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DER EINZUG DER ÖSTERREICHER

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Der feierliche und amtliche Einzug der österreichischen Truppen war erst am nächsten Tage.

Nie hatte eine solche Ruhe über der Stadt gelegen. Die Läden wurden nicht geöffnet. Fenster und Türen der Häuser waren geschlossen, obgleich es ein sonniger und heißer Tag gegen Ende August war. Die Gassen verödet. Höfe und Gärten wie ausgestorben. In den türkischen Häusern Niedergeschlagenheit und Verlegenheit, in den christlichen Vorsicht und Mißtrauen. Überall aber und bei allen Furcht. Die einrückenden Schwaben fürchten einen Hinterhalt. Die Türken fürchten sich vor den Schwaben, die Serben vor den Schwaben und Türken. Die Juden fürchten sich vor allem und vor jedem, denn besonders in Kriegszeiten ist jeder stärker denn sie. Allen dröhnt noch das gestrige Schießen der Artillerie in den Ohren. Und wären die Menschen nur ihrer eigenen Angst gefolgt, dann hätte keine Menschenseele an diesem Tage auch nur den Kopf aus dem Hause herausgesteckt. Aber der Mensch hat auch noch andere Herren über sich. Die österreichische Abteilung, die gestern in die Stadt eingerückt war, suchte den Polizeihauptmann, den Mulasim, und seine Polizisten auf. Der Offizier, der diese Abteilung befehligte, beließ dem Mulasim seinen Säbel und befahl ihm, seinen Dienst auch weiter zu versehen und die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten. Es wurde ihm mitgeteilt, daß der Kommandant, ein Oberst, am nächsten Tag, eine Stunde vor Mittag, eintreffen werde und daß ihn die angesehensten Männer der Stadt, und zwar die Vertreter der drei Konfessionen, an der Brücke zu empfangen hätten. Der grauköpfige und resignierte Mulasim berief sofort den Mullah Ibrahim, Huseinaga, den Muderis, Direktor der höheren mohammedanischen Schvle, den Popen Nikola und den Rabbiner David Levy und eröffnete ihnen, daß sie als „die geistlichen Würdenträger und ersten Männer“ den österreichischen Kommandanten am nächsten Mittag auf der Kapija empfangen, ihn im Namen der Bürgerschaft begrüßen und bis in die Stadt begleiten müßten.

Lange vor der festgesetzten Zeit trafen sich die vier „Würdenträger“ auf dem verlassenen Marktplatz und gingen langsamen Schrittes auf die Kapija. Dort hatte schon Salko Hedo, der Gehilfe des Mulasim, mit einem Polizisten einen langen, leuchtend bunten türkischen Teppich ausgebreitet und mit ihm die Stufen und die Mitte der steinernen Bank bedeckt, auf der der österreichische Kommandant sitzen sollte. Einige Zeit standen sie dort, feierlich Und schweigend; als sie aber sahen, daß nirgendwo auf dem weißen Wege vom Okolischte herab auch nur eine Spur des Kommandanten zu erblicken war, schauten sie einander an, und wie auf Verabredung setzten sie sich auf den unbedeckten Teil der steinernen Bank. Pope Nikola zog einen gießen ledernen Tabaksbeutel hervor vnd bot auch den anderen an.

Nun saßen sie auf dem Sofa wie einst, da sie jung und sorglos waren und, wie alle Jugend, ihre Zeit auf der Kapija verbrachten. Nur waren sie jetzt schon alle bei Jahren. Pope Nikola und Mullah Ibrahim waren alt, der Muderis und der Rabbiner reife Männer, alle feiertäglich gekleidet,,ünjj jeder erfüllt von Sorgen um sich und die Seinen,, Sie betrachljleten. einander lange und-eingehend in der grellen Sommersonne, und jeder erschien dem anderen zu stark gealtert und zu verbraucht für seine Jahre. Jeder erinnerte sich des anderen, wie er in der Jugend oder Kindheit gewesen, als sie neben dieser Brücke aufgewachsen, ein jeder in seiner Generation ein grünes Holz, von dem man noch nicht weiß, was aus ihm werden wird.

