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Der Feind ist schwarz

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Das Bundesamt tur Arbeitsstatistik gab bekannt, daß im August 8,2 Prozent aller Nichtweißen arbeitslos waren. Das kontrastiert mit 3,9 Prozent weißen Arbeitslosen für denselben Zeitraum.

Kürzlich erläuterte Whitney Young, der geschäftsführende Direktor der Urban League, einer Organisation, deren Hauptaufgabe die Plazierung der Neger in der Industrie ist, daß das Durchschnittseinkommen einer farbigen Familie 55 Prozent des Durchschnittseinkommens einer weißen Familie entspricht. Dies ist dasselbe Verhältnis wie vor zehn Jahren. Noch mehr frappierte seine Feststellung, daß sich die Wohnungsbedingungen für die Neger in den letzten zwanzig Jahren verschlechtert hätten. Nicht nur sei die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt im Norden schlimmer geworden, sondern sie greife jetzt auch auf den Süden über. Dort wohnten nämlich bisher Weiße und Neger Seife an Seite.

Die Tatsache, daß trotz aller Bürgerrechtsgesetze Wohnungen heute noch für die Neger knapp sind, ist auf den sogenannten Urban Renewal und den Straßenbau zurückzuführen. Unter dem Urban Renewal werden die Slums niedergerissen, dafür aber Mittelklassewohnungen gebaut, die für die Neger unerschwinglich sind. In den Städten ist der Appetit des Molochs der mehrspurigen Schnellstraßen auf Wohnblöcke unersättlich, besonders in den ärmeren Vierteln. Vierteln.

Die Wohnungen, die für die Neger übrig bleiben, sind großenteüs mehr den Ratten angemessen, die frech Säuglinge in ihren Wiegen beißen, als Menschen. Wenn die Ratten fehlen muß der Mieter für eine schäbige Wohnung, in der seit Jahren nichts gerichtet wurde, bis zu 90 Dollar monatlich auf den Tisch legen. Dafür bekommt er ein kleines Wohnzimmer mit einer Kochnische und ein winziges Schlafzimmer. In der Stadt New York wird die Mietzahlung jetzt erlassen, wenn das Wohnungsamt dem Hausherrn Reparaturen vorgeschrieben hat, die dieser binnen sechs Monaten nicht aus- geführt hat. Dies ist eine sehr radikale Maßnahme für Amerika, wo bisher Hausbesitzer sehr viel mehr galten als Mieter.

Wer arm ist, ist Freiwild

Jedoch werden nicht nur die Neger, sondern die Armen überhaupt ausgebeutet. In Amerika sind die Armen Freiwild für skrupellose Geschäftsleute. Zum Teil kann dieis vielleicht darauf zurückgeführt wer-

den, daß sie indolenter zu sein scheinen als europäische Arme. Möglicherweise deshalb, weil unter dem puritanischen Ethos Armut als selbstverschuldet angesehen wird.

In New York sind Untersuchungen im Gang, inwieweit die Mittellosen durch wucherische Ratenzahlungen und betrügerische Kontrakte geschädigt wurden. Es hat sich herausgestellt, daß ein und dieselbe Ware in armen Bezirken mehr als in reichen kostet. Vor einem Senatsausschuß, der sich kürzlich mit dem Niedergang der Städte beschäftigte, stellte der Kongreßabgeordnete Adam Clayton Powell fest, daß ein Laib altbackenen Broteis, für den in Beverly Hills, einem der reichsten Vororte von Los Angeles, 10 Cent bezahlt würde, in dem Negerviertel Watts 22 Cent koste. Ähnliches hat sich in bezug auf andere Lebensnotwendigkeiten ergeben. Im letzten Jahr führten die Sozialbehörden in New York 5000 Prozesse gegen wucherische Geschäftsleute.

Am Rande sei erwähnt, daß die Neger in Harlem, einem Stadtteil New Yorks, so zusammengedrängt leben, daß man unter denselben Umständen die gesamte amerikanische Bevölkerung in den fünf Stadtbezirken New Yorks unterbringen könnte.

