Der Dichter Döblin und die Gans

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Porträt zum 50. Todestag.

Hochberühmt und kaum gelesen, "ungekröntester Dichterfürst in preisfreudigster Zeit", wie ihn Ludwig Marcuse genannt hat - so führt Alfred Döblin, in allen Satteln gerechter Epiker von proteischer Verwandlungskunst, visionärer Gestalter kollektiver Umwälzungen und Zwänge der modernen Massengesellschaft, sozialer Revolutionär und vor allem einer der bedeutendsten Erneuerer des deutschen Romans im 20. Jahrhundert, noch heute, 50 Jahre nach seinem Tod, ein Dasein mehr im Bewusstsein der Literaturwissenschaftler als einer breiten Leserschaft. Das zeigte sich auch unlängst bei den Feldkircher Literaturtagen zum Thema Döblin.

"Berlin Alexanderplatz"

Meist ist es nur der (1929 erstmals erschienene) Roman Berlin Alexanderplatz, jene in einem schillernd-breiten, den inneren Monolog stark miteinbeziehenden Kaleidoskopstil erzählte Geschichte des aus äußeren Umständen straffällig gewordenen Straßenhändlers Franz Biberkopf, der mit Döblins Namen in Verbindung gebracht wird. Dabei zeugen die zahllosen Romane, Novellen, Erzählungen, vor allem aber auch die philosophischen und literaturtheoretischen Abhandlungen und Schriften des Berliner Nervenarztes und später von den Nazis unstet in alle Welt vertriebenen Emigranten von einem Schriftstellerleben, das in keinem Abschnitt sich selbst genügte und dem Stillstand verfiel, sondern sich buchstäblich mit Leib und Seele der Erweiterung des menschlichen Erlebnis- und Bewusstseinsraumes und seiner künstlerischen Mitteilbarkeit verschrieben hatte.

Die dabei vorgenommenen denkerischen und dichterischen Wandlungen machten den ohnehin widerspenstigen Schriftsteller einer auf klare Fronten, einfache Strukturen und überschaubare Zuordnungen geeichten literarischen Öffentlichkeit von vornherein suspekt. Günter Grass, der Döblin ausdrücklich als seinen Lehrer bezeichnet, hat den Zustand treffend und knapp beschrieben: "Den progressiven Linken war er zu katholisch, den Katholiken zu anarchistisch, den Moralisten versagte er handfeste Thesen, fürs Nachtprogramm zu unelegant, war dem Schulfunk zu vulgär … Der Wert Döblins wurde und wird nicht notiert."

Traumata der Kindheit

Der Aufsatz, dem dieses Zitat entnommen ist, steht wie eine Präambel der verbrieften Ruhmlosigkeit in einer Sammlung biografischer Selbsterkundungen, die Döblin, 1878 geboren, erst spät, als Fünfzigjähriger, begonnen hat. Wie Kafkas Anklage-Brief an den Vater in Fortsetzungen liest sich die immer wieder aufgenommene Philippika gegen den Vater, der den Zehnjährigen inmitten einer vielköpfigen Familie in Stettin einst im Stich gelassen hatte und mit einer jungen Geliebten nach Amerika durchgebrannt war.

In seinem Meisterwerk Berlin Alexanderplatz stellt Döblin männliche Treulosigkeit in Gestalt des mörderischen Ganovenfreundes Reinhold mit aller epischen Drastik an den Pranger. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle seiner so gestrengen wie erwerbssüchtigen Mutter indes vermied Döblin, obwohl er durch ihre kunstfeindliche Erziehung als Autor zeitlebens ein schlechtes Gewissen davontrug. Den immer aufs neue hervorbrechenden Traumatisierungen der Kindheit wich auch der Nervenarzt Döblin aus - sich hatte er nie einer Selbstanalyse unterzogen.

Umso weiter gespannt war der geschichtliche und geografische Bogen des Romanciers Döblin: vom Mittelalter (Wallenstein) über das Ende des deutschen Kaiserreichs (November 1918) bis zur späten Heimkehrerproblematik des Emigranten (in dem noch immer in seinem Wert umstrittenen Roman Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende) einerseits, vom kaiserlichen China (Die drei Sprünge des Wang-lun) über das indische Bergland (Manas) bis in die Urwälder Südamerikas (Amazonas-Trilogie) anderseits.

Negative Utopie

Damit nicht genug: In dem 1924 erschienenen Romanfresko Berge, Meere und Giganten schickt der Autor seine gewaltige epische Phantasie in eine schwarze Zukunft voll übermächtiger Technik und kriegerisch entfesselter Menschenkollektive. In dieser negativen Utopie wird der Fortschrittsmythos zerquetscht: Übermenschen werden gezüchtet, die Enteisung Grönlands herbeigeführt - und Selbstmordattentäter verbreiten Panik durch Terroranschläge:

In Antwerpen waren eines Tages alle Schalter der Zentralstadt zerstört. Der Name Tarquinasch war auf allen Lippen. Man fand den Mann verkohlt zwischen den Leitungen eines Hauptkraftspenders, den er damit zerstört hatte.

Begonnen hatte Döblin 1913 als Expressionist mit der Novellette Die Ermordung einer Butterblume, in der in harmlos scheinender Groteske der präfaschistische Charakter des deutschen Spießers figuriert wird: Das achtlose Köpfen eines Löwenzahns steigert sich da zum phyllophagen Blutrausch, so wie der Größenwahn einen Minsker Eigenbrötler, der sich in Der Ausbruch des Vesuvs als dessen Brandstifter ausgibt, schließlich zu dem monströsen Revanchisten-Projekt treibt, "berühmte alte Schlachten rückgängig zu machen".

