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Der edle Coroju

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In S., einer kleinen Hafenstadt in den Donaumündungen, verschwand in alten Tagen einmal eine Geldsendung von 100 türkischen Piund. Der pensionierte Oberst Focul pflegte diese Summe von seinem Sohn, der auf einem türkischen Schiff diente, regelmäßig alle Vierteljahre zu erhalten. Diesmal war das Geld nicht eingetroffen, obwohl der „Türke“ die Abscndung bereits angekündigt hatte, und der Oberst ging kriegerisch energisch, mit allen alten Orden geschmückt, zum Postmeister, um Beschwerde einzulegen. Der Postmeister empfing ihn mit öliger Freundlichkeit, bedauerte den unerklärlichen Vorfall auf das tiefste, wurde etwas gereizt, als der Oberst auf allerhand Unregelmäßigkeiten hinwies, die in den letzten Jahren immer häufiger vorgekommen waren, und meinte schließlich, nicht ganz ohne Hohn, wenn es mit der Absendung des Geldes seine Richtigkeit habe, woran er aber zweifeln müsse, dann könne der Oberst sich ja an die vorgesetzte Postbehörde wenden; oder vielleicht lieber gleich an den edlen Coroju, den Freund aller armen Unterdrückten. Bei dem habe er möglicherweise sogar bessere Aussichten auf eine rasche Erledigung.

Damit hielt der Postmeister die Audienz für beendigt. Die Beamten und einige Leute in S., die alles gehört hatten, lächelten schadenfroh. Nur Ariadne, die Tochter des Postmeisters, die zwischen der Türe stand, schien mit dem Oberst zu fühlen, der nun davonging und unter Verwünschungen beteuerte, daß er, in seiner Armut und mit einem noch unversorgten jüngeren Sohn auf das Geld angewiesen, sich um sein Recht schon kümmern werde, und wenn er bis zum Minister, ja zum König selbst würde gehen müssen.

Am nächsten Tag lachte ganz S. über den veuückten Oberst, der immer wie das lebendige Gewissen der Stadt einherwandelte und überall nach dem Rechten sehen zu müssen glaubte. Aurel Madiva, der allgemein beliebte, zumindest bei den Häuptern der Stadt beliebte Postmeister, hatte ihm endlich einmal eine kräftige Abfuhr besorgt. Das mußte gefeiert werden, Madiva war der Held des Tages. Einmal warf einer seiner Eeamten die Frage auf: „Und was geschieht, wenn der Oberst in der Hauptstadt Gehör findet?“ — „Ausgeschlossen, ausgeschlossen“, hieß es im Chor, „das werden wir zu verhindern wissen.“

Drei Tage später, es ging schon auf Weihnachten zu und es war hochwinterlich kalt, kam ein Schlitten von der mehrere Kilometer entfernten Bahnstation und hielt in der frühen Dämmerung vor dem Postgebäude. Eine kleine, aber gebieterische Gestalt sprang ab, klopfte sich den Schnee vom Pelz, trat in den Amtsraum, nickte den Beamten leicht zu, „lassen Si* sich nicht stören, arbeiten Sie ruhig weiter!“, und verschwand in der Kanzlei des Postmeisters, aus der bald ein heftiges, aber leise geführtei Gespräch leider nur undeutlich zu hören war. Nach einigen Minuten flog die Türe auf und der Postmeister sagte mit belegter Stimme, indem er auf den Fremden wies: „Dieser Herr... Hofrat... Präsident... Exzellenz ...“ — „Lassen Sie das, Doktor Coroju, einfach Doktor Coroju“, unterbrach der Gast. — „Also, Herr Doktor Coroju hat die große Liebenswürdigkeit, vom Ministerium in der Hauptstadt ausgerechnet in unser kleinei S. zu kommen, um die Arbeit unseres Postamtes zu überprüfen. Es ist selbstverständlich, daß i c h dem Herrn Doktor alles zeige. Die Beamten können wie immer nach Dienstschluß fortgehen.“ Er machte eine Verbeugung um die andere und schien gänzlich verwirrt. — „Oh“, der Fremde lachte klangvoll, „ich will Sie nicht unnötig in Anspruch nehmen. Es wäre mir lieber, wenn einer der Herren Beamten sich mir zur Verfügung stellen wollte.“ Mit einem scharfen Blick überflog er die ihm zugekehrten Gesichter. Herr Aurel Madiva begann zu schwitzen und meinte besorgt, ei müsse doch nicht heute schon mit dieser langwierigen Arbeit begonnen werden, es sei auch gar nichti vorbereitet, und der Herr Doktor müsse doch müde von seiner Reise lein. Er werde gleich im Gasthof das beste Zimmer bestellen und heizen lassen und für abends bitte er den hohen Besuch, sein Gast zu sein, er wisse doch, wie stolz die Provinz auf ihre patriarchalischen Gebräuche sei.

