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Der gläserne Sarg

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III. NUR IM TODE SEITE AN SEITE MIT STALIN

Lenin war nicht von großer Statur. Stammig, mit etwas geknickten Knien stehend, mit charakteristischem Kopf, fiel er trotzdem immer wieder auf. Niemand hat das russische Volk mit solcher Schärfe und Unbarmherzigkeit kritisiert wie Lenin. Niemand hat jede Art von Nationalismus, selbst nur eine Andeutung, auch des russischen, so gehaßt wie Lenin. Und trotzdem — Lenin selbst wirkte urrussisch, eben aus seiner russischen Selbstsicherheit heraus konnte er so scharf urteilen. Dem Juden Trotzky und dem Georgier Stalin fehlte gerade diese Selbstsicherheit. Und das hat sich in ihrem Leben verhängnisvoll ausgewirkt. Selbstsicherheit war überhaupt der hervorspringendste Zug Lenins. Bei einer Meinung, die er durchdacht und verkündet hatte, blieb er, keine Einwände konnten ihn davon abbringen. Diese Selbstsicherheit verbreitete um ihn schon in jungen Jahren die Atmosphäre einer führenden, autoritären Persönlichkeit, eines Eindruckes, dessen sich niemand entziehen konnte, der mit ihm in Berührung kam. Die Schärfe seiner politischen Äußerungen standen überdies im Widerspruch mit der Liebenswürdigkeit und Güte im rein persönlichen Verkehr. Eine hervorstechende Eigenschaft war auch seine große persönliche Bescheidenheit. Er lebte persönlich bescheiden, erlaubte niemandem in seiner Gegenwart allzu große Lobpreisungen, ja, wünschte nicht einmal, daß ihm jemand in den Mantel half. Die Demokratie in der Partei war ihm noch ein echtes Anliegen. Wiederholt unterwarf er sich den Mehrheitsbeschlüssen des Politbüros, obwohl er persönlich bei seiner Meinung blieb. Im Gegensatz zu anderen führenden Parteigenossen paßte er sich auch nie dem Geschmack der Masse an. Er trug immer Kragen und Krawatte, Schnürschuhe, die das russische Volk als Kleidungsstück nicht kannte, und einen Hut. Alles etwas salopp, die Hosen un-gebügelt, so wie es sich übrigens für einen seriösen russischen Intelligenzler gehörte.

Auch als Chef von Partei und Regierung im Sowjetstaate war Lenin von einer empfindlichen und pedantischen persönlichen Sauberkeit. Er vermied es, für sich auch nur den kleinsten Vorteil aus seiner Stellung herauszuschlagen. Karl R a d e k, der bolschewistische Publizist, der einst mit Lenin in Zürich lebte und später mit ihm nach Rußland reiste, erzählte darüber ein charakteristisches kleines Ereignis. Lenin hatte eine große Schwäche. Er trank furchtbar gerne Bier, und zwar das im Westen gebraute. Hier wich er manchmal von seiner Mäßigkeit ab. Radek erzählte, daß er in Zürich gelegentlich über den Durst trank und dann, gut gelaunt, ein Lied vor sich summend, die Treppe in seine Wohnung hinaufstieg. Nun gab es in Rußland zur Zeit der Revolution kein Bier. Als die deutschen Truppen aus der Ukraine und aus Südrußland abzogen, erbeuteten die nachstoßenden roten Truppen in Rostow am Don ein Fäßchen exquisiten Bieres. Man schickte es nach Moskau, und die Umgebung Lenins beschloß sofort, dieses Fäßchen Bier dem Führer der Revolution zuzuhalten. Wie sollte man das jedoch machen? Man wußte genau, daß man dieses Fäßchen nicht als Beutestück präsentieren durfte. Denn dann hätte er es bestimmt abgelehnt. So verfiel man auf eine fromme Lüge. Einer aus diesem Kreise, der auf einer kurzen Dienstreise im Ausland war, erklärte, er habe dieses Fäßchen als persönliches Geschenk für seinen Freund Wladimir Iljitsch mitgebracht. Und so fand das Geschenk Gnade.

Indes gab es zwei Lenin.

Wo es sich um die Revolution handelte, war Lenin hart, mitleidlos und beinahe zynisch. Wenn es um den Vorteil der Revolution ging, dann schwiegen bei ihm alle moralischen oder Sauberkeitsbedenken. Für die Partei nahm er von überall her Geld an, vom Multimillionär und Textilkönig Morosow, ebenso von Schmuggelaktionen. Die sozialistische Partei, der Lenin offiziell angehörte, verbot ihren .Anhängern strikte die sogenannten Expropriationen, die Raubüberfälle auf Banken und Postämter. Als aber Stalin einen solchen erfolgreichen Raubüberfall in Tlflis durchführte, wurde er zwar von der gemeinsamen Parteileitung gerügt, Lenin jedoch benützte das geraubte Geld für die Interessen seiner eigenen bolschewistischen Gruppe.

