6538797-1946_29_13.jpg
Digital In Arbeit

Der Diogenes von Wien

Werbung
Werbung
Werbung

Ein jeder Österreicher weiß, was er sich unter einem „Narrendattel“ vorzustellen hat, aber wie bei so mancher interessanten Erscheinung dieser Welt ist die Vorstellung oft leichter als die Definition. Auch die etymologische Ableitung des Wortes bleibt umistritten. Manche sehen in dem zweiten Bestandteil des Wortes eine Abkürzung des „Thaddädel“, bekanntlich einer der komischen Figuren der alten Wiener Volks-komödie. Andere suchen dahinter eine Ver-bailhornung von „Data“-„Vaterl“. Danach wäre der „Narrendattel“ ein älterer, einfältiger oder zumindest einfältig tuender Mann, der, wie die Weisen des Altertums und die Hofnarren des Mittelalters, unter der Maske angenommener Torheit seine wahre Meinung zum besten gibt. Darum ist auch der Narrendattel eine tief im österreichischen Volkstum verwurzelte Gestalt, in Zeiten der Gewalt, politischer und sozialer Spannungen der unbestechliche Herold und das zuverlässige Sprachrohr der Volksgesinnung.

Wie die Welt weiß, ist der Wiener, der Österreicher, kein zünftiger Revolutionär. Er hält nicht viel von großen Gesten, Fahnenschwung und bröckligen Barrikaden.

Aber er schickt gegen jede Macht, die si-'nem Wesen Zwang antun will, den „Narrendattel“ aus. In wechselnder Gestak, als Mann oder Frau. Als Volkssänger, als Stand-lerin, als Straßenkehrer, als Wirt erscheint er und wirft mit listigem Augenzwinkern und breitem Lädieln sein wie die Pfeile Apolls unfehlbar treffendes Wahrwort unter die Menge. Wer ihn stellen will, vor dem verbeugt er sich höflich: „Schaffen, bitte?“ und „eh' nix g'sagt!“ Dann verschwindet er wieder hinter Haustoren und in Vorstadtgassen, unbezwinglich wie Diogenes vor seiner Tonne und ungreifbar wie die öffentliche Meinung, die er verkörpert.

Zur Zeit Maria Theresias gab es in Wien einen „Narrendattel“, der Löschinger oder Löchinger hieß, von' Beruf Hausdiener und Austräger in einem Geschäft Unter den Tuchlauben. Seine nicht eben feinen Witze, die sich besonders gegen „geschminkte Frauenzimmer“ jeden Standes wendeten, sind nicht weiter interessant. Aber der Mann war ein österreichischer Patriot von echter Prägung. Denn als Kurfürst Karl Albert von Bayern, von böhmischen Adeligen umschmeichelt, in Prag einzog, als Linz verlorenging und Karl Albert in Frankfurt seine freilich nur kurzbefristete Kaiserwürde empfing und auch in Wien so manche wankelmütige Opportunisten nach München blickten, da zeigte sich Lösch-inger in voller Glorie: In blau-weiß gestreiften Pluderhosen, roter Joppe, eine diademartige rote Samtmütze auf dem kahlen Haupt, lustwandelte er gravitätisch durch die Stadt.

„Was ist denn los, Narrendattel?“ fragten die Bekannten.

„Wer ist hier ein Dattel?“ gab er erbost zur Antwort. „Ich bin der römisch-böhmische, boarische Kurnarr und ihr seids die Datteln, kemmts mit ins Loch, wohin ihr gehörts!“

Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Gegen die große Kaiserin, selbst ein herrliches Stück echt Wiener Volkstums, brachte er niemals seine Satiren vor.

Als aber ihr hochherziger Sohn Josef II. mit seinen überhasteten Reformen oft über seine idealen Ziele schoß, da ließ sich der Narrendattel — wir wissen nicht, ob es noch Löschinger war — wieder vernehmen. Bekanntlich hatte der Kaiser im Zug seiner Sparmaßnahmen auch die Zahl der Wachskerzen, die beim Gottesdienst in den Kirchen brennen durften, genau bestimmt und eingeschränkt: „Wißt's Leutein, wo's noch a Wachskerzen gibt?“ sagte er zu seinen Zuhörern. „In der zweiten Etage in der Burg“. (Dort lag das Arbeitszimmer Josefs.) Und bedauernd fügte er hinzu: „Aber grad a Kirchenlicht is es net!“

Während und vor der Zeit des Wiener Kongresses figurierte als berühmter Wiener Narrendattel ein gewisser Johann Lochner, ein Gastwirt, der in Lichtental in der Badgasse seine Wirtschaft betrieb. Er war ein Original und ein gescheiter Kopf, denn er verstand es sehr wohl, seine Urwüchsigkeit geschäftsmäßig zu verwerten und hohe und höchste Herren, die in seinem recht bescheidenen Lokal einkehrten — er besaß nur zehn Tische, drei Bänke, 27 Sessel und „ein Kanapee für feine Gäste“ —, durch wirkliche oder fingierte Grobheiten zu unterhalten. In der Wiener Kongreßzeit blühte sein Weizen. Mancherlei dairmals kursierende Witze wurden ihm — mit Recht oder Unrecht — zugeschrieben. Man wußte natürlich, daß einige gekrönte Teilnehmer des Kongresses nicht gerade ein asketisches Leben führten. Der Narrendattel meinte: „Der König von Dänemark ißt für alle, der König von Preußen sauft für alle, der Kaiser von Rußland liebt für alle und unser guter Kaiser Franz zahlt für alle!“ Ganz Wien lachte, am herzlichsten die Betroffenen. Einige wollten darin eine vielleicht ungewollte Kennzeichnung der Stellung Österreichs im europäischen Mächtekonzert sehen. Auch das Witzwort anläßlich der Heirat Napoleons mit der Erzherzogin Maria Louise: „Ui jegerl, jetzt ist's aus mit dem Napolium, jetzt hat er sich Österreich auf den Buckel geladen, jetzt geht's mit ihm zu Ende!“ sollte angeblich vom Narrendattel stammen. Auch dieses scheinbare Bonmot ist eine warnende Prophezeihung für alle, die gewaltsam in die österreichischen Belange eingriffen.

