieg, könne, solle, müsse dereinst jemand werden, den gekrönte Häupter als „Grand et bon ami“ ansprechen und der den deutschen Kanzler ernennt, noch ist in uns das große Staunen vorbereitet darüber, daß dieser einfache Mittelbürger nun gar in Schlössern wohnen, in Sonderzügen fahren und sogar Gegenstand eifrigster genealogischer Forschungen der dem äußeren Erfolg huldigenden Urkundenaufspürer werden konnte.

Diese Rechenschaft — sich selbst, dem deutschen Volk und auch den Historikern, den Politikern der gesamten Welt erstattet, freilich vorab denen, die nicht so sehr politisch-diplomatische, als kulturell-soziologische Zusammenhänge suchen — ist zunächst eine wunderschöne Bereicherung des deutschen Schrifttums. Sie ist wohl Wahrheit, in dem Sinne, daß jede Aussage einem objektiv richtigen Sachverhalt entspricht, doch auch Dichtung in des Wortes edelstem Verstand. Sie ist eine von den Musen gesegnete, seelisch begnadete Prosa-Schöpfung, die in der schmalen Reihe der gültigsten Selbstzeugnisse an der Seite Goethes oder... des „armen Mannes in Tockenburg“ den Platz fordert. Zum zweiten aber gewährt die Selbstbiographie Theodor Heuß' den erfreulichen Einblick in ein Deutschland, das unter allen Abschattungen dieses über das geographische ins Volksseelische reichenden Begriffs das für die gesamte Welt schätzenswürdigste und liebenswerteste ist.

Im Kinderland des deutschen Bundespräsidenten befinden wir uns auf jenen heiteren, freundlichen Fluren, die vom Rheinknie bei Basel bis an den Main und hinüber ins Bajuwarische sich erstrecken, im geistig und leiblich sauberen schwäbischen Land, das bis zum Zusammenbruch von 1945 von den beiden Staaten Baden und Württemberg (samt der Enklave Hohenzollern) gebildet wurde. Hier gab es einst, noch im wirksamsten Gedächtnis einer traditionsfrohen und traditionsstolzen Bevölkerung, die bunte Vielfalt der geistlichen Fürstentümer, der Grafschaften, der Reichsritter und der alten Reichsstädte; hier war ehrwürdiger Kulturboden, auf keltischer und römischer Grundlage christlich-germanische Gesittung. Hier blühten Freiheitssinn und Ordnungswille im harmonischen Verein. Daß die Kleinstaaterei den Individualismus, und daß dieser mitunter schrullenhafte Kauzigkeit zeitigte, darf man als artige Schwäche mit hinnehmen. Jedenfalls waren in diesem angenehmen Winkel die Vorbedingungen zum Glück, zu geistigem und wirtschaftlichem Aufschwung, zu wahrer Demokratie vorhanden.

Dies alles atmen die Blätter des Gedenkens, die Heuß seiner Jugend widmet. Der Ahnenkreis, väterlicherseits Schiffer aus dem stattlichen Dorf Haßmersheim, noch im Badischen gleich an der württembergischen Grenze, die allmählich ins mittlere, akademisch gebildete Bürgertum hineinwuchsen, mütterlicherseits Wirtsfamilien, mit noch stärkeren gelehrten Abzweigungen, aus Altwürttemberg, bietet ein ähnliches Bild wie bei so vielen Gestalten der schwäbischen Bürgerelite. Verknüpfungen zu Gustav Schmoller, Rümelin Fr. Th. Vischer, Georg Herwegh, Karl Mayer sind erwiesen. Wir wären sehr erstaunt, kämen bei tieferem Forschen nicht auch Beziehungen zu jenem berühmten Ehepaar hinzu, von dem so ziemlich alle Genies des schwäbischen Raumes in weiblicher Linie sich herleiten. Der Vater des Bundespräsidenten war ein grundgescheiter, etwas wunderlicher und knorriger Mai..., der in Heilbronn als Baudirektor eine sehr ersprießliche Wirksamkeit entfaltete, nebenbei ein aufrechter Demokrat, getreu den südwestdeutschen, antibismarckschen Ueberlieferungen. Litt er an der Zeitkrankheit, religiöser Gleichgültigkeit, so brachte die Mutter Theodor Heuß' eine handfeste, nicht zimperliche evangelische Frömmigkeit mit. Von beiden Ehern hat der schalkhaft?, zu allerhand Streichen aufgelegte, doch im Herzensgrund sehr gutartige Solin. das Beste überkommen. Er war kein Musterknabe, doch auch keiner von jenen Rebellen um jeden Preis, die gegen Vaterhaus und Schule, gegen Familie und Lehrer einen in anarchischer Zuchtlosigkeit wurzelnden Haß empfinden. Heuß bekennt, nicht nur seinen Eltern höchsten Dank zu schulden, sie und die Brüder geliebt, die weiteren Verwandten mit Zuneigung bedacht zu haben, sondern auch gerne zur Schule gegangen zu sein, obzwar ihm einige seiner Lehrer wenig Anlaß zur Anhänglichkeit boten.

