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Der große Affekt

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Noch werfen die Bogenlampen ihren trüben Schein in die Halle des großen Prager Bahnhofs. Es ist zeitlich am Morgen und der kommende Tag liegt nur wie eine Ahnung in der Luft. Der Zug rollt endlich aus der Halle, kriecht durch die schwarzen Mauern der Stadt und erreicht das Freie. Bummelt dann endlos, als gäbe es kein Ziel, durch die böhmische Landschaft. Es wird langsam Tag. Station reiht sich an Station. Endlich ein kleiner Bahnhof, zum Unterschied von allen früheren sehr modern und sauber, mehr Empfangspavillon als Bahnhof. „Lany“ steht in großen Buchstaben auf der Front. Die wenigen Reisenden, die den Zug verlassen, zerstreuen sich bald in dem kleinen Ort mit den schmucklosen Häusern, denen man den Fleiß, aber auch die Geschmacksarmut ihrer Besitzer ansieht.

Endlich der Friedhof. Eine einfache Gruft an der Mauer. Darauf nur die Buchstaben — die einst so populären Buchstaben: T. G. M. Die Totenstille dieses Orts wird nur durch den Wind unterbrochen, der durch die kahlen Äste der Bäume streicht. Irgendwo tönt aus einem entfernten Haus der Ton einer Geige... Ein Mann geht langsam durch den Friedhof, wirft einen prüfenden Blick herüber, geht wieder weiter. Hat er das Grab zu bewachen oder die Besucher des Grabes? Noch ist es nicht verboten, den Friedhof zu betreten. Aber in kurzer Zeit, wenn das kritische Datum des 7. März näherkommt, wird sicherlich das Friedhofstor geschlossen und nur ganz wenig Auserwählten, aber niemandem aus dem schlichten Volk, die Möglichkeit gegeben werden, dieses einsame, schlichte und doch so majestätische Grab zu besuchen. Nicht um zu verhindern, daß durch solche Besuche die Ruhe des Toten, der hier unter der Gruftplatte seinen ewigen Schlaf schläft, gestört werde, sondern weit mehr: um die Ruhe der Lebenden nicht zu gefährden. Oder richtiger gesagt: lim die Ruhe der jetzt Herrschenden nicht zu stören.

Denn Thomas Garrigue Ma-s a r y k, der Tote, der hier in der Gruft liegt, der scheinbar jeder Macht entkleidete Tote, ist immer noch eine Macht, und die jetzt Regierenden können den wahren Masaryk nicht feiern, ohne sich damit selbst zu gefährden. Das Geheimnis, das Masaryk zeit seines Lebens begleitete: ein Mächtiger zu sein, ohne eine Macht hinter sich zu haben, ist ihm auch noch im Tode treu. Während sein Schüler Dr. Benesch immer einen großen Teil der Mächte dieser Welt hinter sich hatte, Kommunisten, Sozialisten, Freimaurer, ja zeitweise sogar Katholiken, Rußland ebenso wie Frankreich, um in den entscheidenden Augenblicken keine für sich zu haben, war die faktische Macht Masaryks immer sehr klein. Vor dem ersten

Weltkrieg war sein politischer Einfluß auf das tschechische Volk verschwindend gering. Die von ihm gegründete Partei der Realisten gewann bei den Reichsratswahlen 1907 nur zwei Mandate, 1911 mit großer Mühe gar nur mehr eines. Die tschechischen Sozialisten waren gegen ihn wegen seines erklärten Antimarxismus, die Jungtschechen wegen seines Antilibera-lismus, die Katholiken wegen seiner Angriffe gegen Kirche und Geistlichkeit, die Panslawisten, weil er alle Slawophilie für ein überflüssiges Geschwätz erklärte. Im Weltkrieg selbst folgte nur ein verschwindend kleiner Teil seinen Parolen. Noch 1917 erklärten die „Na-rodni listy“, das Organ Dr. Kramars, daß das tschechische Volk sich für solche Vertreter wie Masaryk bedanke und sie ablehne. Und nach dem ersten Weltkrieg, in der Republik, ging die Politik ganz andere Wege, als er gewünscht hatte, und alle seine Versuche, sie zu beeinflussen, scheiterten. Er hatte keine Macht hinter sich, aber er selbst war eine Macht — durch die Integrität seines Charakters, durch den Mut, die Unpopu-larität auf sich zu nehmen, um seinen Zielen zum Sieg zu verhelfen, und durch die Konsequenz, mit der er die,von ihm proklamierten Ideale der Humanität und