Ebenso wie die westlichen Sozialdemokraten lehnte auch die russische Sozialdemokratie den individuellen Terror, die Attentate auf Staatsmänner oder sogar den Zaren ab. Auch Lenin tat dies, weil sie der marxistischen Lehre widersprachen. Bei den übrigen Sozialisten gab es diesbezüglich auch moralische Überlegungen. Der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, verzieh es seinem Sohn Friedrich nie, daß er den österreichischen Ministerpräsidenten, Graf Stürgkh, erschossen hatte. Mord bleibt Mord, sagte der alte Sozialist. Lenin lehnte diese Attentate als u n-z weckmäßig ab, verurteilte sie jedoch nicht als unmoralisch. Als 1905 der Großfürst Sergius von der Bombe eines Sozialrevolutionärs zerrissen wurde, empörte sich jemand in der Umgebung Lenins über dieses Attentat, dem dazu noch Unschuldige zum Opfer gefallen waren. Lenin jedoch blieb kühl. Den Ausdruck „Mord“ lehnte er für das Attentat ab. „Tötung ist noch kein Mord“, sagte er. Er verkündigte ja auch den roten Massenterror. Als ihn ein österreichisch-ungarischer Diplomat auf die furchtbaren Erscheinungen dieses Terrors hinwies, sagte Lenin zwar mit einem Achselzucken: „Wenn ich mich dem entgegenstemme, dann werde auch ich hinweggefegt.“ Das war jedoch nur eine diplomatische Phrase, wenn sie auch nicht unrichtig war. Denn etwas später, Ende 1918, entstand innerhalb der Partei eine große Oppositionsbewegung gegen den roten Terror und deren Organ, die Tscheka. Führer dieser Opposition war einer der nächsten Freunde Lenins, der alte Bolschewik O 1 m y n s k i. Dabei wurden die furchtbaren Methoden der Terrorbehörde aufgedeckt, und sie selbst gab die Anwendung der Folter zu. Lenin jedoch bezeichnete seinen Freund Olmynski als politisches Kind und meinte: „Wer die Methoden der Tscheka kritisiert, ist ein Spießbürger.“

Von dämonischer Dramatik war das Spiel um das Leben des Zaren und dessen Familie.

Als Lenin die Meldung von der Erschießung der Zarenfamilie erhielt, trat er vor den gerade tagenden Rätekongreß und erklärte kurz und bündig: „Auf Beschluß des Uralsowjets ist Nikolaus Romanow erschossen worden.“ Die moralische Verantwortung vor der Geschichte jedoch trägt Lenin wohl ganz allein.

*

Am Todestag Lenins, am 21. Jänner 1924, herrschte in Rußland ungewöhnliche Kälte. Die Sowjetunion trauerte an diesem Tage in Erinnerung an den berühmten blutigen Sonntag am 20. Jänner 1905, als der Zar in St. Petersburg auf die Arbeiter schießen ließ, die mit Heiligenbildern, Zarenporträts und patriotischen Fahnen zu ihm kommen wollten, um ihre Not zu klagen. In der Sowjetunion war das ein Staatsfeiertag. Für die Persönlichkeit Lenins aber zeugte es wieder, daß die Nachricht von seinem Tod alle erschütterte, auch diejenigen, die keine Kommunisten waren.

Langsam brachte der Zug die sterblichen Überreste des Begründers des Sowjetstaates in die Stadt. Im Moskauer Adelskasino, wohin er durch seine Geburt gehörte und das jetzt jedoch als Haus der Gewerkschaften diente, wurde er feierlich aufgebahrt.. Drei Tage und drei Nächte lang bewegte sich durch den Saal eine ungeheure Menschenschlange.

Dann kam das Begräbnis, wiederum im selben Frostnebel, die unendlichen Reihen der Truppen, der dumpfe Schlag der Trommeln.

Von den nächsten Freunden und Paladinen Lenins wurde der Sarg abwechselnd vom Haus der Gewerkschaften an auf den Schultern getragen. Von all den Männern, die Lenin diesen letzten Dienst erwiesen, sollte nur Stalin eines natürlichen Todes sterben. Alle anderen, die mit Lenin zusammen die Revolution vorbereitet, durchgeführt und den Bürgerkrieg gewonnen hatten, starben von der Hand des Henkers. Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder.

Die russisch-orthodoxe Kirche nimmt die Unverweslichkeit von Leichen als Beweis für die Heiligkeit der betreffenden Person an.

Über ganz Rußland waren daher in Klöstern und Kathedralen Särge mit den unverweslichen Leichen von Heiligen verstreut. Das russische Volk war an diese Art von Verehrung gewöhnt. Daran knüpfte der Zögling des orthodoxen Priesterseminars in Tiflis, Stalin, an. Ohne Rücksicht auf die tatsächliche Gesinnung Lenins, dem solch symbolisches Spiel ein Greuel war, liegt nun die einbalsamierte Leiche Lenins seit Jahrzehnten in der Pyramide aus rotem Porphyr und schwarzem Marmor. Er liegt in einem Glassarg, die Füße von der roten Staatsfahne bedeckt, bekleidet mit einer Arbeiterjoppe, die er nie getragen hat, geschmückt mit einem Orden, den er als Spielzeug betrachtete. Damit jedoch noch nicht genug. Kurz nach dem Tode Lenins wurde das Lenin-Institut geschaffen, welches das Leben und die Werke des großen Revolutionärs erforschen sollte. Heute ist es mit dem Marx-Engels-Institut vereinigt. Eines Tages besichtigten die in Moskau akkreditierten Auslandskorrespondenten dieses Institut. In einem Schrank besonderer Konstruktion wurde unter einer Glasglocke das Gehirn Lenins aufbewahrt. Ein Teil des Gehirns ist in dünne Scheiben zerschnitten worden — für das Mikroskop, in dem die Sowjetforscher suchten ... nach den materiellen Beweisen der Leninschen Genialität.

Heute ist Lenin nicht allein in seinem Mausoleum. In einem zweiten gläsernen Sarg liegt der einbalsamierte Stalin. Nun, Stalin war der Erfinder dieser postumen Verehrungen, und seinem byzantinischen Wesen entspricht auch das Ganze. Doch Stalin war auch beinahe der einzige Mensch, mit dem Lenin einen persönlichen Konflikt hatte, der den kranken Lenin bitter gekränkt hatte und den dann der Führer des Bolschewismus so scharf verurteilt bat. Jetzt aber ist der tote Lenin dazu verurteilt, mit Stalin zusammenliegen. Wie lange?

Ende

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