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Der Enqel im Glochenturm

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(Sdiluß)

Drinnen im Turm ist es so dunkel, daß ich am liebsten Reißaus nehmen möchte.

Aber aus der Höhe kommt ein heller Glanz und durch ein Fenster fällt ein Lichtschein in den finsteren Raum. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an die Dämmerung, schon kann ich die Steinstufen der Wendeltreppe unterscheiden, die steil emporführt. Rasch steige ich die hohen Stufen hinauf, ich eile dem hellen Schein entgegen und lasse die düstere Tiefe des Turmes unter mir. Nichts regt sich, nur ab und zu höre ich das Zwitschern der Schwalben, die in blitzendem Hug an den Turmfenstem enter dem Dach vorbeistreichen. į

So, jetzt ist die Wendeltreppe zu Ende, ich stehe auf einem Holzboden hoch oben im Turm.

Drei starke Seile hängen von den Glocken herab und berühren fast die Balken, die mich tragen.

Nun, jetzt weiß ich wenigstens, wie es im Innern des Turmes aussieht.

Bis zu diesem Holzboden steigen wohl der Alte, sein Sohn und das Kind, dann ziehen sie aus Leibeskräften an den groben Strängen, um die Glocken aus ihrer Ruhe zu erwecken.

Auch die Glocken selbst kann ich sehen. Sie hängen mir zu Häupten mit ihren wuchtigen Schwengeln, die mich in ihrem mächtigen, ehernen Mund an dicke Zungen erinnern. Sonnenglanz blinkt auf dem Metall, doch bis zu mir dringt nicht sein Widerschein, noch immer bin ich im Halbschatten.

„Tick! Tack!... Tick! Tack!“

Das ist die Uhr. Sie tickt wie unsere Uhr daheim im Speisezimmer, nur viel lauter und eindringlicher.

Was soll ich nun beginnen?

Ruhig warten, bis er kommt. Ich werde seine Flügel rauschen hören, dann wird er sich, leuchtend wie eine Flamme, hoch oben im Glockenstuhl niederlassen und wieder werde ich das Wunder erleben. Ringsum wird alles in seinem Licht erstrahlen. Er wird mich erblicken und zu mir herabfliegen.

„Kennst du mich nicht, jeden Abend vor dem Einschlafen spreche ich ja mein Schutzengelgebet?“ — „Ich hör dein Beten, Kind, und kenne dich gut. Ich weiß auch, daß du brav bist. Was möchtest du denn?“ — „Zuschauen möchte ich,- wie du mit dem goldenen Hammer an die Glocke schlägst. Dann will ich der Mutter alles erzählen, was ich gesehen habe. Und auch dem Vater..." — Er wird mich an der Hand nehmen und mit mir emporfliegen... I eicht werde ich sein wie Spreu oder Flaum. Wir werden um den „Enkel“ schweben. „Da, nimm!“ Mit diesen Worten wird er mir seinen Goldhammer reichen. „Darf ich?" werde ich freudetrunken fragen und auf sein stummes Nicken den Arm heben, um mit dem Hammer die Glocke zu erwecken, daß ihre Stimme klingend über Berge und Meeresweiten schwinge ... Das wird eine Lust sein!

Ich blicke in die Höhe, unermüdlich schaue ich hinauf in den GlocÄn'StuW, doch kaum vermag ich meine Ähgeduld zu zähmen, obgleich mich scho jetzt ein tiefes Glück überkommt. Plötzlich zucke ich zusammen, von jähem Schreck erfaßt.

„Kling!"

Wie Donner dröhnt es durch den' dämmernden Turmraum. So ehern und wuchtig erhebt sich- die Stimme der Glocke, daß ich verspüre, wie das Mauerwerk bis in seine Grundfesten erbebt.

Am liebsten möchte ich bitterlich weinen, aber meine Angst ist so groß, daß ich nicht einmal eine Miene zu verziehen wage. Auch fürchte ich mich, die dunkle Wendeltreppe hinabzusteigen, denn Finsternis droht mir aus der Tiefe des Turmes.

Wieder streichen die zwitschernden Schwalben blitzenden Fluges am Turmdach vorbei. Längst ist der Glockenton verhallt. So still wird es wie ehedem. Auch mein Herz pocht nicht mehr so stürmisch. Nun kann ich ungestört sinnen und träumen.

Ich habe ihn nicht gesehen, aber auch er hat mich nicht erblickt.

Bis zur Spitze des Turmes müßte ich emporklettern, um dort oben, wo die Glocken hängen und die Sonne scheint, den Engel zu erwarten. Darum aus dämmernden Schatten hinauf in die lichte Höhe!

Doch, wie kann ich emporgelangen? Suchend schweifen meine Blicke durch den Turmraum. An der Mauer lehnt im tiefsten Schatten eine hölzerne Leiter.

Der Abstand der Sprossen ist ein wenig zu weit für meine Knabenbeine, aber ich ziehe mich mit den Händen an ihnen empor. Alle meine Kräfte muß ich anspannen, ich muß mich stemmen und plagen, um an der Leiter langsam hochzukommen.