Demokratie zu leben versuchte. Die jetzt Regierenden können jenen Masaryk, wie er im Bewußtsein des Volkes lebt, nicht feiern, ohne sich selbst zu gefährden: zu sehr steht das Denken dieses Mannes im Gegensatz zu dem jetzt geltenden offiziellen Denken der Republik. Ihn so feiern, würde bedeuten, auch der Thesen zu gedenken, die er vertreten. Und er ließ nie einen Zweifel darüber bestehen, daß er ein „Westler“ sei, der die politische Lebensform der angelsächsischen Völker als die beste der bisher erreichten ansah, er sprach offen aus, daß der Kommunismus nicht das sozialistische Ideal bedeuten und Rußland den Tschechen nicht die Erlösung bringen könne. So ist es nur verständlich, daß er heute in seiner Heimat, in seinem Staat, offiziell als ein zu Vergessender gilt, ja, inoffiziell sogar als ein Verfemter. Und es ist nur logisch, daß die Vertreter der Republik am 7. März dieses Jahres seiner vor hundert Jahren erfolgten Geburt nur mit unverbindlichen und verfälschenden Worten gedenken werden. Es ist logisch und absurd zugleich. Absurd: denn ohne die Tat Masaryks gäbe es überhaupt keine Tschechoslowakei. Er allein war es, der sie schuf, indem er die alte Habsburgermonarchie mit zertrümmerte, zerstörte gegen den Willen der Entente, gegen den Willen Rußlands, gegen den Willen der Völker des Donaureichs, gegen den Willen des überwiegenden Teils des tschechischen Volkes, ja, gegen die eigene bessere Einsicht. Er allein schuf den neuen Staat und damit das Instrument, auf dem die heute Herrschenden ihre Macht spielen können. Es ist absurd, daß des wirklichen Masaryk in seinem Staat nicht gedacht wird, denn ohne ihn wären die heutigen Machthaber nicht an der Macht, und es ist zugleich im besonderen Sinne logisch, daß sie so seiner nicht gedenken, denn dadurch würden sie sich selbst entthronen.

Nur außerhalb seiner Heimat, in der angelsächsischen Welt, wird er als großer Demokrat und Humanist gefeiert werden, und die tschechischen Emigranten werden seiner als des Gründers des unabhängigen tschechischen Staates gedenken. Sonst wohl kaum jemand.

Und dennoch wäre für die Katholiken Mitteleuropas dieser Tag ein Grund zu einer eingehenden Gewissenserforschung, nicht zur Anklage. Spielen doch Katholiken im Leben dieses Mannes eine bedeutende Rolle. „Niemand kann sich der Eindrücke und Einflüsse entäußern, die er in seiner Kindheit empfangen hat, sie sind entscheidend für sein Leben“, äußerte er sich kurz vor seinem Tode, die Lehren der modernen Psychologie damit bestätigend. In seiner Kindheit empfängt er nicht nur positive Eindrücke, sondern auch viele Wunden, die Affekte und Ressentiments zurücklassen, die er kaum je überwinden kann. Zu den positivsten Erlebnissen feiner Kindheit gehört die tiefe Frömmigkeit seiner Mutter, die sich auf ihn überträgt und die ihn nie verläßt — auch nachdem er schon der katholischen Kirche den Rük-ken gekehrt haben wird. Niemals wird er an der Existenz eines persönlichen Gottes zweifeln, nie an der Unsterblichkeit der Seele, immer betonen, daß die Nachfolge Jesu der Inhalt eines jeden Lebens sein müsse. Aber zur gleichen Zeit empfängt er seine erste schwere Wunde. Sein Vater, ein ehemaliger Leibeigener, lebt auch nach 1848 noch in der alten Mentalität weiter. Er fürchtet die „Herren“ und ihre Knechte und haßt sie insgeheim. Der Haß geht auf den kleinen Thomas über, als er sieht, wie sein Vater sich plagen muß und die Herrschaftsbeamten dennoch grob zu ihm sind. Sein Haß steigert sich, als er hört, daß seine Mutter sonntags oft nicht in die Kirche gehen darf, sondern in der Herrschaftsküche aushelfen muß. Bis in sein hohes Alter hat er sich die Worte gemerkt, die sie zu ihm sagte: „Herrendienst geht vor Gottesdienst.“ Aus seinem Haß entsteht der Affekt, daß dieses ganze System des Feudalismus falsch ist.

