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Der Dichter Amerikas

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Als Thomas Wolfe, der im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts in Ashevill, North-Caro-lina, geboren wurde, mit 38 Jahren starb, fand sein Verleger, der Inhaber des Harper-Ver-lages, einen acht Fuß hohen Manuskriptberg vor, aus dem er die letzten drei großen Bücher Wolfes zusammenstellte. Zu Lebzeiten des Dichters waren nur zwei Werke erschienen: die Geschichte vom Hunger des Menschen in seiner Jugend: „Schau heimwärts, Engel (Look Homeward, Angel) und die zweibändige Schilderung der Sturm- und Drangjahre des gleichen Helden: „Von Zeit und Strom“ (Of Time and the River); außerdem noch der vorliegende Sammelband „From Death to Morning“ und ein zu einem Buch ausgearbeiteter Vortrag, den Wolfe vor Studenten in Colorado gehalten hatte, „The Story of a No-vel.“ — Dann fällte ein plötzlicher Tod den fieberhaft Schreibenden,

„Es gibt wenig heroische Leben: ungefähr das einzige, von dem ich eine Menge weiß, ist mein eigenes. Vielleicht klingt das ruhmredig, aber da es auch wahr ist, sehe ich keine Ursache, es zu verleugnen.“ So schrieb Wolfe an seine Mutter, und in der Tat bildet die Schilderung des eigenen Lebens und seiner Familie, der Umwelt und der beiden Kontinente, die er auf kurzen Reisen durchstürmte, den wesentlichen Inhalt seiner Bücher. — Man hat Thomas Wolfe mit Balzac verglichen, und dieser Vergleich läßt sich von der äußeren Erscheinung bis zu der gehetzten Arbeitsweise und der unübersichtlichen Massenhaftigkeit der Produktion durchführen. Doch besaß Balzac vor allem eine stoffliche Erfindungsgabe, vielleicht die gewaltigste substantielle Phantasie der Weltliteratur, während sich Wolfe vor allem durch die ungewöhnliche Empfindlichkeit des sensorischen Apparats und durch die hymnische Kraft der Sprache auszeichnet. „In mir ist eine erschreckende Urkraft ausgebrochen“, heißt es in einem andern Brief an die Mutter, „immer muß ich im Gange sein — entweder in wildem Angriff auf ein Buch oder auf ein Stück, oder wild unterrichtend oder umherirrend... Ich nehme die Dinge zu intensiv? Ich kann kein Ding nur halb tun.“ Was er immer fürchtete, daß der Tod ihn vor der Zeit fällen werde, geschah allzu früh. Wolfe kam nicht dazu, die vierzig Bände über sein Land zu schreiben, das wohl keiner so geliebt und so gehaßt hat wie er, jenes großes Land, daß er wie seine eigene Hand kennenlernen wollte. Doch was er schuf, ist genug, uns deutlich empfinden zu lassen, daß Amerika mit ihm seinen größten Dichter, seinen hinreißendsten Sänger verloren hat, aus dessen Werk uns die Musik des neuen Erdteils entgegenklingt, den wir nicht kennen, kaum ahnen ...

Der Enkel einer holländisch-deutschen Großmutter und eines englischen Großvaters von väterlicher und schottisch-irischer Großeltern von mütterlicher Seite, verbrachte die Kindheit in Ashevill, studierte am College in North-Carolina, dann in Harward, begann als Student zu schreiben und wurde Lehrer an der Universität von New York. Von 1931 an lebte er als freier Schriftsteller und unternahm mehrere Reisen nach Europa, vor allem durch England, Frankeich und Deutschland. Im Kessel der Großstadt, im Wirbel des aus allen Rassen zusammengemischten neuamerikanischen Volkes empfindet er sich als stolzen Nachkommen der alten Amerikaner, jenes Volkes, „das das Land besiedelte, in seinen Kriegen focht und nach Westen vorstieß“. Sein Werk aber, das von kraß-realistischen Schilderungen bis zum hymnischen Ton Walt Whitmans alle Stile des Ausdrucks umfaßt, empfinden wir als autochthon amerikanisch, im Unterschied zu dem der bekannten Großstadtschriftsteller und Gesellschaftskritiker, die uns ein erstes, vorläufiges Bild Amerikas vermittelten.

Mit dem Untertitel „Erzählungen“ sind die 14 Prosastücke des Bandes „Vom Tod zum Morgen“ nur sehr ungefähr gekennzeichnet. Er enthält: ein Gespräch über die hohen Freuden und bitteren Leiden der Einsamkeit des jungen Menschen; die naturalistische Schilderung einer Reihe von Todesfällen und Katastrophen im Getriebe der Großstadt; vier grausige Momentaufnahmen vom Antlitz des ersten Weltkrieges; die autobiographische Geschichte eines Mannes, der höher gewachsen war als die übrigen Menschen; den Brief eines amerikanischen Mädchens, das sich auf einer Studienreise in Europa befindet; eine Schilderung des Landes und der Menschen von Alt-Catawba; die Skizze „Zirkus im Tagesgrauen“, schließlich die Wiedergabe einer jener endlosen, vom Hundertsten ins Tausendste führenden Erzählungen seiner Mutter, die der Phantasie des Kindes so viel Nahrung gab und der er in seinem ersten Buch — in der Gestalt der Grundstückmaklerin Eliza, ein in jeder Hinsicht einzigartiges Denkmal gesetzt hat.

Die Übertragung der ersten drei Werke Thomas Wolfes durch Hans Schiebelhuth stellt eine nachschöpferische Leistung dar, vor der gar manche „originale“ verblaßt. (Die von 1930 bis 1938 reichenden, von Ina Seidel ins Deutsche übertragenen Briefe Wolfes an seine Mutter sind eines der ergreifendsten Dokumente der neueren Literatur — soweit man hier noch von Literarischem sprechen darf — und für die Erkenntnis des Menschen Thomas Wolfe von größter Bedeutung.)

Dr. Helmut A. Fiechtner

Der Gong. Von Henry Benrath. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 96 Seiten.

Diese Versdichtung bestätigt aufs neue Benraths hohen Rang als Lyriker. Sie fordert vom Leser Bemühung und erschließt sich demjenigen leichter, der auch die anderen späten Werke des Dichters kennt, vor allem das Prosabuch „Unendlichkeit“. Mit diesem steht besonders das Vorspiel „Lotos“ in engem thematischen Zusammenhang: die Verbindung des apollinischen Künstlertums mit der kontemplativ gerichteten Weisheit des Fernen Ostens in einer tieferen Lebenseinheit. Hier geht es um menschliche Grundhaltungen jenseits von Zeit, Raum und Volk. „Delphi Ist mehr als Westen“, läßt der Dichter Apollon sagen. Der Gong ist ein Sinnbild für die Einheit, den Einklang im Unsichtbaren. Den drei großen Teilen der Dichtung, „Aphrodite Par-thönos“, „Thinatos“ und „Temenos“, sind Leitworte Heraklits vorangestellt. Diese Gesänge der Liebe, in freien Rhythmen gestaltet, beschwören aus der Erinnerung tiefe menschliche Beziehungen, steigern sie in die Sphäre des Gleichnishaften und machen jene besonderen Kräfte und Gesetze sichtbar, die das Leben und den schöpferischen Auftrag des Dichters bestimmten. Die Schönheit südlicher Landschaft, in wundervollen Bildern festgehalten, wird in den Raum der Innerlichkeit einbezogen. Hier werden Tiefen aufgerissen, in welche die bloße Ratio nicht reicht. Die Erkenntnis des ununterbrochenen Opfers, das der Künstler zu bringen hat, durchzieht das ganze Werk. Der Dichter ist ebenso dem ordnenden und begrenzenden Geiste, dem apollinischen Prinzip, verbunden wie den chthonischen Mächten der Natur, den irrationalen Kräften. Seine Erwählung Ist nicht eigene Wahl. In einem Hinwels des Autors heißt es: „Der Schöpfer gehorcht und vollzieht nach Gesetzen, die ihm selber undurch-dringbar bleiben.“ — Bewundernswert ist Benraths Sprachkunst. Seiner außergewöhnlichen Erlebnisfähigkeit entspricht auch eine ebensolche Ausdruckskraft. Das kaum mehr Sagbare tiefer seelischer Vorgänge wird noch In das bildhafte Wort gebannt und die schöpferische Eigenart der Sprache steht immer unter dem Gesetz des schönen Maßes. In unserer Zeit ist eine solche Formbeherrschung eine sehr seltene Erscheinung und daher um so mehr zu würdigen. Das Werk trägt das Adelszeichen des reifen Künstlertums.

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