Jetzt sind mir schon die Glocken ganz nahe. Noch bin ich im tiefen Mauerschatten, doch knapp über meinem Kopf flutet Sonnenschein durch die Glockenstube. Ängstlich vermeide ich, in die Tiefe hinabzublicken, denn mich dünkt, ich schwebe über einem dunklen Abgrund. Lange kann ich 0ich an diese steile Leiter nicht anklammern, bald werden meine Kräfte schwinden. Hilfesuchend blick ich empor und meiner Kehle entringt sich verzweifelt der Ruf:

„O, Engel, komm doch!"

Mit lautlosem Flügelschlag streichen schwarze, unheimliche Vögel an mir vorbei, sie pfeifen wie junge Mäuse.

Die Wand mir zu Häupten ist von diesen kleinen Tieren übersät, nun habe ich sie aufgescheucht. In leisem Zickzackflug umflattern sie mich. Sie fliegen mir sogar ins Gesicht, ich spüre die kahle, kalte Haut ihrer Hügel.

Angst überkommt mich. Ich will hinabklettern und taste mit einem Bein nach der nächsten Sprosse unter mir, doch ich finde keinen. Halt. Mir scheint es, als wäre der Abstand zwischen den Sprossen noch größer geworden.

„Mutter!“

Aufgeregt umschwirren mich die schwarzen, unheimlichen Vögel, ich aber wage mich nicht mehr von der Stelle zu rühren. Ich kann weder von der Leiter herabsteigen, noch mich höher emporziehen. Tränenerstickt weiß ich keinen anderen Ausweg, als krampfhaft nach dem nächsten Glockenstrang zu greifen. Meine zitternde Hand umklammert den starken Strick.

Die -Glocke läutet!

Dröhnend hallt ihr Klang durch den Turm. Er braust mir in den Ohren, doch trotz der ungewohnten Stärke gibt mir der vertraute Ton Ruhe und Sicherheit.

„Bim, bam, bim!“ ruft der „Enkel" ins Land hinaus. Mir ist, als mahne er mich mit eherner Stimme: „Läute nur, mein

Kind, läute! Ich will dir beistehen. Solange ich ertöne, kann dir kein Leid geschehen.“

Doch lange währt nicht sein Klingen.

Plötzlich entgleitet der Strang meiner Hand, das Geläute verstummt.

Auf dem Balkenliodcn unter mir steht ein Mann, er hält das Ende des Glockenseiles und schaut zu mir hinauf.

„Wer bist du? Was treibst du denn da oben? Sofort kommst du herunter!“

Ich breche in Tränen aus.

Er steigt auf die Leiter und holt mich herab, dann beginnt er, mich auszufragen und zu schelten.

Von einem Weinkrampf geschüttelt, kann ich kein Wort erwidern.

Als er merkt, daß er von mir nichts erfahren kann, nimmt er mich auf den Arm und trägt mich aus dem Turm. Im Freien stellt er mich ins Gras, dann nimmt er mich bei der Hand, um mich über den Rasenplatz zu einem der nächsten Häuser zu führen.

Unmittelbar aus dem Vorraum treten wir in eine behagliche Stube. Beim Fenster sitzt in einem Lehnstuhl aus Großvaters Zeiten der alte Pfarrer. Er trägt eine Brille und liest mit ruhigem Ernst in einem dicken Buch, dessen schwarzer Einband goldne Ränder hat.

Aufblickend fragt er: „Glöckner, wer war im Turm: Wer hat denn geläutet?"

„Na, der Kleine da! Ich habe ihn gleich mitgebracht. Während ich in der Kirche zu tun hatte, hat er sich in den Turm geschlichen, dann ist er die Leiter hinaufgeklettert. Am Strick der kleinen Glocke wollte er sich festhalten. Um ein Haar wäre er von der Leiter gefallen. Er hätte sich erschlagen können!“

„Wem gehört denn das Kind?“

„Ich habe den Knirps oft genug gefragt, aber er heult ununterbrochen. Kein Wort ist aus ihm herauszubringen. Als ich ihn oben gefunden habe, war er schon ganz verschreckt. Vielleicht hat er vor, den Fledermäusen Angst bekommen."

Der Pfarrer zieht mich an sich heran, nimmt mich zwischen seine Knie und streicht mir begütigend ,über die Haare.

„Beruhig dich, Kleiner! Hör auf zu weinen! Schau, ist das nicht ein schönes Buch? Es glänzt wie Gold. Gefallen dir diese Heiligenbilder? Da hast du noch eines! So! Möchtest du nicht das Bild behalten? Nun?“ .

„Freilich möcht ich’s behalten!“

„Katina! Kommen Sie her!“ ruft der Pfarrer mit erhobener Stimme.

Die Tür knarrt. Eine alte Frau, die einen großen Löffel mit einem Tuch abwischt, -erscheint auf der Sch veile.