Sie rauchten und sprachen über das eine, in ihren Gedanken aber wälzten sie das andere und blickten jeden Augenblick zum Okolischte, wo sich der Kommandant zeigen sollte, von dem nun alles abhing und der für sie und ihre Gemeinde und für die ganze Stadt Gutes wie Böses, Beruhigung oder neue Gefahren bringen konnte.

Pope Nikola war zweifellos der Ruhigste und Gesammeltste von den vieren, zumindest schien es so. Er hatte schon die Siebzig überschritten, aber er war noch immer rüstig und stark. Ein

Sohn des berühmten Popen Mihailo, den die Türken auf dieser gleichen Brücke enthaupteten, hatte Pope Nikola eine unruhige Jugend' gehabt. Ein paarmal war er nach Serbien geflohen und hatte sich vor dem Haß und der Rache einiger Türken verborgen. Durch seine unbändige Natur und seine Haltung gab er auch Anlaß zu Haß und Rachsucht. Als aber die unruhigen Jahre vorüber waren, da setzte sich der Sohn des Popen Mihailo in die väterliche Pfarre, heiratete und beruhigte sich („Schon seit langem bin ich zur Vernunft gekommen, und auch unsere Türken sind zahmer geworden“, sagte Pope Nikola im Scherz). Schon fünfzig Jahire sind es her, seitdem Pope Nikola nun seiner ausgedehnten, verstreuten und schwierigen Pfarre an der Grenze vorsteht, ruhig und weise, ohne andere größere Erschütterungen und Mißgeschicke als die, welche das Leben selbst mit sich bringt, mit der Hingabe eines Dieners und der Würde eines Fürsten, immer gerade und gleichmäßig, zu den Türken, zum Volk und zu den Behörden.

Weder vor noch nach ihm hatte es jemals unter den Städtern einen Mann gegeben, der so sehr die allgemeine Achtung genoß und ohne Unterschied des Glaubens, des Geschlechts und der Jahre ein solches Ansehen besaß wie dieser Pope, den sie all seit alters her „Großvater“ nannten. Für die ganze Stadt und den ganzen Kreis ist er die Verkörperung der serbischen Kirche und all dessen, was das Volk als Christentum bezeichnet und ansieht. Und noch mehr, das Volk sieht in ihm das Urbild des Priesters und des Ältesten überhaupt, so wie es sich ihn in dieser Stadt und unter solchen Verhältnissen vorstellt.

Er ist ein Mann von hoher Gestalt und ungewöhnlicher Körperkraft, nicht besonders schreibkundig, aber mit weitem Herzen, gesundem Verstand und einem heiteren und freien Geist. Sein Lächeln entwaffnet, beruhigt und ermutigt; es ist das unbeschreibliche und unschätzbare Lächeln eines kraftvollen, edlen Menschen, der mit sich selbst und allem um sich im Frieden lebt; seine großen grünen Augen verengen sich zu einer schmalen, dunkelbraunen Schneide, aus der goldene Funken hervorbrechen. So ist es auch bis in sein Alter geblieben. In seinem langen Mantel aus Fuchspelz, mit dem großen, roten Bart, der, mit den Jahren erst angegraut, seine ganze Brust bedeckt, mit einer gewaltigen Priesterkappe auf dem wilden Haar, das hinten zu einem festen Knoten zusammengedreht ist und unter der Kappe verschwindet, schreitet er durch die Stadt, als sei er der Priester dieser Stadt neben der Brücke und dieses ganzen bergigen Landes, und zwar nicht erst seit einigen fünfzig Jahren und nicht nur seiner Kirche, sondern von jeher, aus alten Zeiten, da die Welt noch nicht in die heutigen Glaubensrichtungen und Kirchen geteilt war. Aus den Läden beiderseits der Straße grüßen ihn die Leute, gleichviel welchen Glaubens sie sind. Die Frauen treten zur Seite und warten, gesenkten Hauptes stehend, daß Großvater vorübergehe. Die Kinder (sogar auch die jüdischen) unterbrechen ihr Spiel und hören auf zu schreien, und die älteren unter ihnen nähern sich feierlich und schüchtern der gewaltigen und schweren großväterlichen Hand, um für einen Augenblick zu fühlen, wie auf ihre geschorenen Köpfe und vom Spiel erhitzten Gesichter wie ein guter und angenehmer Tau seine starke und heitere Stimme herabrieselt:

