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Der „Große Komet?”

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„Ich sage mich los von der leichtsinnigen Hoffnung einer Errettung durch die Hand des Zufalls”.

Carl von Clausewitz: „Vom Kriege”

Es waren nicht nur die um reißerische Titelzeilen bemühten Journalisten, die seit einigen Wochen damit begonnen hatten, die Weltsituation dieser schwülen Sommefmohätb — frei nach jener resignierten Stelle im Buche der Könige, wo von der „Zeit” die Rede ist, „da die Könige in den Krieg zu ziehen pflegen” — mit den Juli- und Augusttagen von 1914 und 1939 zu vergleichen. Sehr verschiedene und sehr ernst zu nehmende Politiker wie Tito und der kanadische Premier Die- fenbaker haben sich gleichfalls nicht gescheut, von jenen ominösen Daten zu sprechen. Man kann solchen Worten einen verschiedenen Akzent geben: sie können dazu dienen, den Teufel an die Wand zu malern und das Verhängnis als einen fatalistischen Zwang gleichsam herbeizubeschwören. Sie können aber auch durch das bloße Aussprechen schon bannenden Charakter besitzen. Die Frage ist immer nur die, in welcher Grundstimmung sich die Menschen befinden, an die sie sich richten. Wenn uns vorsichtige und sorgfältige Meinungsumfragen — in Österreich und anderswo — nicht täuschen, dann ist der Grundnenner dieser Massenstimmung als eine Art von mißvergnügter Gleichgültigkeit, gepaart mit einer fast hysterischen Konzentration auf die privatesten Wohlstandssorgen zu bezeichnen. (Dies trifft natürlich nur auf die uns überschaubare west- und mitteleuropäische Welt zu.)

Alles, was sich in diesen Wochen um Berlin zusammenbrauen könnte, wird als ein weder enträtselbares noch abwendbares Verhängnis angesehen, das sich , wie eine dunkle Wolke vom Horizont her ausbreitet. Da man die Geschehnisse aber in keinen logischen oder moralischen Zusammenhang mit der eigenen Existenz zu bringen vermag, werden sie nur als sinnlose Störung des halbwegs angenehmen Gleichmaßes empfunden: Die schleichende, passive Angst, die sich in feinen Schwaden auch über die sogenannten unbeschwerten Ferienparadiese zu legen beginnt, hat nicht zu tun mit dem heilsamen und erschütternden Schrecken vergangener Pest- und Notzeiten. Diese Grundstimmung ist vom hektischen Aktiofisraüscn vor 191.4 ebenso weit entfernt wie von der stoischen Starrheit des Jahres 19)8/39.

Aber nicht nur die falsche, die lähmende und zugleich auflösende Angst blüht auf diesem Boden. Ihr verschwistert ist das, was Clausewitz in seinem humanistischen (und zu Unrecht vom Dritten Reich für die eigene Propaganda okkupierten) Buch „Vom Kriege” die „leichtsinnige Hoffnung” nennt. Diese Hoffnung besteht für die Menschen unserer Tage in der wunschbildhaften Annahme, daß die in Berlin dem Westen offen gegenübertretende kommunistische Welt in sich selbst uneins sei, daß der offene Konflikt nahe vor der Tür stünde und daß man eigentlich doch nichts brauche als noch ein wenig Zeitgewinn, um sich als lachender Dritter am Kampf zwischen Moskau und Peking erst zu weiden und dann schließlich schadlos zu halten.

Es gibt kaum eine auf Reputation haltende Zeitung der westlichen Welt, die nicht gerade in diesen Tagen Meldungen gebracht, analysiert und kommentiert hätte, die solcher Hoffnung Nahrung geben sollten. Und doch wirkt diese Hoffnungsbotschaft vermeintlicher Stärke in der Art eines Opiats. Alle diese zum Teil ungenau, zum Teil übergenau interpretierten Informationen haben wohl für den über die Gesamtzusammenhänge Bescheid wissenden Politiker ihre nicht zu unterschätzende Bedeutung. Für die Mehrzahl der einfach nach Ruhe verlangenden Spießbürger aber sind sie vermeintliche Tröstung, bedeuten sie Vernebelung des Blickfeldes und Täuschung über die Wirklichkeit, der zwangsläufig ein Erwachen folgen muß.