In der einen Minute, die der Fremde zögerte, rief der Postmeister seine Tochter. Ariadne, ein schönes, dunkles Mädchen mit sanftem Gesicht, trat ein, Während der Vater mit kurzen Worten alles erklärte, richtete sie ihre Augen immer größer und erschrockener auf den Herrn aus der Haupstadt, endlich lächelte sie schüchtern und bat nun auch ihrerseits um die Ehre seines Besuches.

Ein wenig später, als Doktor Coroju es sich bereits im schönsten Zimmer des Gasthofes „Zur Stadt Trapezunt“, mit Balkon und Aussicht auf die schwarzwogende LInendlichkeit der Flußmündung, bequem machte, durcheilte der Bericht von seiner Ankunft den ganzen Ort, bei allen Freunden des Postmeisters Bestürzung weckend, bei manchen Eilfertigen oder Gerechteren und bei den Armen die Teilnahme für den Obersten steigernd. Der Oberst selbst erfuhr nichts. Erst als sein Sohn Michael, der junge Baumeister ohne Aufträge, wie die Mütter heiratsfähiger Töchter ihn spöttisch nannten, spätabends nach Hause kam, erzählte dieser ihm von dem Wunder. Denn ein Wunder mußte ts sein, ein phantastischer Zufall. Der Oberst hatte doch noch gar nicht an das Ministerium geschrieben. Nun freute er sich ehrlich über die Sorgsamkeit der Regierung und prophezeite seinem Sohn, daß sich bald alles zum Besseren wenden würde.

Abends hatte der Postmeister mehrere Größen von S. zu Gast, den Bankier, den Wirt, den Bürgermeister, den türkischen und den katholischen Geistlichen; der orthodoxe war nicht erschienen. Es gab auch einige reizvolle Frauen und Mädchen in schönen Toiletten, Ariadne war die schönste und stillste von allen. Das Fest war üppig, es war fast ein Gelage, es kam zu Trinksprüchen, und der Herr aus der Hauptstadt tat bei allem wacker Bescheid. Er war uch nicht böse, als man von Coroju, dem großen Räuber, zu erzählen begann, der eigentlich aus S. stamme. Ein armer Fischerbub soll er gewesen sein, ja, und in den letzten Jahren habe er das ganze Land unsicher gemacht, die Reichen geplündert, den Armen gegeben, na, es wird auch das meiste erfunden sein! Dann sei er gefangen worden, ein- oder zweimal entsprungen, mitsamt der Gefängniswache, jetzt habe man aber schon länger nichts mehr von ihm gehört. „Und nun kommen Sie zu uns!“ Doktor Coroju war gar nicht beleidigt, er lachte kräftig, oh ja, auch er habe von dem edlen Coroju gehört, es sei übrigens gar nicht unmöglich, daß eine Verwandtschaft bestünde, irgendwie entfernt, der Name sei nicht so selten. Als man gegen Morgen auseinanderging, waren alle betrunken, Doktor Coroju auch ein wenig. Er sah Ariadne, die ihm in den Mantel half, einen Augenblick lang nachdenklich an und sagte: „Du gefällst mir. Ich habe einmal ein ganz kleines Mädchen aus dem Wasser gezogen, das hatte auch solche Augen. Ein ganz kleines Mädchen. Vielleicht ist es beim Spielen hineingefallen. Oder war es des Meerkönigs Tochter? Wer weiß es?“ Ariadne wurde langsam rot, wollte etwas sagen, aber da waren alle Gäste schon fort.