„Sollst leben, sollst lange leben, mein Sohn!“

Dieser Akt der Ehrfurcht vor Großvater gehörte zum uralten und allgemein anerkannten Zeremoniell, mit dem die Generationen der Städter geboren wurden.

Auch in Pope Nikolas Leben gab es einen Schatten. Seine Ehe war kinderlos geblieben. Dies war zweifellos etwas Schweres, aber niemand erinnerte sich, weder von ihm noch von seiner Frau je ein Wort der Klage gehört oder auch nur einen traurigen Blick gesehen zu haben. Im Hause hatten sie immer wenigstens zwei angenommene Kinder, aus seiner oder ihrer Verwandtschaft vom Dorfe. Diese Kinder versorgten sie bis zur Heirat und nahmen dann neue auf.

Neben Pope Nikola saß Mullah Ibrahim, ein großer, magerer, vertrockneter Mann mit schütterem Bart und herabhängendem Schnurrbart. Er war nicht viel jünger als Pope Nikola, hatte eine große Familie und einen schönen Besitz, den ihm sein Vater hinterlassen, aber er war so nachlässig, mager und schüchtern, daß er mit seinen kindlichen blauen Augen eher irgendeinem Einsiedler und armen frommen Pilger denn dem Wischegrader Hodscha und geistigen Würdenträger glich. Mullah Ibrahim hatte ein Gebrechen: er stotterte, und zwar sehr heftig und langdauernd. („Man muß viel Zeit mitbringen, wenn man mit Mullah Ibrahim sprechen will“, sagte man in der Stadt im Scherz.) Aber Mullah Ibrahim war weit bekannt ob seiner Güte und Feinfühligkeit. Der ganze Mensch strömte Wohlwollen und Heiterkeit aus, und schon bei den ersten Worten vergaß jeder sein äußeres Aussehen und sein Stottern. Er zog alle jene zu sich heran, die mit Krankheit, Armut oder irgendeiner anderen Mühsal beladen waren. Aus den entferntesten Dörfern kamen sie zu Mullah Ibrahim, um bei ihm Rat zu suchen. Vor seinem Hause standen stets Leute, die auf ihn warteten. Männer und Frauen sprachen ihn oft auf der Straße um Rat und Hilfe an. Er wies niemals jemanden ab, aber er vergab keine teuren Talismane und Amulette wie andere Hodschas. Gewöhnlich setzten sie sich sofort im ersten besten Schatten oder etwas abseits auf dem ersten besten Stein nieder, der Mann brachte seine Not vor, Mullah Ibrahim hörte ihn aufmerksam und mitfühlend an und sagte ihm dann ein paar gute Worte, wobei er stets die beste mögliche Lösung fand, oder er langte mit seiner mageren Hand in die tiefe Tasche seines Oberkleides und, sich umblickend, ob es auch niemand sehe, drückte er ihm etwas Geld in die Hand. Nichts war ihm etwa schwer oder unangenehm oder unmöglich, wenn es darum ging, irgendeinem Moslem zu helfen. Dafür hatte er immer Zeit und fand immer Geld. Nicht einmal sein Stottern störte ihn dabei, denn während er mit seinem in Not geratenen Gläubigen sprach, vergaß er sogar das Stottern. Ein jeder ging von ihm, wenn schon nicht völlig getröstet, so doch wenigstens vorübergehend beruhigt, denn er sah, daß jemand seine Not wie die eigene empfand. Ständig von jedermanns Sorgen und Bedürfnis umgeben, niemals an sich denkend, hatte er. so wenigstens schien es ihm, sein ganzes Leben in Gesundheit, Glück und Wohlstand verbracht.

