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Der Fremde

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Einiges mögt ihr ja über ihn wissen, aber nicht viel. Ich weiß mehr über ihn. Stellt eure Biergläser nieder und schraubt die Lampe herab, dann will ich euch von ihm erzählen. Denn er war ein echtes Kind seiner Zeit, auf die wir doch alle insgeheim stolz sind.

Ich war dabei, als er an einem Regentag im Frühling auf dem Fährschiff über den See gefahren kam. Es regnet ja oft bei uns hier oben in den Bergen. Er sah aus wie alle anderen Touristen auch, mit seinem grauen Trenchcoat und wenigen Gepäck, ohne Hut oder Mütze. Er lehnte an der Reeling und blickte über den grauen See hin und sah den Regentropfen zu, die mit leise klingendem Aufschlag hineinfielen. Einige frühe Schwalben schwärmten dicht über dem Wasser.

Man sah ihm gleich an, daß er mit seinem Leben nichts anzufangen wußte, mit seinem Leben nicht und nicht mit den seltsamen und wundervollen Gaben, die ihm das Geschick verliehen. In seinen grauen Augen lag schon damals jene abgründige Traurigkeit, er hatte von Beginn an diesen Blick, der allem und jedem mit völliger Erwartungslosigkeit begegnete, ohne Hoffnung und ohne Furcht. Nur völlig einsame Menschen haben diesen Blick.

Dann saht ihr ihn eineinhalb Jahre umhergehen und unter euch leben und seine seltsamen und oft wunderlichen Handlungen begehen. Ihr verstandet ihn freilich nicht, und da ihr ihn nicht kanntet, mußtet ihr alles mißdeuten und mißverstehen.

Dennoch war ein gewisser Sinn in allem was er sagte und tat, Untersinn freilich, nicht sofort offenbar. Untergründig war sein Wesen, von weither kam er zu uns, aus fremder Welt, keine Wurzeln schlug er in unserem derben und tüchtigen Boden. Wißt ihr noch, stundenlang starrte er auf dem Marktplatz die spielenden Kinder an. Er war ihnen unheimlich, dennoch liebten sie ihn auf scheue Art, kamen zu ihm und er beschenkte sie. Oder er lehnte an der Hauswand wenn der blinde Matthias, der Veteran, auf der Geige spielte, und sah der untergehenden Sonne nach, die sich im See spiegelte. Woran dachte er dann? Wißt ihr es?

Selten lächelte er. Aber als der Fleischhauer seinen Hund mit dem Hackenstiel schlug, sprang er dazwischen und stieß den Starken Mann zu Boden. Seither folgte ihm die Dogge und schlief nachts vor der Tür des Gasthofes, in dem er wohnte.

Obgleich er fremd in unserer Gegend war, ahnte er das Wetter des nächsten Tages. Er „roch“ Hagel, Gewitter und Sturm. Er war es auch, der jene Wasseradern im Gebirge fand, mit denen seither die Almen bewässert werden, wodurch Mensch und Vieh gedeiht. Ihr habt es nicht wahrhaben wollen. Ihr dachtet und man redete euch ein, er wäre ein Scharlatan; der Doktor und der Drogist sagten es euch und ihr glaubtet es ihnen. Er aber war das Gegenteil eines Scharlatans. Doch es ist wahr, er wußte mit seinen großen Gaben ebensowenig anzufangen wie mit seinem ganzen Leben, das zu Großem berufen schien.

Was war das nun für ein Leben — wißt ihr es? Ihr ahnt es nicht, könnt es nicht wissen. Freilich, wenn im Wirtshaus von Krieg und Gefangenschaft, von Unterdrückung, Befreiung, gehabten Leiden und vollbrachten Taten die Rede war, schwieg er und sah an ihnen vorbei, die da sprachen. Sollte er sich von den heimgekehrten Dörflern Abenteuer berichten lassen? Er war im spanischen Bürgerkrieg gewesen und in den Minen von Peru und Kolumbien, er kannte das alte Marseille und La Guayra — sollten ihm die Soldatenhistörchen von der Besetzung in Frankreich gefallen? Er war auf den Uebersee-tankern gefahren und hatte unter den Heizern der großen Dampfer gearbeitet, unter abgebrühtem, aus vielen Gefängnissen entlaufenem, wüstem Gesindel. Wer dort mißliebig wird, dem fällt gelegentlich aus Versehen ein schwerer Schraubenschlüssel auf den Schädel, daß er auf immer das Denken vergißt. Und er kannte die Hospitäler an der karibischen Küste, wo Malariakranke wimmern und die Medikamente so selten sind wie die Güte des Herzens.

Was sollte er hier, warum kam er hierher, was erwartete er? Wißt ihr es? Er trat in das Haus des reichen Sägcmüllers Wcninger und vor ihn hin und sagte: „Lackmus läßt grüßen!“ Weninger wurde bleich und bat ihn, sich niederzusetzen. Er blieb stehen. Er ließ nicht mit sich reden. „Geh hin und stelle es richtig!“ sagte er, „sonst wirst du keine gute Stunde mehr haben.“ Aber der reiche Mann ging nicht hin und stellte nichts richtig. Was hätte er richtigstellen sollen, der wohlhabende, angesehene Bürger des Ortes?

Hört zu! Einst gab es drei junge Burschen, die waren bettelarm und hatten nichts zu verlieren, aber sie glaubten an ihren Stern. Ein Holländer, der hieß Lackmus, ein Mann aus Bremen, der hieß Permaneder, und dann Weninger hier, aus unseren biederen Bergen. Damals fand man Diamanten und viel Silber in gewissen Gegenden Südamerikas, als es dort noch nicht elegant und feudal war. Da zogen die drei Musketiere dorthin, und es heißt, sie fanden viel Reichtümer zusammen. Wie es aber so geht, kam manches dazwischen. Hader brach aus in den tropischen Sümpfen und Lackmus wurde ermordet. Weninger flüchtete, aber Permaneder wurde gefangen und wegen Mordes verurteilt. In einem hol--lischen Fieberwinkel von Venezuela müssen die Sträflinge Wälder roden und Sümpfe trockenlegen — von 100 bleiben immer gerade 30 am Leben. Auch der Fremde war eine kurze Zeit dabei, dort lernte er Permaneder kennen und erfuhr seine Geschichte und erkannte bald, daß er unschuldig büßte. Da zog er aus, um den wahren Mörder zu einem Geständnis zu bewegen, und so kam er hierher.

Aber Weninger fand nicht, daß es etwas richtigzustellen gäbe, dieser reiche und mächtige Mann mit seinem Sägewerk und seiner Bäckerei, seinem Fährschiff und den sieben Häusern, in denen ihm die Tagwerker Zins zahlen mußten. Er bereinigte nichts und ließ den armen Hund weiter unschuldig in den Sümpfen roboten. Aber wahr ist, er hatte keine gute Stunde mehr. Er versank in Grübeln und wurde krank, eine rätselhafte und unbekannte Krankheit hatte ihn ergriffen und er siechte dahin. All sein Reichtum nützte ihm wenig. Denn der Fremde durchbohrte mit seinen Gedanken seine dicksten Mauern und, wie das Pfeilgift der Indianer schwelte das böse Gewissen in ihm. Wenn er auf den Marktplatz trat und des Fremden ansichtig wurde, begann er am ganzen Körper zu beben, und am Ende ging er überhaupt nicht mehr aus.

Solch unheimliche Kräfte lebten in dem Fremden. Er konnte sie zum Guten oder auch zum Bösen gebrauchen, es lag allein an ihm. Aber selber hatte er keinen Nutzen davon. Der Hund des Fleischhauers und einige Invaliden und Bettelkinder, das waren seine Freunde, sie hingen an ihm und er beschenkte sie. Er scherzte nicht und tanzte nicht, und wenn er trank, dann tat er es schweigend und eigensinnig lautlos, bis er leicht schwankend aufstand, zahlte und ging. Wer ihm dann in der Nacht begegnete, erschrak, denn seine Augen brannten wie zwei rote Fackeln in der Dunkelheit.

Er war ein echtes Kind seiner Zeit, einer Zeit, die aus ihren Geleisen geriet. So war auch er aus seinen Geleisen geraten, was suchte er, hier oder anderswo? Einen Sinn, ein Ziel, eine Aufgabe — am Ende nur einen Menschen, der ihn liebte, der ihn verstand, ihm verzieh! Er konnte ihn nirgends finden. Nur der Schlächterhund und die Invaliden und Bettelkinder hingen ihm an. Die Frauen mieden ihn und er mied sie. Außer einer, die er gerne sah — ihr alle kennt diese Geschichte. Es war sein großes Unglück, daß es gerade die Tochter seines Feindes sein mußte, den er verdarb.

Dieses Ziel zumindest erreichte er. Weninger starb. Auf dem Totenbett gestand er erst den Mord. Es war zu spät, denn damals war Permaneder schon im Dschungel verkommen und tot. Es ließ sich nichts mehr bereinigen. Es war alles viel schlimmer geworden. Die Musketiere waren nun alle drei tot und der Rächer ging beschäftigungslos umher.

Eineinhalb Jahre waren vorübergegangen und es war Herbst. Nebel lag über den Bergen. Da stand er wieder auf dem Fährschiff, das über den See fährt, und sah den Wildenten zu, die wiedergekehrt waren. Von ferne wurde das Alphorn geblasen. Die Almen waren entvölkert vom scheckigen Vieh. Gedachte er da jener Wasserader, die er gefunden? Er fuhr davon und sah aus wie jeder andere Tourist. In seinen Augen lag der Glanz völliger Erwartungslosigkeit. Alles, was es zu erleben gab, hatte er längst erlebt. Krieg, wucherndes Unrecht, Empörung gegen Gewalt, Tropendschungel und Heizräume der Dampfer, hie und da ein paar gütige Augen,eine streichelnde Hand, ein wenig Rosenduft und den Geruch gemähter Bergwiesen, das Läuten einer Bergkirchenglocke am Sommerabend über dem See. Nirgends war er daheim. Keine Wurzeln konnte er schlagen im fremden, überall fremden Land. So ging der Heimatlose hinaus, wie er gekommen war.

Ihr könnt jetzt die Biergläser wieder anheben und die Lampe wieder hinaufschrauben, denn sie ist nun zu Ende, diese Geschichte von dem Fremden, der ein echtes Kind seiner Zeit war.

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