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DER ERWECKER DER WIRKLICHKEIT

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In meiner Kindheit, als ich kaum lesen gelernt hatte, machte eine Geschichte aus dem Boxerkrdeg großen Eindruck auf mich. Ich glaube, es war ein Offizier aus dem Stab von Waldersee, der über eine Exekution chinesischer Geiseln berichtete. Sie standen in einer langen Reihe an, während einer nach dem anderen geköpft wurde. Dem Offizier fiel ein Chinese in dieser Reihe auf, der in einem Buch las. Der Anblick ergriff ihn, und er bat sich vom Leiter der Exekution das Leben des Mannes aus, das ihm gewährt wurde. Er teilte dem Leser seine Begnadigung mit. Der Chinese bedankte sich höflich, steckte das Buch in die Tasche und verließ den Richtplatz, auf dem das Treiben seinen Fortgang nahm. Ich fragte mich später: Welcher Art mag seine Lektüre gewesen sein? Man müßte den Text kennen. Heute könnte ich mir vorstellen, daß ihn ein Kapitel des King-Ping-Meh oder ein Leitfaden der Lilienzucht beschäftigte. Der Wissende wird nicht an seinem Stoff, sondern an seinem Wissen erkannt. Dort liegt die Prüfung; es gibt leere Gebete, und es gibt ein Lächeln, das überzeugt.“

Und es ist besser, das Bild des heroischen Lesers an den Anfang zu stellen als den Leser als Fiktion psychischer und soziologischer Betrachtungsweisen und typenmäßiger Versteinerungen. Die Aufzeichnung “über diesen stoischen Chinesen stammt von Ernst Jünger und steht in seinem Erinnerungsband „Jahre der Okkupation“ Wie sehr die scheinbar inaktive Haltung des Lesens Aktion sein kann, Aktion schon heute und wahrscheinlich noch mehr in der künftigen Welt,zeigte uns vor einigen Jahren Ray Bradbury in seinem Gleichnisroman „Fahrenheit 451“. In dieser Utopie wird die Schreckvision einer möglichen Gesellschaftsordnung dargestellt, aus der das Buch verbannt ist. Aus bester Absicht, wie sich versteht. Alles- Gedruckte wird von einer Feuerwehr verbrannt, die einzig diese Aufgabe hat. Die Häuser sind längst feuerfest. In dieser Welt der allgemeinen geistigen Wohlfahrt hat man erkannt, daß es die Bücher seien, von denen die Zwietracht, die Revolution und das Mißbehagen in die Welt kämen — und natürlich das dem Gemeinwohl so gefährliche selbständige Denken. Für die Unterhaltung sorgt das Fernsehen. Am Rande dieser Welt, außerhalb aller Gesetze, existieren aber noch wie eine ferne Sage lebendige Bücher, Menschen, Ausgestoßene, die ein Buch auswendig gelernt haben und so, in äußerster Hilflosigkeit, doch mächtiger sind als die totale Wohlfahrt, die zugleich das totale Gefängnis ist.

Eine Schreckvision? Gewiß. Aber eine wie die von Orwell, denn etliche Indizien dieser Welt trafen vielleicht immer schon zu. Wie besorgt sind auch die Diktaturen unseres Jahrhunderts um den Leser! Wie sehr wollen sie ihn vor allen schädlichen Einflüssen behüten! Mit aller Überredungskunst, mit der gewinnendsten Mezzosopranstimme, die doch nur die verzerrte Stimmi. des kreidefressenden Wolfes ist, empfehlen sie ihre Bücher und Traktätchen und errichten zu gleicher Zeit immer neue Tabus und Leseverbote. Entartete Intellektuelle umtanzen lustvoll grölend die Scheiterhäufen der verbotenen Bücher und begeistern sich an der Liquidierung des Geistes. Dies geschieht nicht immer so öffentlich wie unter Goebbels zu Berlin im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft, aber es geschieht immer wieder, und man sollte genau auf die Kreide in den Stimmen hören, wenn sie vor Büchern dieser oder jener Art, aus dieser oder jener Absicht heraus warnen. Der Wolf kennt viele Schafspelze. Das Ausmaß der Freiheit ist umgekehrt proportional der Anzahl der verbotenen Bücher.

Wie sehr lesen, ja: auch lesen, nicht nur schreiben, ein Weg zur Freiheit ist, beweisen heute wie gestern hunderttausende Menschen in Europa, um vorf anderen Kontinenten zu schweigen. Der beispielhafte Leser unserer Tage ist nicht nur in der Literatur zu suchen, er ist Wirklichkeit in Polen, in der Sowjetunion und am anderen Ende Europas, in Spanien. Jener legendäre Frühling im Oktober war nicht zuletzt einer, der aus Büchern keimte.