Blutrausch & Größenwahn

In seinen frühen Romanen nehmen die mit expressionistischer Dynamik gestalteten Massenszenen breiten Raum ein. In Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) werden die inneren Wandlungen eines Revolutionärs (im historischen Rahmen des Ketzeraufstands in China 1774) mit den übermächtigen äußeren Vorgängen des Kollektivs kontrastiert:

Einzelne Menschen schossen wie Bälle aus den Seitengassen. Dann warfen die Straßen größere Fetzen einer Menschenmenge über den ungeheuren Platz. Schließlich stand diese Menge selbst, gleichzeitig aus allen umliegenden Straßen aufwachsend, vor der stummen Präfektur, dem Gefängnis, der Stadtkaserne. Trübe Laternen glommen verstreut, schwammen wie Boote über eine Brandung.

Auch in seinem Wallenstein (1920) beherrschen Masse und Macht, trotz der Auseinandersetzung zwischen einem kriegslüsternen Wallenstein und dem einsichtsvolleren Kaiser Ferdinand, das Geschehen. "Es gibt kein Individual-Ich, sondern nur eine Gruppenseele mit Partialnuancen!", lautete die theoretische Absichtserklärung des jungen Döblin, die er in den zwanziger Jahren, spätestens seit Berlin Alexanderplatz, radikal umkehrte.

Theaterkritiken und Politik

Anschaulich wird das auch an seinen zwischen 1921 und 1924 entstandenen Theaterkritiken, die postum unter dem Titel Ein Kerl muß eine Meinung haben veröffentlicht wurden. An ihnen ist im Kleinen ablesbar, was den Dichter Döblin im Großen bewegte: Armut, Elend und soziale Ungerechtigkeit auf der einen, Machtanspruch und Privilegienherrschaft auf der anderen Seite, Scheinruhe und Scheinordnung einer von überkommenen politischen Strukturen nie freigewordenen Weimarer Republik ebenso wie "Lutschbonbonmoral" (wie er es nannte) einer bürgerlichen Kunstauffassung. "Es lohnt nicht über das Berliner Kunstleben und das Theater dieser Tage zu berichten", beginnt beispielsweise eine mit Kritischer Verfassungstag überschriebene Besprechung vom 16. August 1923:

Es hat keiner Interesse daran, dass in der Tribüne zum tausendsten Male Sternheims "Hose" gespielt wird, im Berliner Theater die Operette "Mädl", im Komödienhaus die "Causa Keller", im Kleinen Theater, die "Frau ohne Bedeutung" …

Dagegen hat sich die Aufmerksamkeit notgedrungen gewissen naheliegenden Dingen zugewandt. Im Norden begegnete man immer wieder diskutierenden Gruppen. In der Mitte bald Frauen, die ihre leeren Körbe zeigten und erregt klagten, für Geld nichts kaufen zu können, bald Arbeiter, die die angezeigten Preise mit ihren Löhnen verglichen …"

Literatur als Zeitkritik

Einen Unterschied zwischen Bühne und Alltag wollte Döblin nicht gelten lassen. Vielmehr wollte er ernst machen mit der Verantwortlichkeit von Literatur für die eigene Zeit und Gesellschaft. So lesen sich denn diese höchst amüsanten, pointierten, von Witz und Ironie sprühenden Rezensionen wie Vorarbeiten für den großen zeitkritischen Roman Berlin Alexanderplatz. Sie sind neben ihrem literarischen und Unterhaltungswert vor allem auch ein wichtiges historisches Dokument, das die erste Hälfte der politisch so brisanten zwanziger Jahre im Großstadtschungel Berlins unmittelbar und eigenwillig wiedergibt.

Alfred Döblins letzte anderthalb Lebensjahrzehnte waren verdüstert durch Flucht, Exilnot, Erfolglosigkeit, vor allem aber durch Krankheit und den tragischen Freitod des Sohnes. Der immer schon religiös suchende, von Spinoza beeinflusste Jude Döblin ließ sich 1941 katholisch taufen und veröffentlichte 1946 das Glaubensgespräch Der unsterbliche Mensch. Im Nachkriegsdeutschland wurde er nicht mehr heimisch. Er verließ es und kam nur wieder zum Sterben: am 26. Juni 1957 im badischen Emmendingen.

Katholisch getauft

In einer Rede vor der Mainzer Akademie für Wissenschaften und Literatur (die er selbst mitbegründete) hat Döblin einmal gegen Ende seines Lebens das Wesen der Dichtung zu bestimmen versucht. Der Dichter, so sagte er dort sinngemäß in einem seiner unnachahmlichen Bilder, sei eine Gans, die kräftig mit den Flügeln schlägt, sich aber trotz allem nicht vom Boden der Realität abzuheben vermag. Mit dem Dichter Döblin verglichen erweisen sich im Rückblick so manche seiner schriftstellernden Zeitgenossen als recht unbedarfte Hühner.

Der Autor war Chefdramaturg an verschiedenen Theatern und ist freier Publizist und Literaturkritiker.

Leben und Werk

In Erzählungen und Selbstzeugnissen

Von Alfred Döblin

Artemis und Winkler, Düsseldorf 2007

220 Seiten, gebunden, € 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung