Der freundliche Missionar der Kunst

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Der Wuschelkopf war sein Markenzeichen. Die wild in alle Richtungen vom Kopf abstehenden Haare zeigten an, dass da ein Mensch war, der ständig unter Strom stand. Tatsächlich war er ein Getriebener, der in allen Kunstformen zu Hause war. Ob Film, Fernsehen, Theater und Oper, bildende Kunst, Installation, Performance und politische Aktion, beinahe alles, was er anfasste, geriet ihm zur Kunst. Dabei wirkten seine Offenheit, Andersartigkeit, sein Ringen um Wahrhaftigkeit, seine überbordende Kreativität und sein ansteckender Enthusiasmus auf viele elektrisierend. Mit einer ungeheuren Energie bis zuletzt erläuterte er wortreich, mit Poesie, Witz, Ironie und Charme, Sinn und Bedeutung seine Werke. Das war nie besserwisserisch, belehrend, sondern stets als Angebot gedacht, um uns zum Denken zu bewegen, uns empfindsamer zu machen. Denn Christoph Schlingensief wollte nicht weniger als helfen. Er glaubte an das menschenfreundliche Potenzial der Kunst und damit an ihre weltverbessernde Kraft und daran, dass man die Welt verändern muss, und sogar, dass man sie verändern kann. Er war ein liebenswürdiger Mensch mit einem ausgeprägten sozialen Gewissen. Und so sah er seinen Auftrag als Künstler im Dienst an der Gemeinschaft und in der Kunst eine soziale Plastik. Immer wieder versuchte er durch Provokationen, die allzu oft als egomane Selbstinszenierungen missverstanden wurden, gesellschaftliche Fehlentwicklungen, aber auch Verschüttetes und Verdrängtes zu thematisieren. Dafür erntete er oft aggressive Ablehnung. Aber der Tabubruch war ihm nicht Zweck, sondern Mittel, die apathische Gesellschaft wachzurütteln, sie aus ihrer Lethargie heraus zu aktivieren. Er konnte nicht anders. Seine Kunst sollte nicht in den Tempeln verpuffen, sondern stets in den Alltag durchschlagen.

Angefangen hat er mit dem Filmemachen. Schon im Alter von zehn hat er seinen ersten Film gedreht. 1993 holte ihn Frank Castorf an die Berliner Volksbühne. Seine Inszenierungen waren freilich nie Theaterstücke im konventionellen Sinne, sondern materialreiche Gesamtkunstwerke oder im Stile aktionistischer Happenings. Auch in Österreich war er oft zu Gast. Höhepunkt war sicher seine sechstägige Container-Aktion vor der Staatsoper bei den Wiener Festwochen 2000, als er mit der Aktion „Ausländer raus – Bitte liebt Österreich“ dem Land und der Welt mit drastischer Deutlichkeit die heimische Fremdenfeindlichkeit und Asylwerber-Wegschaffungspraxis zeigte.

Im Januar 2008 dann die Diagnose Lungenkrebs. Von da an bestimmte die Krankheit auch sein Schaffen. In „Mea Culpa“ oder „Via intoleranza II“ hat er den Krebs und die Angst vor dem Sterben, Gott und Glaubensfragen zum Zentrum gemacht. Sogar ein Buch hat er noch geschrieben, ein trauriges, schaurig schönes Tagebuch seiner Erkrankung: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!“ ist eine Schrift gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens, für die Hoffnung, für das Leben. Immer wieder hadert er darin mit Gott, beschimpft ihn, will an ihn glauben, kann ihn nicht finden. Und immer wieder die Frage, auf die es keine Antwort gibt. Warum? Warum ich? „Und das, lieber Gott, ist die größte Enttäuschung. Dass du ein Glückskind einfach so zertrittst.“

Jetzt hat ihn der Himmel doch viel zu früh abberufen. Möge er ihn gewaltig durcheinander wirbeln. Hier wird er entsetzlich fehlen. Christoph Schlingensief ist vergangenen Samstag in Berlin mit nur 49 Jahren gestorben.

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