Präsident Johnson hat den Armen mit seinem Programm der „Großen Gesellschaft“ Versprechungen gemacht, die er heute wahrscheinlich bereut, weil der Vietnamkrieg es ihm unmöglich macht, sie zu halten. Da durch hat er Unzufriedenheit erzeugt, die soziale Gärung hervorruft. Aber auch die Versprechungen, die er halten könnte, gehen nicht in Erfüllung. So war den Armen versprochen worden, daß sie selbst die Vorkehrungen zur Besserung ihrer Lebensverhältnisse treffen könnten. Damit waren aber die städtischen Rathäuser nicht einverstanden, die sowohl die Kontrolle über die Armen behalten als auch ihren An-hängern die damit verbundenen einträglichen Postchen zuschanzen wollten. Es geht nämlich ein unverhältnismäßig großer Teil der für das Programm bestimmten Gelder auf Gehälter auf. Dabei spielte ihnen die Apathie der Armen, die den Wahlen, in denen sie ihre Fürsprecher wählen sollten, fernblieben, in die Hände. Washington aber, das durch den Vietnamkrieg auf jede politische Unterstützung angewiesen ist, konnte sich einen Konflikt mit den meistens demokratischen „Bossen“ in den Städten nicht leisten. Auch die Tatsache, daß das, was an schöpferischer Substanz in der Johnson- Administration noch enthalten ist, auf den Krieg konzentriert wird, wobei alles andere zu kurz kommt, schadet den Armen. Schließlich werden diese durch die Inflation besonders getroffen. Dabei ist es noch erstaunlich, daß die Preise nur um 3,5 Prozent gestiegen sind, nachdem die Gewinne sich im letzten Jahr um 8,2 Prozent erhöht haben.

Die Neger als Vorhut der Armen

Die Neger sind das Hauptelement der sozialen Gärung, denn sie sind zur Vorhut der Armen geworden. In seinem schon erwähnten Vortrag wies Young darauf hin, die Neger hätten große Geduld gezeigt, aber diese müßte nun endlich belohnt werden. Ihr Korrespondent fragte ihn hinterher, ob sich Geduld überhaupt in einer auf Darwinistischen Prinzipien aufgebauten Gesellschaft, wie der amerikanischen, bezahlt mache. Folgerichtig kam das Gespräch auf das gegenwärtig sehr moderne Schlagwort „Black Power“ (Schwarze Macht). Seitdem einige radikale Negerführer diese Bezeichnung geprägt haben, stellen sich viele Weiße darunter alles Mögliche, nur nichts Gutes vor. Seitens verantwortlicher Negerführer wird dieser Begriff jedoch einfach als Bündelung der farbigen Wahlstimmen zugunsten ihrer Kandidaten verstanden. Bisher waren die Neger zu uneinig und zu verschüchtert, als daß man von einem schwarzen Wahlblockhätte sprechen können. So verstanden, fällt dieser Begriff durchaus nicht aus dem Rahmen des amerikanischen politischen Vokabulariums. Der Erwerlb politischer Macht ist die conditio sine qua non für den Aufstieg jeder Minderheit.

ich fragte daher Mr. Young, ob nicht Power wichtiger als Geduld sei. Der Negerführer war anderer Ansicht. „Wir sind daran“, sagte er, „in Massachusetts einen der Unseren zum Senator zu wählen, obwohl wir dort nur fünf Prozent der Stimmen haben.“ Er bezog sich auf den Leiter der staatlichen Justizverwaltung, Edward Brooke, den republikanischen Kandidaten für den US-Senat. „Was nützt es uns“, meinte Young, „wenn wir in Lowndes county (wo die Freedom Party ihren Rückhalt hat) die absolute Mehrheit haben, so lange wir überall sonst auf die Hilfe der Weißen angewiesen sind?“

Wer kämpft für die USA?

