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Der deutsche Sprachschatz

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Ein Werk wie dieses herauszugeben, ist eine ebenso dankenswerte wie undankbare Aufgabe Dankenswert, weil es jedermann den gesamten Schatz einer Sprache zur Verfügung stellen will, weil es mit dazu beiträgt, die grammatikalischen Irrtümer in Schreibe und Rede zu vermeiden, weil es die richtige Definition oft falsch gebrauchter Wörter bietet; sodann — für den gebildeteren Benutzer — weil hier Alter und Herkunft, Geltungsraum und Verwandtschaft dieser Wörter gezeigt werden, nicht zuletzt im Hinblick auf 5400 Abbildungen und Uebersichten, die den Text veranschaulichen. Undankbar bleibt diese, im Sprach-Brockhaus allerdings bis nahe an die Grenze erreichbarer Vollkommenheit gelöste Aufgabe deshalb, weil der Kritiker immer wieder Lücken entdecken wird, vor allem aber, weil der deutschen Sprache ein oberster Areopag fehlt, der — wie z. B. in Frankreich die Academie Francaise — als höchste Instanz darüber entscheidet, ob ein Wort ins Lexikon der Gebildeten aufgenommen wird und welches seine zulässigen Bedeutungen sind, ferner wegen des Einflusses, den die Mundart auch auf die Schriftsprache und auf die gehobene Rede ausübt. Bei der besten Absicht und den größten Kenntnissen zum Trotz wird es sich nie vermeiden lassen, daß ein Wörterbuch den Stempel der Umwelt tragen muß, in der seine Verfasser sich bewegen.

Dem Sprach-Brockhaus ist es besonders hoch anzurechnen, daß er sich über diese Schwierigkeiten von vornherein klar war und daß er'ihrer, offenbar durch gut geleitete Teamarbeit, weithin Herr geworden ist. Hervorragend gelungen ist das Problem der Bebilderung: vorzüglich sind die meisten Uebersichten. Als Beispiel seien die Modelle einer Burg und eines Kraftwagens, die Zusammenstellungen über Familie und Rauchwaren genannt. Mißgriffe bei den Sinnerklärungen sind sehr selten, etwa, wenn das Burgenland als „Landschaft in Niederösterreich“, statt als eigenes österreichisches Bundesland bezeichnet wird oder wenn die Palastdame einfach als Hofdame erscheint, während es sich da um einen Ehrentitel für Hocharistokratinnen handelte, die nicht — wie eben die Hofdamen — zum wirklichen Dienst bei Fürstlichkeiten verpflichtet waren.

Wenn wir nun auf eine Anzahl fehlender und hernach auf nicht erwähnte Bedeutungen in anderem Sinne aufgenommener Worte hinweisen, so nur, um für kommende Auflagen, gemäß der im Vorwort des Verlages gegebenen Anregung, ergänzendes Material zu liefern. Umfänglichere Lücken sind uns vor allem auf folgenden Gebieten begegnet: Terminologie des Nationalsozialismus und des Kommunismus, österreichisches und schweizerisches Amtsdeutsch. Lehnworte aus dem jüdischen Jargon. Mögen einem diese Sprachbezirke sympathisch sein oder nicht, sie haben existiert oder sie sind noch vorhanden; man kann ihr Vokabular zwar totschweigen oder totdrucken, doch es hat seine Spuren hinterlassen und die Lektüre der Zeitungen, die politischer Schriften oder die jüngste Vergangenheit schildernder Romane und Theaterstücke ist dem Ausländer oder dem in einer anderen deutschen Sprachzone Lebenden erschwert, wenn er sich vergebens um Auskunft an das so wertvolle Wörterbuch wendet.

