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Vom Banat nach Berlin: Herta Müllers unvergleichbare Sprache der Diktatur-Erinnerung.

Nach zwei Jahren Leben und Arbeiten in der Sowjetunion, nach vielen Gesprächen mit Menschen aus den (ex-)kommunistischen Ländern vor und nach der Wende und nach dem Lesen zahlreicher Bücher habe ich geglaubt, etwas zu verstehen vom Leben unter der Diktatur. Herta Müllers Buch hat mich eines anderen belehrt. Es sind nicht nur die grellen Details aus der Ceausescu-Diktatur, die man nicht mehr aus dem Gedächtnis verliert: dass Menschen, die aus Rumänien fliehen wollten, in der Donau mit Schiffen gehetzt und absichtlich von Schiffsschrauben zermalmt wurden. Es ist der Alltag derer, die im Land und am Leben geblieben sind, dem dieses Buch eine bleibende Sprache gibt. Eine unverwechselbare Sprache, die alle Segmente des Denkens und Fühlens ausleuchtet und in immer neuen Brennpunkten zeigt, dass nichts, aber auch gar nichts unberührt blieb von der totalitären Diktatur: keine Liebes- oder Familienbeziehung, keine Freundschaft, kein "individuelles" Leben und keine Kindheitserinnerungen. In Herta Müllers Prosa wird klar, "daß die Landschaft sich aus dem Staat nicht heraushalten läßt". Die Landschaft ist kein Refugium, kein Trost, sondern Provokation: "Die Landschaft zeigte, wie egal es ihr ist, was mit den Menschen geschieht." Zwischen Verhören, unter Lebensgefahr, ändert sich der Blick auf die blühenden Dahlien.

Nein, Herta Müller erzählt uns keine alten Geschichten, die wir in weiter Ferne glauben, weil sie uns nie betroffen haben. Sie nimmt unsere westeuropäische Harmlosigkeit beim Wort, schaut genau hin auf die bunten Versprechen der Plakate und die munteren Werbesprüche und liest sie mit ihren Erfahrungen. Der touristisch vermarkteten Inselsehnsucht hält sie entgegen, was es bedeutete, in einem Inselland zu leben und selbst zur Verinselung gezwungen zu sein. Den Ästheten, die den "fremden Blick" des Schriftstellers feiern, hält sie, die 1987 nach Berlin ausgereist ist und dort noch drei Jahre mit Morddrohungen gelebt hat, entgegen, dass ihr fremder Blick aus ihrer Biografie kommt. Und dass es ein Recht gibt, von dieser Biografie zu schreiben, wie ja auch Schriftsteller aus Deutschland von Zeiten schreiben, die noch viel weiter zurückliegen.

Nein, Herta Müller betreibt nicht "Vergangenheitsbewältigung", will nicht "aufarbeiten", dazu misstraut sie der Sprache zu sehr. "Es ist nicht wahr, dass es für alles Worte gibt", heißt es schon im ersten Essay, und "Den Glauben, das Reden komme den Wirrnissen bei, kenne ich nur aus dem Westen [...] Auch den Glauben, was keinen Sinn hat, hält man nicht aus, kenne ich nur aus dem Westen." Auf den Schrecken der eigenen Erfahrungen bezogen heißt das: "Nachdenken, Reden, Schreiben sind und bleiben Behelfsmäßigkeiten, das Vorgefallene treffen werden sie nie, nicht einmal ungefähr." Aber Herta Müller hat ein klares Maß für ihre Sätze: die Vorstellung, "Daß die, die mir viel bedeuten, mitlesen, auch wenn sie schon tot sind, besonders wenn sie tot sind." Es sind nicht wenige, die tot sind, und meist waren es getarnte Selbstmorde.

Herta Müller verhindert, dass sich das Entsetzen des Lesers zur beruhigten Übersicht so genannten Verstehens ordnet. "Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: Kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht." Ob sie uns in ihre Banater Dorfwelt und Kindheitslandschaft entführt oder in einen Kindergarten unter Ceausescu: Es ist dieser stumme Irrlauf, der einen nicht loslässt und das, was erst ein gutes Jahrzehnt zurückliegt, nicht in die Truhe Vergangenheit sperrt.

DER KÖNIG VERNEIGT SICH UND TÖTET

Von Herta Müller. Carl Hanser Verlag, München-Wien 2003, 203 Seiten,

geb., e 18,50

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