Von diesem Tage an gab es Feste über Feste, die Häupter der Stadt bestürmten Doktor Coroju mit Einladungen, es war ein abgekartetes Spiel, man wollte ihn nicht zu Atem, nicht zur Arbeit kommen lassen. Und der Gefürchtete schien nichts zu merken und trieb fröhlich in dem Strudel mit. Weil gerade Weihnachten war, schien er Zeit zu haben, er aß und trank für zehn, versäumte keine Schlittenpartie, keine Bootsfahrt hinaus in den von Eisschollen klirrenden Hafen, auf seinen Wunsch mußten die Behörden aber auch rührende Bescherungen für die Waisenkinder, für die Ortsarmen und für die notleidenden Fischerfamilien veranstalten. Er regte den Bau eines neuen Schulgebäudei und einer Siedlung für die Hafenarbeiter ap, trieb alle zur Eile, nahm selbst die Grundsteinlegung vor, kümmerte sich darum, daß die Bauaufträge einem Einheimischen zufielen und lernte auf diese Weise den jungen Michael Focul kennen. Und während die weltentlegene Stadt in eine sonderbar hastige Strömung der Besserung, der Ausführung großer, immer wieder verschobener Pläne geriet, erfuhr der Doktor Coroju die Geschiche von den verschwundenen hundert Pfund. Einige Sorgenfalten erschienen auf seinem braunen Gesicht, dann lachte er: „Das wird auch noch in Ordnung gebracht, verlassen Sie sich auf mich. Ich weiß schon Verschiedenes über den Postmeister, der Mann muß bestraft werden.“ Michael zögerte: „Werden Sie nicht zu hart sein? Er hat doch ... eine Frau ... eine Tochter ...“ — „So?“ Die Männer sahen einander an. „Ariadne?“ — „Ja“, nickte der junge Focul. Natürlich wäre viel mehr zu sagen gewesen, aber der Fremde konnte es sich wohl denken. Solange Michael arm war, ohne Aufträge, und der Postmeister reich, hochmütig ... jeder konnte sich das selber ausdenken. Und Doktor Coroju sagte auch nur: „Ihnen gönne ich sie. Sonst niemandem in diesem Ort. Aber einstweilen darf ich sie noch ansehen, ja? Ein so gehetzter Mensch wie Ich kann manchmal ein so stille Gesicht brauchen.“ Schmerz war in dieser Stimme oder schien es Michael nur so? Gleich war wieder alles anders und der Fremde spottete: „Nun sind die Feiertage vorbei, gegessen und getrunken habe ich genug, weichen wir dem Ernst des Lebens nicht länger aus!“

Schon am nächsten Morgen ließ sich der Herr Doktor die Bücher und Akten und die Kasse des Postamtes in ein gutgeheiztes Zimmer im Gasthof bringen und blieb bis zum Nachmittag unsichtbar. Dann erschien er im Postamt, teilte dem zitternden Aurel Madiva mit, daß er abgesetzt sei und weitere Verfügungen des Ministeriums abzuwarten habe, ernannte einen der Beamten zum provisorischen Nachfolger und wies ihn an, dem Oberst Focul sofort die unterschlagenen hundert Pfund auszuzahlen sowie einige andere Unregelmäßigkeiten zu ordnen. Nach einer kleinen ernsten Ansprache über Pflicht und Ehre kehrte er in den Gasthof zurück, ließ die Familien Focul und Madiva zu sich bitten,' ehrte den Oberst mit ausgesuchter Höflichkeit, redete dem zerknirschten Ex-Postmeistcr ins Gewissen und versöhnte die beiden schließlich, indem er die jungen Leute, Ariadne und Michael, miteinander verlobte. Er mußte auch noch einige Worte zu dem Wirt und dem im Schankraum versammelten Volke sprechen, bevor er seine sofortige Abreise betreiben konnte. Michael und Ariadne wollten es sich nicht nehmen lassen, ihn zur Bahn zu bringen. Alle drei bestiegen den Schlitten, Michael saß vorne und lenkte die Pferde, der Koffer des Revisors wurde aufgeladen, die Leute von S. winkten und dankten und riefen Segenswünsche hinterher, von denen nicht alle echt waren.

In dem kutschenartigen Gefährt saßen Doktor Coroju und Ariadne nebeneinander. Es schneite nur wenig, klar und eisgrün wölbte sich der Abcndhimmel, vom Meer her sauste der Wind. „Wo fahren Sie jetzt hin?“ fragte das Mädchen.

— „In die Hauptstadt.“ - „Und in Wirklichkeit?“ Er sah sie nicht an. „Sage lieber, ob dir das recht ist, mit Michael. Er ist der beste, den ich weiß.“ — „Vater hatte andere Pläne, aber ich ... Wir kennen uns schon lang.“ — „Und mich kennst du noch länger, nicht wahr? Einmal habe ich dich aus dem Wasser gezogen ...“