Beginnen wir mit den Abkürzungen, deren wichtigste, seit 1945 neu auftretende, auf der Schlußseite des Sprach-Brockhaus sich finden. NSDAP, SA, SS, Gestapo, HJ, sind im Hauptteil mit diskretem Schweigen übergangen. Dafür beklagt das neue Oesterreich die Abwesenheit der OeVP, der SPOe. der KPOe, des CV und die Schweizer trauern um ihre SBB. um Migros und ETH. Von Erinnerungen an die Hitlerzeit vermissen wir, angefangen vom Ahnenpaß und dem Ariernachweis über Gauleiter und Rassenschande bis zum Sturmbann und dem schönen Eigenschaftswort volkhafte Dutzende während mehr als einem Jahrzehnt „unabdingbarer“ Ausdrücke. Und was fängt man, bei Begegnung mit rötlich gefärbtem deutschen Sprachgut, an ohne Politbüro, Zentralkomitee, Ueberbau, Volksdemokratie? An weniger aufregende Dinge mahnen wir, indem wir die Abwesenheit einiger Zierden des österreichischen Amtsstils beklagen: Kein Bezirkshauptmann wird mit diesbezüglichen Vernehmlassungen den Meldezettel eines Sektionschefs gewissermaßen zur Superarbitrierung anfordern, denn das beinhaltete respektwidriges Aufscheinen diesseitiger Vertrautenallüren. Versteht Ihr das, o norddeutsche Leser, und wüßtet Ihr nicht auch gerne, was ein Bundesrat in der Schweiz und was er in Oesterreich ist: hier ein Mitglied der nichtssagenden Ersten Kammer, dort eines des alles sagenden sieben-gliedrigen Ministerkabinetts und kollektiven Staatsoberhauptes Erführet Ihr nicht gerne, was die Eidgenossen unter einem Landammann, einem Gemeindepräsidenten, einem Traktandum, was die Oesterreicher unter einem Nationalrat. einem Konzipienten, was die Schweizer unter einem Weibel, einem Fourier verstehen?

Da wir nun schon mitten im Mundartlichen sind, wollen wir ein paar ewig-österreichische und neu-österreichische Grundbegriffe aufmarschieren lassen, die an die Pforten des Sprach-Brockhaus klopfen. Ein eleganter Feschak, ein Fetzenbankert und ein Flohbeutel ziehen voran, sie stehen Habtacht und suchen ein Herzbinkerl, wenn es auch etwas kralawatschert ist. Erscheint hernach ein Pamperletsch, ein kleines Pauxerl, dann gibt es vielleicht, besonders in den Augen der Sumper, einen Pallawatsch, zumal wenn ein Tinterl über den kleinen Zetzer erfährt, daß er von einem Vonerl stammt, doch zuletzt ist alles Tulli, sofern nur sie keine verhatschte Trull, sondern eine harbe Godel und er kein Ta(r)chmierer sind. Verzeihen Sie, bitte, das letzte, harte Wort: es kommt aus dem jüdischen Jargon und es ist, in Oesterreich naturalisiert, vornehmlich im ersten Weltkrieg, als Bezeichnung der Drückeberger gebraucht worden. Ihm gleich sind in die Wiener Umgangssprache übergegangen — der Sprach-Brockhaus hat übrigens eine beträchtliche Anzahl nach Deutschland gedrungener unarischer Eindringlinge gastlich aufgenommen —: broiges (böse mit jemand), Chuzpe (Frechheit), Ezes (meist unerwünschte. Ratschläge), Geseres (Geschrei), Gewure (verschmitzte Geschäftstüchtigkeit), Tachles (Geschäft), Tarn (Anmut, Gegensatz dazu Untam, unbeholfener Klotz: Eigenschaftswörter betamt, unbetamt).

Zurück in höhere und in hohe Regionen Wir vermissen den Adoleszenten (den vornehmen Jüngling, werdenden Oktavian), die Aufschwörung. das Austrä-galgericht (entschied über Angelegenheiten der regierenden und der mediatisierten Familien des einstigen Heiligen Römischen Reiches, noch bis 1918), den Deszent und das Deszentorium, den Einspanier (altösterreichischen Hofunterbeamten), den Epouseur, die Abkürzungen für FM. GFM, GO. GdK., Gdl., GLt, GM (Generalschargen), den Palatinat (Würde im alten Reich), den Verwaltungsrat (in Oesterreich = Aufsichtsrat). Hätten nicht auch die Spiele Canasta und Rummy Daseinsrecht? Womit wir beim Kapitel neuestes Sprachgut hielten. Bundesdeutscher, Halbstarker, Trend, Ostzone (ostzonal), D-Mark und viele andere Neubildungen — von denen freilich nicht wenige als krankhafte Auswüehse wegzuschneiden wären — harren auf Einlaß, Nun etwas Kulinarisches. Des sehr löblichen Bemühens um Berücksichtigung auch des mundartlichen Speisezettels ungeachtet, brinst die Karte des Sprach-Brockhaus weder die Dobosch-torte noch die Sachertorte aus Wien, noch das Voressen und das Geschnerzelte aus der Schweiz. Ein paar Ausflüge in die mannigfachsten Gebiete bescheren uns die Ausreißer Adabei (in Wien- überall sich aufdrängender Snob), aufpappen 'österreichisch: ironisch für eine Auszeichnung verleihen, jemand „einen Orden aufpappen“), aufpapperln (auffüttern. F?alisierung (Uniformaufschlag, Grubenhund 'auf Büdungsfatzkerei und Fachunbildung beruhende Zeitungsente), Klaubauf (bayrisch für Krampus), Mistelbacher (wienerisch: uniformierter Polizist). Mulatschak (verschwenderische Sauforgie in Nachtlokalen, vom ungarischen „mulatsäg“, Unterhaltung), postfrisch