Der Wischegrader Muderis. Hussein Effendi, war ein kleiner und fülliger Mann, noch jung an Jahren, schön gekleidet und wohlgepflegt. Ein schwarzer, kurzer Bart, sorgfältig zu einem regelmäßigen Oval um das weiße und rötliche Gesicht gestutzt, mit runden schwarzen Augen. Von guter Schulbildung, wußte er genug, galt als Mann, der viel weiß, und war selbst der Meinung, er wisse noch mehr. Er sprach gern und liebte es, daß man ihm zuhörte. Er war überzeugt, daß er gut spreche, und das veranlaßte ihn, viel zu sprechen. Er drückte sich vorsichtig und salbungsvoll aus, sprach mit maßvollen Bewegungen, die Hände leicht gehoben, beide in gleicher Höhe, weiße, gepflegte Hände, mit rosafarbenen Nägeln, beschattet von dichten, kurzen und schwarzen Härchen. Und beim Sprechen bewegte er sich, als stehe er vor dem Spiegel. Er besaß die größte Bibliothek in der Stadt, eine eisenbeschlagene und gut verschlossene Kiste voller Bücher, die ihm sein Lehrer, der berühmte arabische Hodscha, bei seinem Tode hinterlassen und die er nicht nur sorgfältig vor Staub und Motten hütete, sondern in der er auch nur selten und sparsam las. Aber daß er so viele teure Bücher besaß, hob schon seinen Wert in den eigenen Augen und verschaffte ihm ein Ansehen bei den Menschen, die nicht wußten, was ein Buch ist Man wußte, daß er eine Chronik der wichtigsten Ereignisse in der Stadt schrieb. Und dies brachte ihm bei den Bürgern das Ansehen eines gelehrten und außergewöhnlichen Menschen, denn man meinte, daß er damit den guten Ruf der Stadt und eines jeden einzelnen in seiner Hand habe. In Wirklichkeit war diese Chronik weder umfangreich noch gefährlich. In den fünf, sechs Jahren, seit sie der Muderis führte, füllte sie ganze vier Seiten eines kleinen Heftchens. Denn die meisten Stadtereignisse befand der Muderis nicht für wichtig oder würdig genug, in seine Chronik einzugehen. Daher war sie so unfruchtbar, trocken und steif wie eine hochmütige alte Jungfer.

Der vierte „Würdenträger“ war David Levy, der Wische-grader Rabbiner, ein Enkel jenes bekannten alten Rabbi Hadschi Liatscho, der ihm seinen Namen, seine Stellung und seinen Besitz, aber nichts von seinem Geist und seiner Heiterkeit als Erbe hinterlassen hatte.

Er war ein junger, schmächtiger und bleicher Mann mit dunklen Augen, samtenen, traurig blickenden Augen. Er war unaussprechlich schüchtern und schweigsam. Er war erst einige Zeit Rabbiner und hatte kürzlich geheiratet. Um gewichtiger und stärker auszusehen, trug er weite und reiche Kleidung aus schwerem Stoff, sein Gesicht war von Bart und Schnurrbart verdeckt, aber unter diesen. Kleidern ahnte man den schwachen, leicht frierenden Körper, und .durch, den dünnen schwarzen Bart sah:man das kränkliche Oval .seines Knabengesichtes. Es war ihm eine furchtbare Qual, wenn er irgendwo unter die Leute gehen und sich an Gesprächen und Entscheidungen beteiligen mußte, da er sich ständig als klein, schwach und den Aufgaben nicht gewachsen empfand.