— „Da waren Sie noch nicht der Räuber. Und jetzt bist du es nicht mehr, jetzt bist du gut geworden...“ Daß er dieses Geflüster überhaupt hören, überhaupt verstehen konnte? Sie flüsterte an seiner Schulter, in seinen Mantel hinein, in sein Herz hinein. Aber das ist doch nichts für den Coroju! Er deutete auf seinen Koffer. „Kein Räuber mehr? Und was, denkst du, was ich da mitnehme? Eure Postgelder! Das war doch der Zweck der ganzen Reise!“ Ariadne sah ihn ernst und voll Vertrauen an. Wie gut das war. In dieses Gesicht hätte er hineingehen mögen, wie in ein Meer, wie in einen Wald, hineingehen, sich verwandeln, gut und still werden wie sie. Ariadne glaubte nichts von allem, was er sagte. „Das ist unmöglich! Warum spotten Sie mich aus? Sic haben doch nichts als Gutes getan bei uns! Das kann nicht wahr seinl Wenn es wahr ist, dann ist mir leid, daß ich nicht ertrunken bin, damals!“ Was sollte man einem solchen Kind sagen? „Ariadne, auch Räuber müssen leben, auch die edlen Räuber.“

— „Aber doch nicht so !“ Sie begann sich zu fürchten, blickte immer wieder zu Michael hin, der von nichts eine Ahnung hatte. Coroju konnte seine überlegene Fassung kaum mehr beibehalten. Würde er mit diesen Kindern noch um sein Leben ringen müssen? „Ich kann doch nichts anderes mehr werden, immer gehetzt, immer Polizei hinter mir, Steckbriefe, Fingerabdrücke, Ergreiferprämien! Daß ich nur gegen die Ungerechtigkeit war, gegen alle diese Haifische und Betrüger und Scheinheiligen, die das Land aussaugen, das glaubt mir doch niemand!

Nur die, denen ich geholfen habe, glauben es. Und nicht einmal die!“

Ariadne, von Angst und Mitleid erschüttert, rief plötzlich nach Michael, er solle anhalten. Eilig, und schon wieder erleichtert, erzählte sie ihm alles. Die beiden Jungen waren ganz benommen vom Ungewöhnlichen ihrer Lage. Coroju wurde weich und beinahe fröhlich, als er sie ansah. Bis Michael mit angestrengter Miene sagte: „Gleich sind wir beim Bahnhof, wir können dich verhaften lassen, dann sind die Gelder gerettet. Einmal muß doch Ordnung in dein Leben kommen.“ Ariadne aber meinte leise, vielleicht habe es eben damit begonnen, mit der Ordnung bei ihnen allen. Und wenn die Leute in S. erfahren würden, daß der Rechnungsprüfer nur ein Räuber gewesen sei, dann würden sie sofort wieder in ihre alte Schlechtigkeit verfallen, während sie nun, wenigstens eine Zeitlang, an eine wachsame Regierung und ewige Gerechtigkeit zu glauben geneigt seien. Coroju nahm sie mit einem jähen Aufleuchten seiner großen, kühnen Augen kurz in die Arme, zündete sich dann eine Zigarette an und sagte mit einem Lachen, das seine Rührung nur schlecht verbarg: „Ich schlage euch etwas vor, aber das ist das äußerste an Bravheit, zu dem mich diese kleine Zauberin hinführen kann: Ihr nehmt die Gelder des Herrn Madiva wieder mit, bringt sie, womöglich ungesehen, an ihren Platz zurück, verzichtet großmütig auf die Ergreiferprämie und leiht mir etwas Geld, damit ich mich irgendwohin durchschlagen kann, arm und büßend, wie es in den Liedern heißt, vielleicht auf ein türkisches Schiff, vielleicht, wer weiß, als Postmeister in irgendeinen Hafen der sieben Meere. Erfahrungen hätte ich ja jetzt. Seid ihr damit zufrieden, ja? Gerührt, ja?“

Es gab ein feierliches Händeschütteln, Segenswünsche, eine Sekunde lang lehnte Ariadnes Stirn über dem Herzen des Räubers, dann mußten sie eilen, denn schon sah man in der unendlichen Ebene den Eisenbahnzug wie in rötlichen Wolken herankommen.

Als Michael und Ariadne wieder in der Stadt einlangten, war noch immer alles im Gasthof versammelt. Der alte Oberst bildete den Mittelpunkt der Tafelrunde, man versprach ihm den Bürgermeisterposten und er versprach ein Regiment unerschütterlicher Rechtlichkeit. Michael aber schlich heimlich hinauf in das Zimmer des „Herrn aus der Hauptstadt“, um die beinahe gestohlenen Gelder wieder an ihren Platz zu bringen. Er versperrte dann auch für alle Fälle die Tür, damit nicht irgendein anderer... Denn gelegentlich scheint der Himmel auch für sie seine Aufträge zu haben, für die edlen Räuber; gelegentlich...

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