„Wissen Sie, wem der Kleine gehört?" „Natürlich kenne ich ihn! Sie selbst haben ihn ja getauft, Don Rocco. Fünf Jahre wird er alt sein.“

„Na, na, ich kann mich doch nicht an jedes Kind erinnern, das ich getauft habe“, erwidert schmunzelnd der Pfarrer.

„Der Kleine ist der Sohn des Šjor Pijetro.“ „Nicht wahr, du heißt Vlado?" fragt mich der Pfarrer und nimmt mich auf den Schoß.

„Söhnchen, was hast di denn hoch oben im Glockenturm gesucht?"

Ich betrachte gerade ein Bildchen, das einen Engel mit mächtigen Flügeln darstellt, der ein Flammenscliw.rt in der Hand trägt. Noch glänzen in meinen Augen Tränen und ab und zu schüttelt mich ein heftiges Schluchzen, aber ich fasse schon wieder Mut, denn auf dem Schoß des Pfarrers fühle ich mich in sicherer Hut.

„Den Engel wollte ich sehen", stammle ich.

, „Welchen Engel?“

„Den Engel, der vom Himmel herabfliegt, um mit einem goldenen Hammer an die kleine Glocke zu schlagen.“

Der Glöckner und die Frau brecheh in helles Gelächter aus und bestürmen mich mit eiąer Unzahl Fragen, aber sie können mir kein Wort entlocken. Nur dem Pfarrer gelingt es, mein Erlebnis zu erfahren.

„Erklären Sie ihm doch, wie die Uhr schlägt. Sie haben ja einen neuen Wedcer mit Glocke und Hammer. Wenn der Kleine ihn sieht, wird er wohl alles begreifen. Soll ich die Uhr holen? ..." mischt sich die Frau ins Gespräch.

„Nein!“ entgegnet ihr mit Nachdruck der Pfarrer, dann fragt er mich ernst: „Hast du den Engel gesehen?“

„Ja freilich, aber nur einmal und gan? von weitem, als er vom Himmel auf den Glockenturm herabgeflogen kam. Warum kommt er denn? Und warum schlägt er mit dem Hammer an die kleine Glocke?“

„Er kommt, um allen Menschen zu künden, was sie zu jeder Tageszeit tun sollen“ „Wie verkündet er denn allen Menschen, was sie tun sollen?“

„Nun, jetzt wird es bald Mittag. Dann kommt der Engel geflogen und schlägt mit seinem goldenen Hammer zwölfmal an die Glocke. Die Leute hören den Klang und wissen, daß das Essen fertig ist. Von den Feldern und vom Hafen kehren sie heim. Vater, Mutter und Kinder stellen sich um den Tisch, beten und langen dann in db Schüssel“

„Ja, auch wir beten jeden Tag vor dem Essen."

„Und was geschieht, mein Kind, wenn es zu dämmern beginnt?"

„Oh, jetzt kenn ich mich aus! Dann kommt der Engel wieder, die Glockc klingt und wir versammeln uns zum Abendbrot. Nachher gehen wir schlafen “ „Siehst du, Kind, deshalb fliegt der Enge! mit dem goldenen Hammer in den Glockenturm. Alles geht tagein, tagaus seinen geordneten Gang, wie es der liebe Herrgott will."

„Aber warum läuten auch die anderen Glocken in der Früh, zu Mittag und am Abend, bevor es dunkel wird?“

„Wenn der Engel geflogen kommt und mit seinem Hammer das Zeichen gibt, dann eilt unser Glöckner, so schnell er kann, in den Turm, um zu läuten. Dann künden die Stimmen der großen Glocken weithin über alle Inseln bis hinüber zum Festland, was zu dieser Stunde getan werden soll."

„So ist es! Das werde ich Vater und Mutter erzählen. Sie werden staunen, denn ich habe doch recht gehabt! Nichts geschieht ohne den Engel Gcttes.“

Der alte Pfarrer strahlt vor Herzensfreude.

Er schenkt mir alle Heiligenbilder, die er in seinen Gebetbüchern finden kann, und die Frau füllt meine Taschen mit Backwerk.

„Soll ich ihn nach Hause bringen?" fragt der Glöckner.

„Nein! Ich gehe selbst mit ihm“, erwidert der Pfarrer.

Und wir machen uns auf den Weg. „Hochwürden, was hat denn der Schlingel schon wieder angestellt?“ fragt meine Mutter und blickt mich mißtrauisch an. /

Nachdem der Pfarrer ihr mein Abenteuer erzählt hat, beginnt Mutter über mich hitter zu klagen:

„Eigenartig ist dieses Kind! Alles möchte es anschauen und verstehen. Nie spielt es so lustig wie andere Kinder. Ich habe Angst, daß es ihm im Leben schlecht ergehen wird. Die Leute sagen, daß gerade solche Kinder späten leicht auf Abwege kommen."

Aber der Pfarrer entgegnet gütig: „Fürchten Sie sich nicht, liebe Frau! Was ihm auch einmal auf seinem Lebensweg zustoßen mag, immer wird er zu den Erwählten gehören, die der Glaube an Gott und seine Engel nicht untergehen läßt.“+

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