Sehen wir uns einige dieser jüngsten China-Informationen und die oft mit wenigen Sätzen an sie geknüpften Thesen an: rDa haben wir etwa die Meldung ,von der Brüskierung, Pekings durch Moskau, die. im Nichterscheinen einer repräsentativen Sowjetdelegation zu einem nationalen Feiertag der Chinesen bestanden haben soll, während zur gleichen Zeit der, „ChefIdeologe” Suslow beim kommunistischen Parteikongreß in der Mongolei weilte. Natürlich stimmen diese Tatsachen. Aber man vergißt, daß es auch zwischen kommunistischen (exakter gesprochen: sozialistischen) Ländern Beziehungen auf staatlicher Ebene gibt, die von denen der kommunistischen Parteien untereinander zu unterscheiden sind. Für den kommunistischen Parteitheoretiker Suslow war der Kongreß von Ulan-Bator’, bei dem die Delegierten der kommunistischen Parteien vieler Länder der Erde erschienen waren, wichtiger als ein nationaler Feiertag, in Peking, bei dem die Repräsentanz eben den Diplomaten oblag.

Oder: Mart erwähnt den Abschluß eines sowjetisch-nordkoreanischen Beistandspaktes, schreibt aber kaum, daß der nordkoreanische Ministerpräsident Kim II Sung unmittelbar von Moskau aus nach Peking reiste und daß schon bei seinem Empfang der Abschluß dieses Paktes ausdrücklich begrüßt wurde.

Oder: Man berichtet, daß auf dem mongolischen Parteitag Suslow den Kampf der mongolischen Volksrepublik gegen die „chinesischen Eindringlinge” erwähnte, erklärte aber mit keinem Wort, daß es sich dabei um die Truppen Tschiang Kai Sheks handelte, die damals zur gleichen Zeit von Mao Tse Tung bekämpft wurden.

Es liegt uns fern, den Nachrichtenwert und Wahrheitskern solcher Meldungen anzuzweifeln. Und es ist auch kaum daran zu rütteln, daß es nicht nur zwischen der Sowjetunion und China, sondern auch zwischen vielen anderen sozialistischen Ländern sachliche Differenzen, Rivalitäten, akute Streitfälle und jahrhundertealte Abneigungen von Volk zu Volk gibt. Das läßt sich auch an uns näherliegenden und besser bekannten Beispielen beweisen: Die Ungarn werden die rumänischen Nachbarn ebenso wenig lieben wie die Tschechen die Polen im Te- schener Gebiet. Kein Kommunismus wird über Nacht aus Polen und Ukrainern Freunde machen, oder die Deutschen (selbst die unter Ulbricht) in beliebte Nachbarn der Polen und Tschechen verwandeln. Entscheidend aber ist der Stellenwert, ist das Koordinatensystem, in dem solche Gegensätze unu Rivalitäten aufscheinen. Und dieses Koordinatensystem ist eben einmal die sozialistische Gesellschaftsordnung, die trotz aller unbestreitbaren Erfolge immer noch den „Festungscharakter” und die damit verbundene Burgfriedensmentalität als oberstes Gesetz trägt. Wir sind nicht der utopisch-marxistischen Meinung, daß dies für alle Zukunft so bleiben müsse und daß der Sozialismus den ewigen Frieden auf’ Erden automatisch garantiere. Wir teilen in diesem Punkt viel eher die wohlbegründete Skepsis des bedeutenden jugoslawischen Marxisten Edvard Kardelj, die dieser in seinem sehr lesenswerten Buch „Sozialismus und Krieg” einleuchtend begründete Aber wir haben es mit der Gegenwart zu tun und nicht mit Vermutungen über irgendwelche Zukunftsphasen der Geschichte, deren Voraussetzungen wir nicht einmal kennen.