Nun saßen sie alle vier schwitzend in ihren Sonntagskleidern in der Sonne, aufgeregter und sorgenvoller, als sie es zeigen wollten.

„Rauchen wir noch eine; Zeit haben wir ja, hol's der Teufel, der kann ja auch nicht wie ein Vogel auf die Brücke geflogen kommen“, sprach Pope Nikola als ein Mann, der es seit langem gelernt, Sorgen und wahre Gedanken, seine eigenen wie die fremden, unter einem Scherz zu verbergen.

Alle blickten zum Okolischte, und dann griffen sie zum Tabak.

Das Gespräch tropfte langsam und vorsichtig und drehte sich ständig um den Empfang des Kommandanten. Alles lief darauf hinaus, daß der Pope Nikola derjenige sei, der ihn begrüßen und willkommen heißen müsse. Mit zusammengekniffenen Lidern und gefurchten Augenbrauen, so daß seine Augen jene dunkle Schneide bildeten, aus der wie ein Lächeln goldene Funken her-vorschossen, betrachtete Pope Nikola sie alle drei lange, schweigend und aufmerksam.

Der junge Rabbi verging vor Furcht. Er besaß nicht die Kraft, den Rauch von sich fortzublasen, sondern dieser wand sich noch lange durch seinen Bart. Der Muderis war nicht weniger verängstigt. Seine ganze Beredsamkeit und Würde eines gelehrten Mannes hatte ihn heute morgen plötzlich verlassen. Er war sich auch nicht im entferntesten bewußt, wie verstört und bis zu welchem Grade verschüchtert er aussah, denn die hohe Meinung, die er von sich hatte, erlaubte ihm nicht, sich so etwas vorzustellen. Er versuchte, eine seiner gelehrten Reden mit gemessenen Gesten zu halten, die alles erläutern, aber die schönen Hände fielen ihm von selbst in den Schoß, und seine Worte verwirrten sich und rissen ab. Er wunderte sich selbst, wohin sich »eine gewohnte Würde verloren, und bemühte sich unaufhörlich vergebens, sie zu suchen, wie etwas, an das er seit langem gewöhnt und das er gerade jetzt, da er es. am nötigsten brauchte, irgendwo verlegt hatte.

Mullah Ibrahim war etwas bleicher als gewöhnlich, aber sonst ruhig und gefaßt. Er und Pope Nikola blickten sich von Zeit zu Zeit an, als verständigten sie sich mit den Augen. Schon seit ihrer Jugend waren sie gute Bekannte und Freunde, soweit man zu den damaligen Zeiten von Freundschaft zwischen Mohammedanern und Christen sprechen konnte. Als Pope Nikola in seinen jungen Jahren seine „Händel“ mit den Wischegrader Türken hatte und sich verbergen und flüchten mußte, hatte ihm Mullah Ibrahim, dessen Vater in der Stadt sehr mächtig war, irgendeinen Dienst erwiesen. Später, als ruhigere Zeiten für die Stadt herangekommen, die Beziehungen zwischen beiden Religionen erträglich geworden und sie beide in die reiferen Jahre gekommen waren, freundeten sie sich an und nannten einander im Scherz „Nachbar“, denn ihre Häuser lagen an den beiden entgegengesetzten Enden der Stadt. Bei Trockenheit, Seuchen und anderen Nöten, die hereinbrachen, standen sie, ein jeder unter seinem Volke, auf dem gleichen Posten. Auch sonst, wenn sie sich auf dem Mejdan oder dem Okolischte trafen, grüßten sie sich und fragten einander nach dem Befinden, wie sich nirgendwo ein Pope und Hodscha begrüßten und miteinander sprachen.