GLOCK UND LUTZ VERLAG NÜRNBERG

Es hat sich herumgesprochen: die MUSISCHE BIBLIOTHEK hilft, der wachsenden Vereinsamung und Verkümmerung Herr zu werden. Zum gehobenen Stil tritt eine vorzügliche Bebilderung — jeder Band ein Geschenk: Budenz, Der Maitre de plaisir (DM 7.50), Köhler, Schule der Schlagfertigkeit (DM 7.50), und Adolph, Liebhabereien mit Büchern (DM 9.—). Weitere Bände folgen. Bei Glock und Lutz

Die einzige Bibliothek dieser Art in Deutschland: die GEISTIGE LÄNDERKUNDE, ist auf fünf Bände angewachsen: Münz, Frankreich, Sciacca, Italien, Brügmann, Skandinavien, Meursen, Holland, und Schiffauer, Spanien. Je Band (zwischen 560 und 420 Seiten und Bildtafeln) DM 15.—. Unerläßlich für Dienststellen, Schulen, Geistliche, Politiker, Volksbildner. Bei Glock und Lutz

Leidenschaftliche Leserbriefe und erregte Kontroversen beweisen, daß die neuen Bücher von Friedrich Heer, Mensch unterwegs (DM 11.50), Unamuno, Briefwechsel mit Uundain (DM22.80), Przywara, In und Gegen (DM 15.—), und Friedr. W. Foerster, Erlebte Weltgeschichte (DM 25.—), als wirkungsvollster Beitrag zur Lösung brennendster Fragen im Licht christlicher Ideen anzusehen sind. Bei Glock und Lutz

Machen Sie Ihre Ferienreise nochmals! Sie vertiefen und vervollkommnen dadurch Ihre Erlebnisse! Wir empfehlen Ihnen Verena von Jerin, Bilderbogen aus dem Süden (DM 11.50), Kreiner, Von der Vielfalt des unbekannten Bayern (DM 9.—), Raffalt, Drei Wege durch Indien (DM 15.—), Hammelrath, Auf dem Wege (DM 7.50), und Lindelauf, Wer will mit nach Italien?. Bei Glock und Lutz

Die preisgekrönten Bücher unseres Verlages finden das besondere Interesse des Publikums: Meidinger-Geises erste große Bilanz des Nachkriegsschrifttums, Welterlebnis in deutscher Gegenwarts-, dichtung (zwei Bände in Kassette DM 25.—), Friedr. W. Foersters Erlebte Weltgeschichte (DM 2—) und Hans Dahmens Das Zeitalter der Begegnung und des Gesprächs (DM 9.—). Bei Glock und Lutz

Ein festliches Geschenk verlangt ein festliches, hohes Format! Die, NÜRNBERGER LIEBHABERAUSGABEN sind von Rang — dem Inhalt und der Gestalt nach: Reinh. Schneider, Formen der Macht, Peter Metz, Abstrakte Kunst und Kirche, Fritz Leist, Wäre ich ein Mensch, Friedrich Heer, Ehe in der Welt, Peter Beckmann, Max Beckmann, Erich Przywara, Idee Europa. Bei Glock und Lutz (ungebraucht, in keiner Weise beschädigt, zunächst auf Postwertzeichen angewandt, dann im übertragenen Sinn), Provinzial (Oberster einer Ordensprovinz), raumfremd (geopolitischer Begriff, bezieht sich aul Mächte, die weder an einen bestimmten Raum grenzen, noch in ihm berechtigte starke Interessen haben), (der) Schmier (Wien: Polizeistreife), ver' burgern (schweizerisch: in eine Burgergemeinde aufnehmen).