Aus diesen Wirklichkeiten sind Maßstäbe zu gewinnen, die auch in unserer Komeumentenwelti,Geltung“,-haben 1 müssen. Der Digest-Leser, der Bestseller-Süchtige, der Illustrierten-Gläubige, der sich von Broschüren Verhetzen-Lassende, sie sind menschliche Zerrbilder, Konsumentenmassenware am Gängelband der Reklame. Wenn auch längst das wohlgeformte Damenbein und der Revolver in die Werbemethoden der Bücherwelt eingedrungen sind, wenn fixe Manager auch auf der Frankfurter Buchmesse nach den Gesetzen der Konsumentenpsychologie große Erfolge verzeichnen können, so wird es ihnen nicht gelingen, die Würde des Lesers endgültig zu korrumpieren.

Der Mensch im Zustand des Lesens ist -immer ein einzelner und immer vor Entscheidungen gestellt. Immer und überall ist es ihm möglich, „dazwischen zu lesen“, wovon man einst das viel mißbrauchte Wort „intelligent“ abgeleitet hat. Als Leser ist der Mensch immer imstande, die Schranken seiner Vorurteile, seiner Klasse und seiner Rasse zu übersteigen. Je bewußter er es tut, desto größer ist nicht nur der Gewinn für ihn selber — es steigt damit auch das Maß an Einsicht, die so notwendig wäre. Lesen ist vielleicht der letzte Hort schöpferischer Tätigkeil des einzelnen. Darum ist die „Leistung“ des Lesers der des Filmbesuchers und des Fernsehteilnehmers, aber auch der des Theaterbesuchers überlegen.

Mit jeder Lektüre treffen wir, bewußt oder unbewußt, eine Auslese aus dem riesigen Vorrat des gedruckten Wortes. Diese von uns ständig getroffene Auslese, ob sie nun achtsam oder achtlos vor' sich geht, ist unsere persönliche Teilnahme an der Welt des Wortes. Aus unserem Anteil am Lebendigwerden dieser Welt erwächst nicht nur die Leistung, sondern auch die Verantwortung. Mit jedem Lesen erwecken wir die Symbolwelt der Wortbegriffe, die gefügt sind aus den Lautsymbolen der Buchstaben, in uns zum Widerbild der inneren und äußeren Realität, wie sie der Autor aus Wissen, Erfahrung — oder Leichtfertigkeit und Geschäftsgeist — geformt hat. Ohne den Leser bleiben Buchstaben Buchstaben, unbelebt, tot, eine starre Zedlenlandschaft in der Einsamkeit des Papiers.

In den Büchern ruht die Erfahrung, die schwere und die bittere, aber auch die glückvolle Erfahrung unseres Geschlechts. Ruht auch das mühsam errungene Wissen aller Generationen, sind alle Wege und Irrwege aufgezeichnet, welche die Menschheit gegangen ist. So gesehen verlangt das Buch Ehrfurcht und Demut vom Leser — und immer wieder die Klarheit der Entscheidung. Nicht der öffentlichen Wohlfahrt, dem Fortschritt oder sonstigen Schimären ist der Mensch verantwortlich für das, was er mit seiner Lesefähigkeit, mit seiner geistigen Erweckerkraft, anfängt. Der Leser von heute muß Widerstand leisten gegen die Literatur der kreidestimmigen Wölfe und gegen die Flut von Papier, die smarte Manager aus ihrer gewaltigen Verdummungsmaschinerie herauszaubern.

Rufen wir uns in dieser immer noch steigenden Flut des Angebots, das angeblich niemand mehr „verkraften“ kann, um es mit einem scheußlichen aber sehr beliebten Modewort zu sagen, jenen armen jungen Mann aus dem Fichtelgebirge in die Erinnerung, der sich Bücherverzeichnisse kommen ließ und in seiner Phantasie nach den Buchtiteln die dazugehörigen Romane erfand, weil er viel zu arm war, die Bücher zu kaufen. Und denken wir an die Männer nicht nur eines Kriegsgefangenenlagers in Rußland, die sich aus den Gedichten, die der eine oder andere auswendig konnte, Lyrikbände zusammengestellt haben. Vor diesen Männern und dem jungen Jean Paul und so vielen anderen wird die Klage um das Uberangebot mißtönend.

Nur wenige wurden so geführt, daß ihnen das „Nimm und lies!“ geschah, aber Ungezählte haben als Leser Klarheit und Trost gefunden, sich selbst und die Freiheit, die doch in erster Linie eine Freiheit von Vorurteilen ist.

Sind auch Hunderttausende bürgerlicher Bücherschränke, angefüllt mit Erzeugnissen von Felix Dahn bis zu den Nach-kriegsrunenraunern, Denkmäler trauriger Borniertheit und Millionen anderer Bücherborde Ablageplätze schneller Vertretererfolge, so wahren doch noch immer und vielleicht mehr als früher Schränke in allen Ländern Buchrücken als Markierungen für den Weg des Lesers von der Faszination durch das Abenteuerbuch dm der Jugend bis zu den großen Einsichten des reifen Lebens.

Nicht der Konsument, sondern der Nachschöpfer werde im Leser angesprochen, der Erwecker der Wirklichkeit, der Mensch, der nicht Entspannung sucht, sondern auf ein brüderliches Wort wartet, auf daß es in ihm lebendig werde, wie seinerzeit die Zuhörer auf die wandernden Erzähler warteten, von denen einer Homer hieß.

An diesen Lesern werden die Wölfe zuschanden.

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