„Alles, was da unten kreucht und fleucht und mit menschlicher Stimme spricht, das tragen wir beide, du und ich, auf unserer Seele.“

„Bei Gott, so ist es, Nachbar“, stotterte Mullah Ibrahim, „das tragen wir wirklich.“

(Die Städter aber, die in allem einen Anlaß zum Lachen finden, sagen von Menschen, die in Freundschaft leben: „Sie stehen zueinander wie Pope und Hodscha.“ Und das ist ihnen schon zum Sprichwort geworden.)

Auch jetzt verstanden sich die beiden gut, obgleich sie kein Wort gesprochen hatten. Pope Nikola wußte, wie schwer es Mullah Ibrahim zumute war, und Mullah Ibrahim wußte, daß es auch dem Popen nicht leicht war. Und sie blickten einander an, wie so viele Male im Leben und bei so vielen verschiedenen Anlässen: wie zwei Männer, die für alle Menschenseelen in der Stadt die Verantwortung tragen, der eine für die, die sich bekreuzigen, der andere für die, die sich verneigen.

Da hörte man ein Trappeln. Heran eilte ein Polizist auf einem kleinen Klepper. Außer Atem und verängstigt schrie er von weitem wie ein Ausrufer:

„Da kommt der Herr, da kommt er auf dem weißen Pferd!“

Nun erschien auch plötzlich der immer ruhige, immer gleichmäßig liebenswürdige und schweigsame Mulasim.

Vom Okolischte herab wirbelte Staub auf.

Diese Männer, geboren und aufgewachsen in diesem abgelegenen Winkel der Türkei, und zwar der heruntergekommenen Türkei des neunzehnten Jahrhunderts, hatten, natürlicherweise, niemals Gelegenheit gehabt, die richtige, starke und gut organisierte Armee einer Großmacht zu sehen. Alles, was sie bis jetzt hatten sehen können, das waren unvollständige, schlecht gekleidete und unregelmäßige Einheiten türkischer Soldaten oder, was noch schlimmer, die gewaltsam aufgebotene bosnische Landwehr ohne Disziplin und Begeisterung. Jetzt zeigte sich ihnen zum ersten Male die wirkliche „Macht und Ordnung“ eines Kaiserreiches, siegreich, glänzend und selbstbewußt. Ein solches Heer mußte ihre Augen blenden und ihnen das Wort in der Kehle stocken lassen. Schon auf den ersten Blick sah man, an der Ausrüstung der Pferde und an jedem Knopf der Soldaten, hinter diesen paradierenden Husaren und Jägern den tiefen und starken Hintergrund, die Macht, Ordnung und den Wohlstand einer anderen Welt. Die Überraschung war groß und der Eindruck tief.

Voran ritten zwei Trompeter auf feisten Apfelschimmeln, dann kam ein Fähnlein Husaren auf Rappen. Die Pferde waren alle gestriegelt und tänzelten wie Mädchen, leicht und gehalten. Die Husaren mit ihren roten, schirmlosen Kappen und gelben Schnüren über der Brust, alle sonnenverbrannte junge Männer mit aufgezwirbelten Schnurrbärtchen, sahen frisch und ausgeschlafen aus, als kämen sie eben aus der Kaserne. Hinter ihnen ritt eine Gruppe von sechs Offizieren mit dem Obersten an der Spitze. Auf ihm ruhten alle Blicke. Sein Pferd war höher als die anderen, bläßfüßig, mit ungewöhnlich langem und gebogenem Hals. Hinter den Offizieren folgte eine Kompanie Infanterie, Jäger, in grünen Uniformen, mit Federn auf dem Ledertschako und weißem Lederzeug auf der Brust. Sie schlössen das Blickfeld ab und sahen aus wie ein wandernder Wald.

