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Der Fußball Vasilios V.

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I.

Von manchen Ereignissen seiner Kindheit weiß Vasilios V. gar nicht mehr, wie sie sich zugetragen hatten. Er weiß aber genau, daß er vier Jahre alt war, als er betteln gehen mußte, und er sagt, er könnte heute noch die Türen bezeichnen, an denen er Brot zu essen bekam. Das alles geschah im Griechenland der Vergangenheit, des Krieges und des Bürgerkrieges, was Vasilios widerfuhr. Als der rote General Markos im Bürgerkrieg Kinder zusammenfängt, um sie in die Volksdemokratien zu deportieren, sind sowohl Vasilios als auch seine Geschwister dabei. Nur wissen sie hernach nichts mehr voneinander. Vasilios wird in ein rumänisches Waisenhaus gesteckt und ist einer von 1800 Insassen, deren Nahrung zumeist aus Mais in verschiedenster Form besteht. Das ist im Jahre 1949, Vasilios zählte elf Jahre und hat auf der weiten Welt weder Vater noch Mutter, doch irgendwo, welcher Stern weiß es, der nachts zum Fenster her- einsc'haut, auch Geschwister.

Eines Tages heißt es im Waisenhaus antreten, die wenigen Siebensachen mitnehmen und zum Zug marschieren. Als Marschverpflegung gibt es einen Kübel Wasser, das ist zwar etwas wenig für die Reise nach Leningrad, wohin, ohne es zu wissen, die Kinder hinkommen — aber sie überstehen diese menschenfreundliche Umgruppierung. Vasilios, und nicht nur er, sondern insgesamt 2800 Kinder aus dem fernen Griechenland, leben nun in einem Monstrum von Anlage, die offenbar einmal zur Zähmung und Erziehung der russischen Bürgerkriegskinder, der Besprisor- nis, gedient haben mochte.

Denn in den 32 Steingebäuden, umgeben von Mauern und Stacheldraht, bewacht von einer Polizeigruppe, gibt es richtige Lehrwerkstätten für verschiedene Berufe. Das Essen ist gut. Die Behandlung rauh und streng, und vor allem wird den Kindern die gehörige Portion politische Erziehung beigebracht. Wenn um halb sieben die Trompete schallt, heißt es antreten, und der am Mast steigenden Fahne und Lenin-Stalin seine Reverenz erweisen. Das Frühstück ist reichlich und besteht aus Tee oder Kakao, Marmelade. Butter und Brot, Ernährungssorgen kennen die nach Geschlechtern getrennten Kinder der verschiedensten Altersstufen nicht mehr. Trotzdem: immer wieder versuchen im Sommer einzelne über die Mauern zu huschen und im nahen Fluß zu (baden. Dafür bekommen sie es mit dem Besen, und es werden ihnen zur Strafe die Kleider weggenommen. Wie man sieht, rauhe, aber sowjetherzliche Erziehungsmethoden, und am freien Tag (ob es der Sonntag war. weiß Vasilios nicht) gibt es gelenkte Unterhaltung bei Ausflügen — vorausgesetzt, daß es die Jahreszeit zuläßt.

Vasilios ist jung, und das Lehrlingsein in der Sonderanlage ist nicht an irgendwelche Jugendschutzgesetze gebunden. Also lernt er zunächst Fleischhauer und später, weil ihm das besser gefällt, Automechaniker. Als er die Lehrzeit hinter sich hat, ist er ein fertiges „Staatskind" und wird nun mit dem Ausweis eines solchen nach Budapest geschickt. Soll er in diesem westlichen Ausland nachsehen, wie sie dort Autos zusam- meribauen.

Und in Budapest geschieht etwas romanhaftes: Ein Homosexueller bietet Vasilios sein Quartier an, Vasilios nimmt harmlos an. aber in der ersten Nacht, als er dort wohnen soll, wird sein Quartiergeber in einem Wirtshaus im Streit mit einer Flasche erschlagen. Die Budapester Polizei ergreift auch den Griechen, sein Name kommt in die Zeitung, weil Verdachtsmomente bestehen, die sich als unbegründet erweisen — aber gerade die öffentliche Nennung seines Namens in der Presse bewirkt, daß sich die gleichfalls in Budapest lebende Schwester und der Bruder wiederfinden.

