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Der Dnjepr / Porträt eines Stromes

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Aus den Morästen und Sumpfwiesen des nördlichen Landes sammelt er die Gerinne. Er durchschneidet das weite Land von Mitternacht nach Mittag, trennt die Wirrnis grünen Schilfes und unabsehbarer Sümpfe vom baumbestandenen Hügelland und verliert sich mit seinen Armen und Kanälen in die Fruchtbarkeit der schwarzen Erde. Mit schäumendem Schwall überspült er die hemmenden Barrieren der Stromschnellen und verströmt sich schließlich in geruhsamer Fülle dem Schwarzen Meer.

Durch nachtdunkle Wälder fließt er, nodi jung und in Furten durchschreitbar, oben im Norden, wo nur die kargen Föhren wachsen und die schütteren Birken die langen Winter ertragen müssen. An Städten kommt er vorbei, an alten, mauer-umgebenen und kuppelgekrönten, oft zerstörten und stets neuerstandenen.

Durch weite Wiesengründe trägt er hier seine dunklen Wasser. In breitgeschwungenen Mäandern muß er sich seinen Weg suchen, der meerwärts führt, sich aber zunächst im Sandgehügel des unabsehbaren Festlandes zu verlieren droht. Nicht einmal die Wolken, die weiß und eilig den Himmel durdi-ziehen, bringen hieher die Kunde von der See, so weit ist sie noch weg. Schmale Roggenfelder ziehen die flachen Hänge hinan und rosenrot blüht der Buchweizen über dem mageren, sandigen Boden.

Dann aber Versinkt der Fluß in die grundlose Schwärze der Moorböden und rundum ist nichts wie Sumpf und gurgelnder Morast. Kein Haus weitum und kein Pfad. Nur mit dem seiditen Boot, mit dem gleitenden Floß, kommt man in diese Einöden, in denen die Sumpfvögel horsten und brüten. Graue Reiher stehen im Schilf-gehälm und braune Fischadler fallen auf dem Wasser ein, um ihre Beute zu schlagen. Im Erlengestänge der Uferwälder bauen die Biber ihre Burgen, in langen Ketten steigen die Enten auf und im Weidengestrüpp der Auen zieht der hohe Elch auf seinen Wechseln.

Dann biegt des Flusses Lauf weit nach Osten aus, wie es alle Flußläufe tun, die aus den Waldgebieten ihr Wasser in die Ebenen des Südens tragen und ins Schwarze Meer münden lassen. In dieser Landschaft, die den Fluß zum Strom wandelt, löst das hellere Grün der Eichen, Buchen und Linden die Düsternis der Nadelwälder ab. Der milde Humusboden schenkt hier den

Menschen, was sie ihm weiter nördlich mühsam abringen müssen Wogende Weizenfelder zeichnen ihre hellen Streifen in die freundlichere Landsdiaft, und die Winter sind zwar bitter kalt hier im Anhauch der Steppenwinde, aber sie lasten nicht so lange auf dem Lebendigen, wie in den rauhen Hügelleiten, aus deren Flanken die Quellen des Flusses brechen.

Nun trägt der breitgewordene Strom seine lehmgelben Wasser an die weite Steppe heran, durd: deren einsame Wildnis aus wogendem Silbergras und dornigen Wildweidiselbüschen die kühnen Kosaken unserer Jugendbücher ritten, wo heute die großräderigen Traktoren die schier endlosen Ackerstreifen der Kolchose auf und ab fahren. Der sdiwarze Boden, den die Sommerhitze in handbreite Spalten zerklüftet und die heftigen Gußregen in schlammigen Morast verwandeln, bringt — wenn Gott das Jahr segnet — reiche Ernte an Weizen und Zuckerrüben. Neben die sagenumwobenen Grabhügel der Skythenfürsten sind betonene Silos und weitläufige Zuckerfabriken getreten, als Symbole einer neuen Entwicklung auf uraltem Siedel- und Durchzugsland. Wenn die Quellbäche des Stromes, weit oben im Lehmgehügel der Waldai-Hänge, noch eisgebunden und schneevergraben sind, läßt der Frühlingswind hier bereits die weißen Anemonen, die gelben Fingerkräuter und die violetten Osterglocken an den Lößhügeln erblühen, die einen blumensatten und stürmischen Frühling einläuten, dem ein glutheißer, sengender Sommer folgt. In ihm vergilben die Steppenwiesen zu grausilbernen, dürren Heideflächen, die nur aus dem Herbstregen noch einmal ein wenig Kraft schöpfen, um wieder zu ergrünen, ehe der Winter sie mit seinen tosenden Schneestürmen überfällt, die aus Asiens Weiten herüberkommen und alles Leben zum Erstarren bringen!