Trompeter und Husaren ritten bis zu den Würdenträgern und dem Mulasim, machten auf dem P4a^.b)alt,und,,$tellten sich^zu beiden .Seiten auf. ., :;S0 Isü J:oW as st-jr! ;ih . „öjj «b

Die bleichen und aufgeregteit-Männerauf der-Kapija standen mitten auf der Brücke, das Gesicht den herankommenden Offizieren zugewendet. Einer der jüngeren Offiziere ritt an den Obersten heran und sagte ihm etwas. Alle verlangsamten die Gangart. Einige Schritte vor den „Würdenträgern“ hielt der Oberst plötzlich und sprang vom Pferde. Das gleiche taten die Offiziere hinter ihm, wie auf ein Zeichen. Soldaten liefen hinzu, übernahmen die Pferde und führten sie einige Schritte zurück.

Sobald er mit den Füßen die Erde berührt hatte, verwandelte sich der Oberst. Er war klein und unansehnlich, übermüdet, ein unangenehmer und gefährlicher Mann. Gerade, als habe er als einziger von ihnen und für sie alle Krieg geführt.

EtsI jetzt sah man, wie einfach gekleidet, verwahrlost und ungepflegt er im Gegensatz zu seinen frischen und straffen Offizieren aussah. Das Bild eines Menschen, der sich unbarmherzig verbraucht; der sich selbst verzehrt. Das Gesicht von der Sonne verbrannt, bärtig, die Augen trübe und unruhig und die hohe Mütze etwas schräg aufgesetzt, die Uniform zerknittert und zu weit für den mageren Körper. An den Füßen Reitstiefel mit niedrigen, weichen Schäften ohne Glanz. Breitbeinig gehend und mit der Reitpeitsche spielend, kam er näher. Einer der Offiziere meldete ihm und zeigte auf die versammelten Männer vor ihm. Der Oberst betrachtete sie kurz mit dem scharfen, wütenden Blick eines Menschen, der ständig vor schweren Aufgaben und großen Gefahren steht. Man konnte sofort erkennen, daß er auch gar nicht anders blicken konnte.

In diesem Augenblick begann Pope Nikola mit ruhiger, tiefer Stimme zu sprechen. Der Oberst hob den Kopf und ließ seinen Blick auf dem Gesicht des stattlichen Mannes im schwarzen Gewand ruhen. Dieses breite, ruhige Antlitz eines biblischen Patriarchen fesselte für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit. Man konnte überhören, was dieser Greis sprach, oder ihn nicht verstehen, aber sein Gesicht konnte man nicht unbeachtet lassen. Pope Nikola sprach fließend und natürlich, mehr zu dem jungen Offizier gewendet, der seine Worte übersetzen sollte, als zu dem Obersten selbst. Im Namen der anwesenden Geistlichen aller Konfessionen versicherte er dem Obersten, sie seien, gemeinsam mit dem Volke, bereit, sich der neuen Macht zu beugen, und sie würden alles tun, was in ihren Kräften stünde, um die Ruhe und Ordnung zu wahren, die die neue Obrigkeit fordere. Sie bäten aber, daß das Heer sie und ihre Familien schütze und ihnen ein friedliches Leben und ehrliche Arbeit ermögliche.

Pope Nikola sprach kurz und kam schnell zu Ende. Der flinke Oberst hatte keine Gelegenheit, die Geduld zu verlieren. Dafür aber wartete er nicht, bis der junge OffizieT seine Übersetzung beendete. Mit der Peitsche abwinkend, unterbrach er ihn mit scharfer und abgehackter Stimme:

„Schon gut! Schutz werden alle genießen, die sich gut führen. Aber Ruhe und Ordnung müssen die überall halten. Anders geht es nicht, ob sie wollen oder nicht.“

Und mit dem Kopfe nickend, wandte er sich ohne Gruß und Blick. Die Geistlichen wichen auf die Seite aus. An ihnen vorüber zogen der Oberst, nach ihm die Offiziere, dann die Pferdeburschen. Niemand kümmerte sich um die „Würdenträger“, die allein auf der Kapija zurückblieben.

Aus ,,Dte Brücke über die Drim“. Fischer-Verlag. Ins Deutsche übertraft? von Ernst E. Jonas.

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