Eine große Reklame bedeutete es für Hans Lochner-Narrendattel, daß auch der berühmte Eipeldauer ihn in seinen Briefen erwähnte und sogar ein vielstrophiges Lied zu seiner Verherrlichung gedichtet wurde:

... Gäste von verschiedenem Stand und Rang Machen oft dem Narrendattel bang, Frauenzimmer und vornehme Herr'n Wollen vom Narrendattel Witze hör'n. Allen sagt er unverdrossen Rund heraus viel Narrenpossen. Jedem hängt er g'wiß ein Klampfel an, So gut er's ihm anhängen kann....

Im Winter 1819 erlag Löchner einem Schlaganfall und wurde unter großer Anteilnahme der Wiener auf dem Währinger Friedhof beigesetzt. Der Beiname „der Diogenes von' Wien“, den ihm studentische Stammgäste beilegten, paßte nicht recht auf ihn, denn er hinterließ seinen Erben zwei Häuser und eine nette Summe Bargeld. Er selbst hatte diesen Titel abgelehnt. „Wer ist denn der Herr Diokennes? Ich kenn' ihn net.“ Und als man ihm die Geschichte des zynischen Philosophen erzählte, meinte er kopfschüttelnd: „I hätt mich mei Lebtaglang vor kein leeres Faß g'legt!“

In seinem wundervollen Märchenspiel: „Die gefesselte Phantasie“ hat Ferdinand Raimund in der Gestalt des volkstümlich derben Harfenisten Nachtigall dem Narrendattel ein Denkmal gesetzt.

In den nachfolgenden zwanzig Jahren ersdiienen in Wien imimver wieder „Narrendatteln“, die aber nicht an den Ruhm des Lochner-Hansel heranreichten. Im Sturmjahr 148 gab es auf der Wieden einen Hausmeister, der Fleckenpüchel hieß oder so genannt wurde. Diesem Mann, der in den Kreisen der Nationalgardisten als „schwarzgelber Reaktionär“ galt, wurden allerhand Narrendatteleien zugeschoben. Zuverlässige Achtundvierziger wie Eduard Bäuernfeld und der Tiroler Adolf Pichler wissen davon zu berichten, daß viele Wiener vom Grund in der schwarzrotgoldenen Trikolore kein Freiheitssymbol, sondern ein preußisch-demagogisches Abzeichen sahen und sich dementsprechend verhielten. Auch Herr Fleckenpüchel war ein Original, nicht von gemütlich-rundlicher Statur wie Lochner, sondern mager und spitznasig mit „einfältig offenstehendem Mund und alberner Visage.“ Aber aus diesem Mund kamen hanenbüchene Wahrheiten. Als in den Oktobertagen die Truppen des Generals Win-disdlgratz Wien belagerten und Kartätschen auf die aufständische Stadt niedergingen, versteckten sich ein paar Studenten im Hauskeller in der Igelgasse, in der später Johann Strauß der Jüngere sich sein Haus baute. Fleckenpüchel kam mit einem Licht nachschauen und tat beim Anblick der Legionäre mit den zerbeulten Kalabresern und zerknitterten Schärpen sehr erschrocken:

„O mei, so große Hut' auf so kleinen Hirnschalen! Und Bauchweh habts wohl auch, weil Ihr so breite Leibbinden tragts. Merkts es Euch, Ihr ,Lekionarren', wir Wiener mögen das zweifarbige Tuch (Anspielung auf die kaiserlichen Soldaten) alleweil lieber als das dreiflittrige Gewurl!“ Diese kleine Kapuzinerpredigt wurde in ganz Wien bekannt und beladit. Als echter, wackerer Wiener vernaderte aber Fleckenpüchel die Studenten nicht, sondern ließ sie mit einigen Kraftsprüdieln laufen. Er starb hochbetagt erst in den siebziger Jahren und sagte kurz vor seinem Ende: „Mir scheint, unser Herrgott will nach so viel g'scheiten Leuten auch einmal an Narrendattel bei sich sehen.“

Der Narrendattel erschien nach Beriditen von Augen- und Ohrenzeugen im Frühjahr 1938. In Gestalt eines alten Weinbauern stieg er von den Weinleiten von Sievering oder Nußdorf hinab in die Stadt, wo große Transparente prangten: Die Ostmark ist erlöst! Mühselig buchstabierte das Bäuerlein die Inschriften und sagte dann kopfschüttelnd: „Ja san denn die Preußen und die Nazi wieder abgezogen?“ Unangefochten verschwand er in der Menge. Er ist dann sechs Jahre lang in Wien unter vielen Gestalten zu sehen und zu hören gewesen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung