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Der große Briefschreiber

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Briefe. Von Rainer Maria Rilke. — Erster Band von 1897 bis 1914. 566 Selten. — Zweiter Band von 1914 bis 1926. 613 Selten. Erschienen Im Insel-Verlag, Wiesbaden. — Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Marie von Thum und Taxis. Erster Band von 1909 bis 1916. — Zweiter Band von 1916 bis 1926. Zusammen 1034 Seiten. Im Niehaus & Rokltansky-Verlag, ZU rieh, und im Insel-Verlag

Uber 6eine Korrespondenz hat sich Rilke eindeutig geäußert und verfügt: .Da ich, von gewissen Jahren ab, einen Teil der Ergiebigkeit meiner Natur gelegentlich in Briefe zu leiten pflegte, steht der Veröffentlichung meiner Korrespondenzen nichts im Wege.“ — Ungewöhnlich ist schon der Umfang des Rilkeschen Briefwechsels, der den seiner gesammelten Werke um ein Vielfaches übertrifft: und wir kennen erst einen Teil davon I Immer neue Korrespondenzen erscheinen, und nicht alle sind eine reine Freude für den Leser. (Eret vor kurzem wieder tauchten neue Brief massen auf: die Zürcher Landesbibliothek erhielt als Geschenk 1418 Briefe, die zum größten Teil noch unveröffentlicht 6ind) Einige der Rilkeschen Korrespondenzen sind so berühmt, wie der „Cor-net“ oder das „Marienleben“. In ihnen spricht

— wie in fast allen späteren Briefen Rilkes — der Autor, ohne Rücksicht auf den Empfänger. Sosehr er auf den Adressaten einzugehen 6 c h e i n t, 60 fehlt Rilkes Briefen doch vollständig jenes Persönliche, Epistolare, das den Reiz manch anderer Korrespondenz ausmacht.

Den tieferen Grund hat Rilke selbst erkannt: „Ich bin kein Liebender, vielleicht weil ich meine Mutter nicht liebte.“ Er liebte nur die Rosen und die Dinge. Ob 6ich ein Zimmer oder ein Tisch ihm „verweigerte“ oder .gab“, war ein kleines Drama, und die Rosen hat er besungen wie keiner vor ihms aber von seiner Frau spricht er in späteren Jahren, nach der Trennung, etwa so: „Clara Rilke wird mich vielleicht besuchen.“ Trotzdem zieht er immer wieder Menschen, insbesondere Frauen zu sich heran. Viele kamen von selbst („Frauen kommen zart entgegen“, könnte man, ein Goethe-Wort variierend, sagen), aber bald beginnt das Spiel der Anziehung und Abwehr, das für ihn so charakteristisch ist. Rudolf Kaßner sagt einmal ziemlich deutlich, worum es hier immer wieder geht: „So war 6eine Reife Uberreife, mußte es 6ein, Geist sublimierte Sinnlichkeit, die Phantasie der Geschlechtstrieb des Narziß.“ Je weiter er sich jedoch aus dieser Sphäre entfernt, erhebt, um 60 ergiebiger und aufschlußreicher wird die Lektüre. — Daher ist e6 begreiflich, daß viele in Rilkes Briefen den bedeutenderen Teil seiner Produktion sehen und sie den poetischen Werken vorziehen.— Diese beiden großen Ausgaben nebeneinander zeigen die beiden Aspekte. Die zweibändige Auswahl ist mehr ein Monument,- der Briefwechsel mit der Fürstin Taxis ein persönliches Dokument.

Kurz vor Rilkes Tod wurde mit dem Freund und Verleger, Dr. Kippenberg, der Plan einer Gesamtausgabe der Werke festgelegt. Sie umfaßte zunächst 6echs Bände. Von 1929 bis 1939 erschienen, in der gleichen Ausstattung, sechs Briefbände. Diese bilden den Grundstock der vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke von Karl Altheim besorgten und mit Anmerkungen versehenen zweibändigen Auswahl, in die 70 weitere, meist unveröffentlichte Briefe sowie die beiden Zyklen „an einen jungen Dichter“ und „an eine junge Frau“ aufgenommen wurden.

— Auswahl und Kürzungen erfolgten unter dem Gesichtspunkt inhaltlicher Aussage und verdichteter Formgebung, also ohne Rücksicht auf das biographische Interesse. Aus den inzwischen gesondert erschienenen oder demnächst erscheinenden Korrespondenzen mit dem Verleger Kippenberg, mit Lou Andreas Salome und Marie Taxis-Hohenlohe sind die wichtigsten Stücke ausgewählt. Von den Empfängern seien genannt: Carossa, die Eysoldt, Carl Burckhardt, George, Kaßner, Gide, Rodin, Anette Kolb, das Ehepaar Modersohn, Hermann Pongs, Jules Super-vielle und andere. — Aber die Adressaten, insbesondere die des zweiten Bandes, sind fast unwesentlich! denn wer gerade einen Brief zu empfangen an der Reihe ist, wird zum fast zufälligen „Empfänger“ — ähnlich wie beim Rundfunk.

Die mit dem Prinzen Alexander von Thum

und Taxis verheiratete Prinzessin Marie zu Hohenlohe war, als sie 1909 den 20 Jahre jüngeren Rilke kennenlernte, Mitte der Fünfzig. Sie war, nach Kaßners Zeugnis, unerschöpflich in der Aufnahme von Dingen der Kunst und Dichtung und besaß viel Lebenöklugheit, 6ens commun und diplomatisches Geschick. Die Menschen und Verhältnisse ihrer Umgebungen betrachtet sie nüchtern und berichtet darüber in einem beschwingten Parlando, humorvoll-geradeheraus, nicht ohne Medi-sance. — Ob 6ie Rilke im letzten Grunde verstanden hat? Jedenfalls war sie ihm eine gute, zuverlässige und geduldige Freundin. So entsteht, durch die extreme Verschiedenheit der beiden Persönlichkeiten gefördert, ein fortlaufendes „Freundschaftsgespräch“, das erst mit Rilkes Tod verklingt. Lektüre, Bilder, Kunstwerke, Menschen, Rilkes große und kleine Sorgen bilden die Hauptthemen. Das dem zweiten Band beigefügte Personenverzeichnis umfaßt über 30 Seiten, und wer aller in dieser Zeit Rang und Namen hat, taucht darin auf. Wiederholt hat die Fürstin dem Dichter auf Duino und in Lautschin Asyl gewährt und ihm manche wertvolle Verbindung vermittelt. Rilke revanchiert 6ich mit langen, vertrau-• liehen und persönlichen Briefen von jener „mittleren Temperatur“, die am erträglichsten, weil fast frei von Manier ist. Freilich

gibt es in den beiden Bänden auch umfassende Konfessionen und echte, massive .Rilke-Briefe“, die die Fürstin sicher als die wertvollsten Stücke ihrer Kollektion angesehen haben mag, so zum Beispiel den Brief aus Ronda In Spanien vom Dezember 1912 (Seite 244 bis 251) mit der Begründung seiner anti-christlichen Einstellung und mit dem Bekenntnis: ,.. .mir stürzt die Welt jeden Augenblick völlig ein innen im Blut, und es steht dann draußen eine ganze fremde herum, so,Ist's eine Fremdheit über die Maaßen. Ich nehm mir vor, Fürstin, ich muß dem Grund dieser Malaise auf die Spur kommen, die Quelle entdecken, aus der immer wieder Übel nachkommt, kaum daß ich irgendwo ein kleines Beet habe, schon 6teigt diese Trübnis und überschwemmt's und und läßt's trostlos zurück. Und ich weiß, daß da der Arzt helfen kann, nicht ich, wenn's nur der rechte wäre — bei mir ist alles zusehr aus einem Stück, als daß ich irgendwo leiden könnte und anderswo leisten...“

Zum erstenmal erfährt man auch ausführlich von den spiritistischen Seancen, die auf Schloß Duino veranstaltet wurden. Im Anhang sind vier .Protokolle“ mit den Fragen und Antworten der .Unbekannten“ abgedruckt, die durch den Briefwechsel geistert — überaus charakteristische Dokumente I Dazu das Zeugnis von Rudolf Kaßner: „Rilke konnte so recht das Schloßkind sein — oder spielen“, denn in Wirklichkeit war er dem Komfort reicher Bürgerhäuser mehr zugetan, da er wohl einen sehr subtilen Sinn für das Schöne, aber keinen für die Unbequemlichkeit der Repräsentation besaß. — Noch viele Details wären zu nennen: sein unsteses Umherirren, 6eine Heimatlosigkeit! daß Rilke, der Österreicher, von Wien wie von einer fremden Stadt spricht und Prags und Böhmens mit keinem Wort gedenkt, daß Theater, Oper und Mu6ik kaum für ihn existieren! schließlich der Bericht de6 Arztes Dr. Th. Haemmerli über Rilkes letzte Wochen („La pensee de mourir lui etait tellement terrible, qu'il l'ecartait au point de ne jamais mßme demander de quelle maladie il souffrait!“). Die letzten, fast gleichlautenden Briefe, sind an französische Freunde gerichtet (... Miserablement, horrible-ment, malade et douloureusement ju6qua' a un point que je n'ai os6 imaginer...“). — Den Abschluß der beider von Ernst Zinn mit großer Sorgfalt herausgegebenen Briefbände bilden mehrere Register, Stammtafeln der Familie Taxis und die Freundschaftsbriefe an die Fürstin Marie nach Rilkes Tod.

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