II.

Die Ungarn hatten nichts Eiligeres zu tun, als das „russische Staatskind“ Vasilios, das ja in Wirklichkeit ein Grieche war, also ein unerwünschter Ausländer, nach Rußland zurückzuschicken. Es gelingt aber Vasilios am Ende doch, wieder nach Budapest zurückzukehren, jetzt bei der mittlerweile verheirateten Schwester zu wohnen und als Automechaniker zu arbeiten. Mit den Griechen in der Stadt hält er Kontakt.

1956 glauben diese einst verschleppten und durch die Welt getriebenen Menschen, die ungarische Revolution sei nun der Zahltag für vieles, beteiligen sich am Aufstand. Im Jänner 1957 wird Vasilios verhaftet. Und nun kommt ein weiteres interessantes Erlebnis im Leben des Griechen. Zwei Jahre später bringt ihn die AVO kurzerhand an einen „passagefreien“ Punkt der österreichischen Grenze, sagt ihm, wo es da hingehe und schickt ihn, mit einem kräftigen Tritt und ohne Papiere, auf Oesterreich-Reise. Budapest kann wieder einen lästigen Markos-Griechen von seiner Liste streichen.

III.

Die österreichische Staatspolizei hält den auf so sonderbare Weise ins Land Gekommenen einmal zwei Monate in Haft, um zu sehen, was da dahinter sei. Als sich nichts dahinter zeigt, bekommt er eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis, wird zunächst von den Griechen in Wien als Grieche anerkannt, arbeitet in einer griechischen Studentenmensa, erhält auch ein kleines Entgelt und kleine Unterstützungen vom griechischen Pfarramt am Fleischmarkt. Und wieder tritt eine seltsame und unbegreifliche Wendung in Vasilios Leben ein: als er einmal ein Papier will, um damit als Grieche bei der österreichischen Polizei seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, erhält er vom Konsularbüro der Botschaft eine Bescheinigung folgenden Textes:

„Das Konsularbureau der Kgl. Griechischen Botschaft in Wien bescheinigt hiermit, daß Vasilios Valiakos, Flüchtling aus Ungarn, nicht die griechische Staatsangehörigkeit besitzt.

Diese Bescheinigung wird auf Antrag des Interessenten zwecks 'Vorlage bei Behörden ausgestellt.“

Das geschah in Wien am 10. Juni 1959, und man könnte, liest man den Text, den Eindruck haben, Vasilios habe um eine Bestätigung ersucht, daß er Nicht grieche und ungarischer Flüchtling sei! Wir nehmen an, daß da dem Konsularbüro ein Kunstfehler passiert ist.

IV.

So ist also Vasilios ein Fußball zwischen Mächten und Weltmächten im Zeitalter der LINO, der Menschenrechtsdeklarationen, des Weltflüchtlingsjahres und der Weltjugendfestspiele zu einem Nichts, zu einer Un-Person geworden. Soll er nun bei den Weltjugendspielen als Russe, Ungar oder Grieche fröhlich teilnehmen? Soll er weinen über die Handlungsweise der Wiener Behörden seines Vaterlandes oder soll er sie verfluchen? Soll et aus Rache erst recht Bolschewik oder soll er Faschist werden, oder ein Mann, der sagt: am besten, du verläßt dich auf eine Faust und ein Messer, oder soll er seinem Leben auf rascheste Art ein Ende machen? Sein grausames Schicksal ist eine grelle Arabeske zum Weltflüchtlingsjahr.

Derzeit lebt Vasilios in einem Wiener Caritas- heim. Er ist unruhig und unzufrieden. Er gerät in eine schwere innere Krise. Er möchte nicht einfach bei einem Gärtner arbeiten, weil dort gerade eine Arbeitsmöglichkeit ist. Er möchte als Automechaniker arbeiten, er hat Angst, daß ihn die österreichische Polizei weiterdribbelt, diesen Menschenfußball, er möchte wissen, wo sein Vaterland ist. Er möchte wissen, wo er hingehört, in diesem Jahrzehnt, in dem so viele Festredner und Festschreiber von einem Menschentum faseln, das man ihnen weniger glaubt denn je.

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