Stadtbilder am Ufer

Das ist die Spannweite dieses Stromes, der nach der Wolga der längste und mächtigste im europäischen Rußland ist. An seinen Ufern stehen alle die Städte, die Bedeutung haben in der vielhundertjährigen und wechselvollen Geschichte dieses Landes. Am Oberlauf Smolensk, mauerumgürtet und überragt von den goldenen Kuppeln der weißtürmigen Auferstehungskathedrale, die auch aus dem zerstörenden Toben des letzten Krieges unversehrt hervorging, in ihrem Innern den zehn Meter hohen Ikonostat aus kunstvoll geschnitztem

Lindenholz bergend. Allein die Geschichte dieser wichtigen und einst so schönen Stadt, die auf den braunen Hügeln über dem Dnjepr liegt, ist kennzeichnend für Rußlands Gang durch die Geschidite. Olcg, der triumphierende Varägerfürst, der Kiew eroberte und damit das erste mächtige Reich auf russischem Boden schuf, eroberte, dem Lauf des Dnjepr folgend, zuerst Smolensk. Tartaren- und Mongolenstürme brachen sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder an den festen Mauern der Stadt, bis dann der Eroberer aus dem Westen kam: die Litauer nahmen die Stadt und führten sie zu hoher Blüte. Im Wechsel des politischen Bildes war Smolensk dann moskowitisch, polnisch und schließlich russisch. Als Napoleon im Jahre 1812 gegen Moskau zog. brannte, am 5 und 6. August, der größte Teil der Stadt nieder, aber noch im gleichen Jahre, im November, zogen die Reste der französischen Armee wiederum durch Smolensk, westwärts nun in langer, erbarmungsloser Katastrophe. Die deutsche Prppaganda hat sich wild gegen jedes Gleichnis gewehrt, das man aus dem napoleonischen Abenteuer auf das

hitlerische anwenden wollte, aber es ist dennodi dabei geblieben, daß Smolensk — wiederum eine leergebrannte und bombenzerwühlte Stadt — Wendepunkt und Schicksal auch der Aggression Hitlers wurde!

Aus dem: wald- und seenreichen weißrussischen Raum bringt die Beresina ihre grünen Wasser dem Dnjepr zu und aus der traurigen Düsternis der Sumpfweiten des Rokitno strömt der Pripet heran Kiew liegt am Ufer des breitgewordenen Stromes, vor einem Jahrtausend Zentrum eines mächtigen Reiches, das Oleg eroberte, Igor erweiterte und in ewigen Kämpfen erhielt und das sich unter ihm und seiner Gattin und Nachfolgerin, der Heiligen Sophia, dem orientalischen Christentum Byzanz' erschloß. Welch unerhörte Welt geistiger Spannweiten und kraftvoller Gläubigkeit erwuchs damals aus der Vermählung morgenländischer Pracht und Weltweisheit, slawischer Hingebung und Seelentiefe und den Nachwirkungen des kühnen Eroberertums der Varäger! Die uralten Heiligtümer Kiews, der „Mutter der Städte“, blieben die festen Pole im Völkerziehen und Kriegstreiben von zehn Jahrhunderten. Aus den wilden Steppen des ukrainischen Zentrallandes sind wohlgeteilte und maschinenbestellte Weizen- und Rübenfelder geworden, die wilden Stromschnellen des unteren Dnjepr sind in gigantischen Kraftwerken nutzbar gemacht, kleine Dörfer und verschlafene Städtchen sind zu Riesenfabriken und Kombinaten gewandelt, aber in Kiew, über dem lehmgelben Wasser des Stromes, steht noch die“ Sophienkathedrale, die vor neunhundert Jahren der Großfürst Jaroslaw erbaute, als er die Petschenegen besiegt hatte. Die