Unyermeidlicherweise wurde auch der Krieg in Vietnam besprochen. Stocky Carmichael, der Führer einer radikalen Gruppe, predigt landauf, landab, daß der Krieg das größte Hindernis für die Erreichung voller Gleichberechtigung sei. In Verbindung damit steht die Forderung, daß, wenn die USA, wie sie vorgeben, den Krieg zu Gunsten der Südvietnamesen führen, sie entsprechende Ausgaben für die amerikanischen Neger auf sich nehmen sollten. Young war dagegen, daß sich die Urban League entweder für oder gegen den Krieg festlegt. Die farbigen Soldaten würden sich verraten und verkauft Vorkommen, wenn alle Negerorganisationen Stellung gegen den Krieg bezögen. Beinahe 15 Prozent der in Vietnam kämpfenden Soldaten sind farbig, bei einem Anteil von 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Bei den Gefallenen beläuft sich ihr Anteil sogar auf 18 Prozent. Carmichael nennt die in Vietnam kämpfenden Neger Söldner und vergleicht sie mit den Hessen, die die Engländer im Kampf gegen die Kolonisten gekauft hatten.

Bei der schon erwähnten Untersuchung des Senatsausschusses verglich ein weißer Schriftsteller die Gefühllosigkeit des Durchschnitts- amerikaners gegenüber den Verhältnissen im den Slums mit der „guter Deutscher unter den Nazis“. Eine beträchtliche Verhärtung der Weißen gegenüber den Negern ist offensichtlich. Der zu früh vorausgesagte „white backlash“ (die negative Reak tion auf die Forderungen der Neger) ist nun Realität geworden.

Die erklärten Hauptfeinde der Neger sind die Leute, die eine Stufe über die Armut hinausgekommen sind, deren Besitz aber zu bescheiden ist, als daß er ihnen Sicherheit gibt. Aus solchen Leuten setzten sich die haßtriefenden Gegendemonstranten in Chikago zusammen. Unter ihnen taten sich die Einwohner von Cicero, eines schlecht beleumdeten Vorortes von Chikago, die größtenteils böhmischer Abstammung sind, hervor. Sie gewährtem seinerzeit Al Capone Zuflucht. Aber letztes Jahr erschlugen sie einen 16jährigen Neger, der Arbeit suchte. Eine Hausfrau sprach die Gefühle ihrer Mitbürger aus, als sie sagte: „Wenn ein Nigger es wagen würde, mein Nachbar zu werden, jagte ich ihm eine Kugel in den Schädel.“

Daß unter solchen Individuen die Amerikamische Nazi Party und die ihr an Brutalität nur wenig nachstehende States Rights Party Anhänger findet, ist nicht verwunderlich. Mit ihrer Vorliebe für das Bizarre und den Konflikt haben die amerikanischen Zeitungen die Rolle der Nazis bei den Demonstrationen in Chikago ungebührlich hoch-

gespielt. Es blieb aber noch genug übrig, um dem oben erwähntem Vergleich mit den Deutschen eine neue Dimension zu geben. An den Demonstrationen waren übrigens viele Leute beteiligt, die demonstrativ ihren Katholizismus herausstellten, was sie natürlich nicht davon abhielt, Pfarrer, die für die Neger eintraten, obszön zu beschimpfen.

Aber auch die Oberschicht ist gegen die Neger feindseliger geworden. Dabei dienen ihr die Demonstrationen der Neger zur Entschuldigung. Anderseits haben die Neger mit den Demonstrationen häufig sehr schnell das erreicht, was jahrzehntelanges Bitten ihnen nicht eingetragen hat. Ebenso ziehen viele Juden sich von den Negern zurück, weil letztere von den Geschäftsleuten, die sie übers Ohr hauen, die jüdischen am meisten hassen.

Auch unter den Amerikanern mexikanischer Abstammung wird die Unzufriedenheit größer, weil sie faktisch nicht besser gestellt sind, als die Neger. Sie traten bisher weniger hervor, weil es ihnen an Führern mangelte, die an Energie und Charisma denen der Neger gleichkam. Das scheint sich jetzt zu ändern.

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