Vermehrte Sorgfalt wäre apf die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen zu legen, die an zahlreichen im Sprach-Brockhaus erscheinenden Wörtern zu beobachten ist. Auf einiges haben wir bereits hingedeutet. Jetzt eine weitere kleine Auswahl nützlicher Ergänzungen! Sie ist um so nötiger, als sonst beim Ausländer, der das vortreffliche Nachschlagewerk zu Rate zieht, aber auch bei Deutschredenden anderer Mundarten die Möglichkeit der komischesten und störendsten Mißverständnisse drohte. Liest man in einer schweizerischen Zeitung: „der Anzug beliebte dem Nationalrat“, dann wird der Bundesdeutsche ohneweiters vermuten, ein eidgenössischer Parlamentarier habe an einem Kleidungsstück Gefallen gefunden, während „Anzug“ im Amtshelvetisch soviel wie Antrag heißt — der in unserem Fall durch die Zweite Kammer angenommen wurde. Erfuhr man, wiederum aus der Schweiz, der Bundesrat habe ein Guidenregiment auf Pikett gestellt, so kann heute der NichtSchweizer mit dieser Nachricht nichts anfangen. Denn nach dem Sprach-Brockhaus hieße das, ein Regiment Reiseführer sei auf (wahlweise) Abteiteilung oder Kartenspiel zu zweien gestellt; in Wahrheit aber wurde, solange es dies noch in der Eidgenossenschaft gab. ein Reiterregiment mobilisiert und in Bereitschaft gehalten. Wunderte sich der Deutsche darüber, daß in Oesterreich ein Zugsführer Soldaten befehligte, so hätte das Erstaunen ein Ende, meldete der Sprach-Brockhaus, Zugführer sei Leiter eines Eisenbahnzuges, und Zugsführer Kommandant einer kleinen Infanterieabteilung des österreichischen, vordemk. u. k., Heeres. So wäre denn hinzuzufügen: Ananas ist in Oesterreich nicht nur die köstliche exotische Frucht, sondern auch die Gartenerdbeere eenannt. Auf, und nicht für, einen Tag wird in der Schweiz eine Körperschaft einberufen Bezirke gibt

(gab) es als Verwaltungseinheiten nicht nur in Preußen und in Sachsen, sondern auch in Oesterreich. „Bemühend“ ist in der Eidgenossenschaft das, was anderswo „peinlich berührt“. Chaib dürfen wir als das wichtigste Wort der schweizerischen Umgangssprache bezeichnen, das sogar dem französischen „merde“ den Rang abläuft; es heiöt soviel wie alles, nicht nur Kalb und wird als Eigenschaftswort mit Vorliebe dem „Usländer“ beigesellt. Deszendenz heißt nicht nur Abstammung, sondern auch Nachkommenschaft. Dynast hat die rechtsgeschichtliche Bedeutung von „edelfrei“. Landesgericht ist die österreichische Entsprechung für Landgericht Die Versammlung schweizer Kantonsbürger heißt Landsgemeinde und nicht Landesgemeinde. Leiter hat heute unter anderem die Nebenbedeutung von Leitartikel. Nebbich ist auch Hauptwort (der Nebbich = der Niemand), und zwar unmittelbar jüdischer Herkunft, ebenso wie Powidl (wo die Ableitung fehlt). Regierungsrat bedeutet nicht nur „höherer Verwaltungsbeamter“, sondern — in der Schweiz — Mitglied der Kantonsregierung Etwas sich richten, heißt in Oesterreich soviel, wie eine heikle Angelegenheit, dank guten Beziehungen, unter Aus- nützung oder Umgehung gesetzlicher Bestimmungen zu eigenen Gunsten in Ordnung bringen. Schriften sind für den schweizerischen Bürokraten Personaldokumente; wehe dem „schriftenlosen“ Ausländer! Schmock kommt nicht aus dem Slowenischen, sondern aus dem Polnischen (smok = Drache). System hatte unter dem Dritten Reich eine besondere abschätzige Bedeutung. Von einigen wichtigen Zusammensetzungen mit „über“ scheint uns „überwertig“ den ersten Platz unter den fehlenden zu verdienen Die „Verehrung“ wird in Oesterreich, mit dem Zusatz „meine“, als heute üblichster Gruß an „bessere Leute“ gebraucht. Ein Vertrauter ist, wiederum an der Schönen Blauen Donau, ein Geheimpolizist, ein Zünder soviel wie ein Zündhölzchen ... und unsere kleine Nachlese auf dem wohlbestellten und gütbeackerten Feld des Snrach-Brockhaus ist zu Ende. Mit aufrichtiger Bewunderung nehmen wir von ihm nicht etwa Abschied, so“-lern reichste Belehrung und fast nie versagende, kaum jemals täuschende Auskunft. Er gehört in jedes Haus, in jedermanns Hand und vor allem in eines jeglichen Sprachbewußtsein.

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