Hier und heute gilt wohl doch Folgendes: Ebenso wie im vergangenen Jahrhundert alles Wohlmeinen, alle ideologischen oder religiösen Bemühungen Einzelner oder sehr einflußreicher Gruppen es gegenüber den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Konkurrenzkampfes nicht vermochten, die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland abzubauen (denken wir nur an die Gesinnungsfreunde Briand und Strese- mann), so sind heute umgekehrt alle gewiß auch im sozialistischen Lager bestehenden Rivalitäten, Eifersüchteleien und echten Konkurrenzen nicht imstande, die Festungssolidarität der sozialistischen Welt Zu sprengen. Für die geistige Elite, wie für den kleinen Mann aus dem Volke war der Nationalhaß schon seit langem weitgehend überwunden: Aber der Konkurrenzmechanismus von Kohle und Stahl führte diesseits und jenseits des Rheins immer wieder zum blutigen Krieg. Für die Völker des Ostens sind nationale und sogar vor-national-ethnische Gegensätze bestimmt noch vorhanden, vielleicht virulenter vorhanden als im Westen: Aber die sozialistische Gesellschaftsordnung, die das verbindende und gemeinsame Strukturmoment darstellt, macht deren Austragung in der Form eines militärischen Konflikts grundsätzlich unmöglich. Die Dinge behalten ihre Faktizität, die Gegensätze ihren Wirklichkeitscharakter, aber der Stellenwert, auf den es in der Politik ankommt, ist eben ein anderer.

Konfrontiert man die vielen Einzelwirklichkeiten der Meldungen über sowjetisch-chinesische Differenzen also mit der ihnen über- und vorgeordneten Wahrheit der gesellschaftlichen Grundsituation, dann verlieren sie zwar nichts von ihrem Nachrichtenwert, ihre unmittelbare Bedeutung für die augenblickliche Weltsituation sinkt aber in Nichts zusammen.

Merkwürdigerweise erhält man bei der prüfenden Frage nach dem Cui bono solcher periodisch wiederkehrender Gerüchte eine doppelte Antwort: Einmal handelt es sich um Wunschbilder des Westens, der in den kommenden Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking teilweise fast schon das sehen möchte, was einst die Wunderwaffe für die bankrotte Hitler-Regierung war. Zum anderen aber handelt es sich um geschickt lancierte Gerüchte, wahrscheinlich sowjetischen Ursprungs, die Chruschtschow als den „Milden” erscheinen lassen sollen, dem man doch etwa in der Berlin-Frage entgegenkommen möge, weil er sonst durch die „Radikalen” von Peking abgelöst werden würde. Der alte Geschäftstrick mit dem „wilden Mann im Nebenzimmer” feiert hier primitive Wiederkehr.

Die wahre Gefahr der falschen Angst und der ebenso falschen Hoffnung liegt auf einem ganz anderen Gebiet: Durch die Fixierung an die eine Front der heutigen Weltauseinandersetzung, die der Macht- und Einflußpolitik, der Rivalitäten und politischen Konkurrenzkämpfe, wird der Blick der Menschen von jenem anderen, großen Schlachtfeld des Bewegungskrieges abgelenkt, in den die gesamte freie Menschheit schon seit Jahr und Tag eingetreten ist: die Auseinandersetzung um jene Kontinente, die das Weltgewicht von morgen bestimmen werden.

Nestroys köstlicher Schuster Knieriem benützt seine fragwürdigen Kenntnisse vom Kommen des „Großen Kometen”, der den Weltuntergang mit sich bringen soll, als Alibi, nichts zu arbeiten und sich den primitiven Formen des Rausches hinzugeben. In einer — betreffend den Originalcharakter etwas umstrittenen — Schlußfassung der Zauberposse „Lumpacivagabundus” erscheint am Ende der „Gott” Stella- ris und begnadigt ihn, weil er nicht nur. verspricht, sich zu bessern, sondern sogar behauptet, schon gebessert zu sein. Wer unter uns die jetzigen Zeiten zum Warten auf den „Großen Kometen” des Untergangs verwendet, wird wohl vom Ende ebenso enttäuscht werden wie der, der sich darauf verläßt, daß uns am Ende ein ominöser Feenkönig Stellaris die Versicherung „schon gebessert” zu sein, abnimmt.

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