Nie wird er diesen Affekt los werden. Wie eine Erlösung wird er es betrachten, als er Jahrzehnte nach diesem Erlebnis die angelsächsische Welt kennenlernt und damit die Grundsätze der Demokratie. „Aristokratismus“, schreibt er noch 1913, „ist die Herrschaft des Nichtarbeitenden über den Arbeitenden. Demokratie will politisch und sozial das Untertanenverhältnis abschaffen.“ Eine an sich falsche Ansicht sowohl über die Demokratie wie über den Feudalismus. Eine Ansicht, zu der dieser sonst so kritische Geist nur durch seinen Affekt gelangt.

Das zweite große Erlebnis seiner Kindheit, das sein Leben bestimmend beeinflußt, ist der Selbstmord eines Knechts — ein Schock, der ihn zeitlebens über dieses Erlebnis nachzudenken zwingt. Seine Habilitationsschrift ist dem Problem des freiwilligen Todes gewidmet, und in fast allen folgenden Werken spricht er über den Selbstmord. Seine Antwort, warum ein Mensch sich selbst entleibe, ist immer sehr klar: er tue dies fast ausschließlich dann, wenn er den Glauben an Gott verloren hat. Denn dann habe sein Leben keinen Sinn mehr. Einziges Mittel, um dieser Massenerscheinung zu steuern: die Rückkehr zur Religion. Zu welcher Religion? Nicht zur katholischen, sagt er, denn diese sei „unmöglich geworden“. Als er diese Sätze schrieb, war sein Kinderglaube schon zerstört worden — zum Teil durch Scheinkatholiken, hartherzige, unsittliche Menschen, die am Sonntag in die Kirche gingen und am Wochentag ihren Gott vergaßen, zum Teil durch ungeeignete Erzieher und Lehrer. Schließlich fällt Masaryk auf der Hochschule Franz Brentano, dem abgefallenen Priester, in die Hände, dessen hohe Ethik ihn derart in Bann schlägt, daß er ganz davon gefangengenommen wird. Und endlich treibt ihn das Beispiel seiner Frau, einer amerikanischen Unitarierin, aus der Kirche. Sein Kinderglaube ist endgültig zerstört. Wäre der junge Masaryk mehr wahren, lebendigen Katholiken begegnet, seine religiöse Entwicklung hätte einen andern Weg genommen.

So aber hat er einen tiefen und durch Vernunft nicht zu überwindenden Affekt gegen die Katholiken. Aus diesem und gleichzeitig seinem antifeudalen Affekt wird er ein Gegner der Habsburgermonarchie, deren Bestand er vernunftmäßig als lebenswichtig für das tschechische Volk erkennt. Aus diesen Affekten wird er einer der erfolgreichsten Revolutionäre, obwohl er jede Revolution als indirekten Massenselbstmord bezeichnet und sie theoretisch als unerlaubte Gewaltanwendung ablehnt.

Masaryk stammt aus dem böhmischen Kesselbaus jenem Raum, wo selten Vernunft, dagegen um so mehr Affekte und Ressentiments das Leben der Menschen belasteten und vergifteten. Nur bei den wenigsten Menschen können, so lehrt die Psychologie, Affekte durch Vernunftgründe beseitigt werden, meist ist dies nur durch wesentlich neue stärkere Affekte möglich. So gelangte auch Masaryk nicht durch Vernunft, sondern durch die Erlebnisse eines langen Lebens, und besonders seines Alters, weitgehend zu dem Glauben seiner Kindheit zurück.

Das Beispiel strenggläubiger Katholiken, deren Leben voll Nächstenliebe war, hat hier seine gute Wirkung getan. Besonders die Gestalt eines Prager Aristokraten und Kanonikus, der während der letzten Lebensjahre des Präsidenten sein häufiger Gast war, dürfte bei dieser Wendung eine bedeutende Rolle gespielt haben. Dennoch kam diese Umkehr, menschlich gesprochen, für diese Erde zu spät. Denn das Leben“ dieses Mannes, das sich verbraucht, um diese Affekte allmählich zu überwinden, hat dadurch, daß es die mitteleuropäische Ordnung zerstörte, unabsehbare Folgen heraufbeschworen. •

Auf dem Friedhof ist es nach wie vor still. Kein Wind rührt an den kahlen Ästen der Bäume. Aus einem entfernten Haus nur hört man den Ton einer Geige: den „Slawischen Tanz“ von Dvorak ... Majestätisch liegt die Gruft da. Ihr einziger Schmuck sind die Buchstaben: T. G. M.

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