Der Werdegang des mit offenen Augen in die Welt Blickenden ist von doppeltem Interesse, rein persönlich, da es sich ja um einen spater führenden Politiker handelt, typisch aber, weil hier das gebildete deutsche Bürgertum um die Jahrhundertwende erscheint, unter dem Einfluß eines sozialen, literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Umbruchs, den der wilhelminische Fl'tterglanz blendend und Auswärtige verblendend überstrahlte. Heuß hat schon am Gymnasium, wesentlich infolge der kulturellen Abgeschlossenheit seines Vaters, die feerührung mit allen den neuen Kräften erfahren, die sich gegen die Butzenscheibenromantik, gegen den Pilotysmus in der Malerei, gegen den Siegesallee-Stil im Bauen und gegen die gesamte politisch-gesellschaftliche Atmosphäre des „Untertans“ empörten. In' seinen frühesten Jünglingsjahren und dann mit aller Macht während seiner Studentenzeit hat er Kontakt mit der „Jugend“, dem „Simplicissimus“, von ferner her Berührung mit Stefan George gehabt; er ist Liliencron persönlich begegnet. Vom Politischen her aber waren seine eindringlichsten Anreger einerseits der Hochschullehrer Lujo von Brentano, anderseits der aus der christlichsozialen Bewegung kommende Friedrich Naumann. Doch man darf in diesem Zusammenhang auch der gedanklichen Funken nicht' vergessen, die von Büchern ins empfängliche Herz und ins kluge Hirn des Lernenden hinübersprangen. Die umfängliche Belesenheit, von der Heuß' Erinnerungen Beispiele geben, hat mit dazu beigetragen, daß dieser in der Kleinstadt Geborene, im Mittelstädtchen Herangewachsene schon weltoffen war, ehe er in den beiden Zentren deutscher Kultur, in München und in Berlin, zu sich selbst herangereift ist. Wie verlassen ihn auf seinem fortan an weithin sichtbaren Orten verlaufenden, wenn auch erst in Heuß' vierzigstem Jahr in den Reichstag mündenden und nach dem sechzigsten auf der Ministerbank landenden Lebensweg 1905, als er nach Berlin übersiedelt, um dort als Friedrich Naumanns vorzüglichster Mitarbeiter an der „Hilfe“ zu wirken und da er mit seiner Doktorarbeit über Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn die gelehrten Sporen erworben hat. Und die schon von uns erwähnte Keramik, die er an die Spree als mahnende Zeugin aus Süddeutschland mitgenommen hat, wird Symbol für die zwei Hauptelemente, aus denen fortan das Schaffen Theodor Heuß' erklärbar sein wird: „halb Volkskunst, halb Jugendstil“. Die Volkskunst, sie kennzeichnet den Raum, den Rahmen, dem es sich erdverbunden organisch einfügt. Der Jugendstil, er bezeigt die Epoche, aus der es Stoff, Anlaß, Kampfgegenstände und Vorbilder holt. Doch der Gelehrte, der Schriftsteller, der Politiker, der Mensch Heuß ist nicht ein Gefangener seiner Umwelt oder seiner Zeit. In vielem wuchs er über Ort und Zeit hinaus. So etwa in der irenischen Art, mit der er, der Bürger, für die Anliegen der Arbeiterklasse Verständnis aufbringt und in der er, der Protestant, dem Katholizismus Gerechtigkeit zollt und ihm Sympathie widmet. So in der ironischen Art, die ihn auch bei den Nächsten und Geliebtesten nicht blind für deren Schwächen macht, ja, die ihn nicht haltmachen heißt vor unpathetischer Selbstkritik. Das schöne Greisenantlitz, aus dem Augen voll jugendlichen Feuers schauen, der würdevolle Ernst, hinter dem ein verräterisches Zucken um die Mundwinkel mühsam gebändigte Lustigkeit erahnen hilft, die unentbehrliche Zigarre in der schreibgewohnten Hand: so tritt uns Theodor Heuß auf der Photographie des Buchumschlags entgegen. Wir erkennen in diesem Altersbildnis aus jüngster Gegenwart den Knaben und den ins politische Leben schreitenden Mann wieder, von dem die „Erinnerungen“ melden den volksverbundenen, den zeitnahen, den irenischen, ironischen berufenen Vertreter des besten, des ewigen Deutschlands, den guten Europäer aus antikem und christlichem Erbgut.

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