Fresken aus dem byzantinischen Hofleben und das Madonnenbild der „unzerstörbaren Mauer“ sind Kunstdenkmäler aus solang vergangenen Zeiten, daß wir auch in Mitteleuropa nicht viel Gleichwertiges neben sie zu stellen haben. Sind auch die „Goldenen Tore“ zerfallen, die aus der gleichen Zeit stammten, und ist auch die Auferstehungskathedrale nur in ihren Grundmauern ein Bauwerk jener Epochen, so sind doch die Kellerzellen des „Lavra“ noch erhalten, des ältesten und ehrwürdigsten der russischen Klöster, das einst direkt dem Patriarchen unterstand und jährlich von vielen Hunderttausenden von Pilgern besucht wurde. Die Stadt der hundert Kirchen und vielen Kuppeln ist damals Glanbenszentrum geworden und es auch geblieben: „Die Sprache deiner Zunge führt dich nach Kiew“, sagt ein russisdies Sprichwort, wie wir von Rom sagen, daß alle Wege dort münden.

Unzählige Kriege umbrandeten später diese stolze Stadt, und der unselige letzte hat vieles zerstört, was bis dahin erhalten geblieben war. Nur wie ein ferner Traum erklingt noch die Erinnerung an die Hoch-

zeit des alten Reiches, da in der Lavra der Bruder Nestor jene Chronik begann, die das älteste Literaturdenkmal des ukrainischen Volkes und die einzige Aufzeichnung aus der Zeit der Kiewer Fürsten ist. Das Lavra-kloster wurde schließlich, als die moderne Zeit einzog, zum Invalidenheim bestimmt und die Überlieferung von Fürst Igors Heerfahrten verklang, gleich unserem Nibelungenlied, im Motorengedröhn einer unromantischen Epoche.

Die Schiffe aber, die heute, da auch die Umfahrt um die Stromschnellen von Sapo-rosje gebaut ist, ihren Weg mit den Dnjepr-wellen bis zum Schwarzen Meer nehmen können, folgen der gleichen Straße, die schon die Holzkähne der Kiewer Händler zogen, mit Waren aus Nowgorod an Bord, die man an den Flußklippen umladen mußte, und schließlich, der Schwarzen-Meer-Küste entlang, bis nach Konstantinopel brachte. Mit West und Ost trieb Kiew damals seinen Handel, von Regensburg bis ans jenseitige Ufer des Kaspisees, und Waren von der Ostseeküste wurden hier gegen solche aus Innerasien getauscht! Erst im Mongolensturm 1240 geht der Staat der Kiewer Rusj unter und der Dnjepr sieht, wie sooft nachher, das Bild der rauchenden und brennenden Ruinen des „östlichen Rom“ an seinen Ufern!

Weit nach Osten wölbt sich nun der Lauf des Stromes, in dessen Frühlingsfluten das ebene Land an seinen Ufern meilenweit ertrinkt, wenn die letzten Eisschollen dem Meere zugetrieben wurden. Dann dreht der Lauf wieder nach Westen und dem Meere zu, das der Strom ganz nahe der Mündung des Bug erreicht, mit dem er schon im Mittellauf durch einen Kanal verbunden ist. Im Liman von Cherson, der abgeschnürten Salzwasserlagune, verströmen die trüben

Fluten des großen Stromes, der das europl- Landschaften wie auch für den, der Raum ische Rußland vom Norden nach Süden und Geschick verknüpft sehen kann, ein durchzieht, ein Querschnitt durch seine Querschnitt durch seine große Geschichte.

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