6558451-1948_35_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Dichter der Entscheidungslosigkeit

Werbung
Werbung
Werbung

„Nicht mitzuhassen, mitzulieben.. idieint wie eine Devise über dem Werk Gerhart Hauptmanns zu stehen. Nicht parteiliche Engherzigkeit, nicht standpunktbegrenzte Urteile, sondern Liebe zu der Kreatur, Liebe zu den Geschöpfen eines höheren Meisters in ihren Ängsten und Leiden, ihrem Bemühen, ihren Erfolgen und ihren Zusammenbrüchen, in den mehr negativen als positiven Endpunkten ihres Daseins.

Es ist nicht die flammende, stürmende, paulinische Liebe, noch das allumfangende franziskanische Erbarmen, auch nicht die mystische Allverbundenheit Ekkehards — es ist schlicht die Liebe eines Menschen, der alles Elend und Leid, die Grenzen und Engen irdischen Wandels erkennt und sich den vielen wie dem einzelnen in gefühlsgetragener Misericordia zuneigt. Dann sich aber zu all denen wendet, die ihn hören wollen, und der non von dem spricht, was er gesehen und was ihn erregt und erschüttert hat.

Mitleiden und nachschaffen, was man gesehen hat, das scheint das Agens, das Gerhart Hauptmann bewegte und erfüllte. Ob es nun die Geschicke vieler sind, wie die der schlesischen Weber, der rebellierenden Bauern, der ahnungslosen mexikanischen Blutopfer des abendländischen Besitzrausches, ob es die Allverbundenheit ist, wie in seinem „Eulenspiegel“, oder ob Hauptmann Einzelschicksale zeigte, wie Vockerat, Rose Berndt, Henschel, den Maler Schilling, wie Crampton, Hannele Mattern oder Dorothea Angermann, Michael Kramer, Frau John …

Einmal in seinen Werken wird das Wort von der Gewalt der Liebe ausgesprochen, von jener Liebe, die alles überwindet und den Himmel zur Erde niederzieht: in der Legende von Heinrich und Ottegebe. Aber auch eben diese Kraft irrlichtert in der Geschichte von Griseldis, im Ketzer aus Soana, ja selbst noch in dem Wahrmärchen von einem, der auszog, die Liebe zu sein, diesem Narr in Liebe, dem steirischen Ritter Ulrich von Liechtenstein, wenn jener sie auch nur allzu irdisch zu fassen wagte. Sie ist das Irrlicht in der Tragödie von Mensch und Idee des Glockengießers. Sie wird zur Deutung ihrer geistigen Macht in dem Glashüttenmärchen von der schönen Pippa. Sie wird das Gleichnis irdischer Verhärtung, wo sie fehlt, wie beim Kampf des Cortez. Und in all diesen Stellungen und Spiegelungen des großen Themas erhalten schließlich auch Gersuind und der große Karl ihren Platz, einen Platz, der aber gänzlich anders liegt, als wenn er einzig als klinisch-psychologisches Experiment gedeutet würde.

Eines ersehen wir aber in allen Werken sogleich, Hauptmann war Dichter, vor allem Dichter, der uns aus seinen Erlebnissen und Empfindungen sprach, aus seinen Gedanken, die sich für ihn zu Geschöpfen steigerten, ihm dem wirklich „ein Gott zu sagen gab, wie sehr die Menschen leiden“.

Dieser Drang nach Gestaltung des Gedachten und Geschauten ist es wohl gewesen, der den jungen Hauptmann zum Bildnertum trieb: Menschen zu schaffen aus Ton und Erz wie Prometheus. Aber bald fühlte er sich zum geschriebenen Wort gedrängt und ließ — aus seiner unheroischen Seele — dieses bildnerische Bemühen im Dichterischen sich erst ganz finden; denn die Meister in Stein und Erz sind wild kriegerische Geister, ob es nun Michelangelo, Donatello, Sluters oder Rodin ist.

Wie seltsam sind im Leben die Formen der Begabung, die Grenzen der Talente gebunden! Größe der Vorstellungskraft, Macht der Beschwörung des Schöpferischen, so rund und voll die erschaffenen Gestalten auch sein mögen, so brennend die Probleme, die vor uns verhandelt, erlebt, erlitten, erstritten werden, alles kann in einem Menschen liegenund ihm doch das Letzte versagt bleiben: nicht nur Probleme zu nennen und zu umgrenzen, sondern auch noch den einen Schritt weiter zu tun, sie zu klären oder zu lösen.

Und hier stehen wir vor dem „Fall" Hauptmann.

Unbestreitbar: in ihm besitzen wir das größte und reichste Talent deutscher Dichtung seit Schiller, Goethe, Grillparzer und Kleist. Seine Gestalten, oder wenigstens erstaunlich viele von ihnen, sind wahrhaft untrennbarer, unnehmbarer Besitz alles dichterischen Bemühens und Interesses, und nicht allein des deutschen, geworden. Hannele Mattern, Rautendelein, Berndt, Rosine, Vockerat, Kramer, Geyer, die Weber — viele, viele drängen sich heran, genannt zu sein.

Fragen wir aber weiter — so primitiv und unzureichend solche Fragen stets sind —, fragen wir nach den Problemen selbst, die hinter all diesen Gestalten stehen, so müssen wir gestehen, daß es wohl viele Fragen sind, die Hauptmann und seine Zeit, die Menschen von 1880 bis heute, bewegen: soziale, sozialistische, psychologische; manchmal ein Lossteuern nach den dunklen Fragen des Woher und Wohin, umwittert von allen Lichtern des Mystischen. Wie packend aber auch die Situationen geschildert werden, wie sehr uns diese Probleme und Konflikte in ihren Bann ziehen, Antworten auf alle aufgeworfenen Fragen fallen nicht, und wären diese auch noch so schwankend und trostlos. Es ist stets so, wie die Schlußworte des alten Kramer lauten: „Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse. .. Von irdischen Festen ist es nicht, der Himmel … ist es nicht, das ist es nicht und jenes ist es nicht… Aber was wird es wohl sein am Ende?“ Manchmal scheint es fast, als wollte alles nur in unklarer Mystik und Gefühl untergehen: man denke an „Die versunkene Glocke", an „Pippa“, an „Eulenspiegel“. Es geht seinen Geschöpfen, wie es am deutlichsten Hannele Mattern erging, die in ihrer zitternden Hilflosigkeit hinübergeführt wurde, von Mächten, die über dieser Welt stehen. Hier erleben wir wortwörtlich, wie bei Pippa symbolisch, diesen großen Schritt zum Hinüber … Während die vielen anderen nur gerade zum Sprung ins „Dunkel“ (wie charakteristisch hier!) ansetzen, wie etwa Henschel, Schilling, Arnold Kramer, Vockerat. Der Traum (oder das Märchen?, oder der Wachtraum?) soll in den letzten Möglichkeiten die Welt der Metaphysik ersetzen, die bei Hauptmann zu einer Metaphysik des Vorletzten wird (wie etwa in „Pippa“). Mit reiner Ratio kommt Hauptmann nicht aus, an ihr verzweifelt Kramer, erblindet Hellriegel, stirbt Huhn, oder geht klagend zugrunde wie der Glockengießer oder der arme Kaiser Montezuma. Man fühlt sich an die Worte des Aristoteles erinnert, alles sind eben nur Numina, oder wie Goethe dies wieder neu wendete, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis bleibe.

Hier wird das Schlußstück aus „Hanneies Himmelfahrt“ für die nach Hauptmann ideale metaphysische Möglichkeit des Wandels, die in unsere „beste aller Welten“ hineinragt, wie eine irdische Wendung im „Crampton“ gegeben ist, da die Tochter dem Vater ein Lebensmärchen aufbaut wie die Mutter den Gabentisch am Weihnachtsabend.

Die Gegenseite sozusagen gibt Hauptmann in dem irren, wilden Schrei der Verzweiflung, den wir bei Dorothea Angermann erleben, bei Berndt Rosine und der alten Frau John in den „Ratten“. Fast grillparzerisch erscheint uns dann die Mutter Wulfen und ihre Bande im „Biberpelz“, welches Stück, so betrachtet, wie ein Gegenstück zu Grillparzers „Weh dem, der lügt“ wird.

Wie weit ist doch Hauptmann von dein großen Vorbild seiner Jugend, Ibsen, entfernt. Ibsen läßt den Bildhauer Rubeck jenen dunklen Weg ins Metaphysische sichtbarlich schreiten, jenen Weg, den Sollneß nicht wagte, den Almer und sein Eyolf nicht erreichten, den Brand noch im Untergang ertrotzen wollte, den Peer Gynt zu umgehen versucht, ehe ihn der „Knopfgießer" erfaßt, jenes Ziel, nach dessen Erreichen sich des Apostaten irrende Seele die Flügel wund schlug. Wohl scheint bei Ibsen oft manches eng, bürgerlich möchte man fast sagen, aber die letzten Schleier schimmern vor unserem Blick im halben Dunkel und weisen uns das endlich erreichte, das letzte Ziel, wo die Hüllen sinken und in der Apokalypsis das große Geheimnis aufblüht und Erkenntnis und Ereignis wird.

Bei Hauptmann aber stehen wir selten berührt nach dem Erlebnis der Dichtung immer noch vor den äußeren Mauern des Mysteriums; die Tore sind im Dunkel und man kann nicht sehen, ob offen oder geschlossen. Der Dichter entläßt uns, schickt uns einfach fort. Er geht zu neuen, anderen Werken und führt auch hier wieder alle, die ihm folgen wollen, wieder bis zu eben den gleichen Punkten. Und so in der langen Reihe seiner Werke.

1st es nun Ziellosigkeit, die sich hier halb verbirgt, halb eingestanden anhält?

Es ist Entscheidungslosigkeit! Es ist eine innere Schwäche hinter der strahlenden 'Fassade. Es steckte vielleicht mehr Crampton in Hauptmann, als man ahnen kann.

Dies ist ein Vorwurf. Und kein geringer. Er trifft aber nicht den Dichter und Gestalter, er trifft einzig den innersten Menschen und Denker in Hauptmann. Es ist ja letzten Endes nicht entscheidend, was der Mensch in Stunden der Vision, des erschütternden Erlebens und Erfühlens, in Wort, Gleichnis und Personifikation auszudrücken wagt und vermag. Vielmehr: wichtig ist die Fragestellung des einzelnen nach den letzten Dingen, sozusagen nach der Eschatologie seiner Person. Es ist daher absolut nicht gleichgültig, wie der heute vielleicht bedeutendste und persönlichste Dramatiker seit Ibsen, Strindberg, Maeterlink und neben Shaw, hier besteht.

Wir alle wissen, wie sehr der Welt die Liebe abhanden kommt, wie sehr alle Leiden und nicht zuletzt die unserer Zeit, an der Trägheit des Herzens gelegen sind. Wenn wir so die Dinge betrachten, erleben wir alle unsere unendlichen Irrungen und Verwirrungen dieses Daseins in dem gewaltigen Werk des Dichters doppelt deutlich und klar — aber nur anklingend.

Wohl denen, die hinübergeführt werden in das Land der Geborgenheit, zu dem Hannele Mattern aufsteigt, oder wenigstens glücklich, die finden, was Crampton fand, und die, nicht wie die beiden Stromer Schluck und Jau, von allen gehöhnt und getäuscht werden und denen man das Glück als Traum und Narrenspiel gewährt.

Es ist ein Großes, allen zu sagen: Seid wie der „Lehrer“ Gottwald oder wie Cramptons verstehende Tochter, wenn ihr nicht sein könnt, wie es Ottegebe war. Es ist ein Großes, aber es ist zu wenig, und das ist der unabwendbare Vorwurf, der den Dichter trifft und der besteht.

Es geht im Leben nicht wie im „Festspiel“, wo der Dichter sozusagen der Stellvertreter Gottes ist, als der er sich auch hinter Wann verbirgt und als der sich der Priester in der „Iphigenie in Delphi“ deutet. Hauptmann wollte vielleicht wie Goethe sein; aber es ging ihm eben bei allem Bemühen nicht anders: er sah von ferne ihm nur manchmal fast ähnlich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung