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Der große, offenbare Tag

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„Unsere Kirche war eine der ältesten im ganzen Bistum, sie wurde von frommen Vätern des Klosters Olonez erbaut, denen das Klosterleben zu laut geworden war und die sich tiefer in die Einöde zurückzogen, das mögen wohl vier-oder fünfhundert Jahre her sein“, begann der ostkarelische Priester seinen Bericht. „Und damals floß der Fluß noch nicht so dicht neben dem Heiligtum. Er muß, nach allem, was uns die Ältesten und deren Väter und Vorväter erzählt haben, eine gute Strecke entfernt geflossen sein. Nur der gewaltsame Eisgang während der Frühlingsschmelze hat sein Bett allmählich geändert.

Sie haben wohl nie erlebt, wenn es Frühling bei uns wird ... Doch?... Nun, so wissen Sie, nur ein ganz schweres Gewitter hat ähnliche Gewalt. Die schweren Wetter aber dauern Stunden, und wenn es Frühling wird, dauert es Tage und Wochen. Aber glauben Sie mir, es hat Jahre gegeben, da wir mit dem Herzschlag im Halse auf das Brüllen aus den Wäldern und vom See her lauschten, auf das Dröhnen und Donnern — erst unter dem Eis —, dann auf den schmetternden Schlag, wenn irgendwo die Decke barst, und dann — mochten Regen und Sturm dazukommen und die Schmelze beschleunigen — auf ein Stöhnen und Brechen und Schlagen, als läge ein Untier im Sterben und wehrte sich vor dem Ende noch mit allen vier Pranken. Solche Gewalten haben den Lauf des Wassers geändert und ihn mit der Zeit immer näher an die Kirche herangeführt, was uns in der Zeit des Eisgangs, wenn sich vor der Mündung leicht eine Barriere bildete und den ganzen Oberlauf mit seinem Treibeis staute, schon oftmals Sorgen bereitet hatte. Denn die rasselnden, wie flache, graue, riesenhafteLarven vorwärtskriechenden Schollen mit ihrem gezahnten Buckel waren häufig bis dicht an die Kirche gekrochen, Gott aber war immer gnädig gewesen. Er hatte unser Heiligtum verschont. Oh! Schön ist es gewesen, mein Herr! Ehrwürdig in seinem Alter, so klein es war. Gesegnet durch den frommen Sinn derer, die es erbaut, Stamm um Stamm dazu gefällt, behauen, Balken um Balken gefügt, es ausgekleidet, ausgemalt hatten — ach!, der fromme, andächtige Sinn hatte beinahe nicht genug Wände gehabt, sich in die Geschichte des Heils und der Heiligen zu vertiefen. Einem jeden der frommen Väter waren wohl die Augen übergegangen von alldem, was er schaute, und ein jeder hatte mit Pinsel und Farbe erzählen wollen. Und dabei sahen wir doch das meiste gar nicht; denn die Fenster baute man in jenen Zeiten viel kleiner als heute, es war halbdunkel im Innern unseres Tempels, man ging von der Pforte auch drei Stufen hinab, so hatte der Bau sich gesetzt. Hier war in Balken und Brettern die ganze Schöpfungsgeschichte Himmels und der Erde eingeschlossen und alle Geschichte des Menschengeschlechts. Man mußte nur lange und innig genug in der Dämmerung verweilen, dann — ach ja! —, dann konnte einem ein Licht aufgehen, heller, als es die Augen ertragen können, mein Lieber. Außen war sie so grau und schmucklos wie alle Häuser aus Balken, unsere Kirche. Wir besaßen immer noch nicht mehr Glocken in dem kleinen Turm mit der schindelblättrigen Zwiebel, als die frommen Väter einmal gespendet bekommen hatten, denn, Sie wissen, die Bauern bei uns sind nicht reich, einige dreipudige, einige weniger schwere; aber so lebendig wie das Geläut in den großen Wäldern schallte, so ewig lebensvoll blieben die dunkelglühenden Bilder an unserem Ikonostas.

Das letzte hohe Fest, das wir darin begingen, war das Fest der Himmelfahrt Christi. Da war noch Winter, ich erinnere mich gut. Denn bevor ich das Troparion am Vorabend der Himmelfahrt sprach: ,Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreut werden; wie der Rauch auseinandergetrieben wird, so treiben sie auseinander ...', schändeten etliche junge Burschen unten von der Säge, die zu den .kämpfenden Gottlosen' gehörten, das Heiligtum, indem sie, bevor die Gläubigen sich's recht versahen, auf einer kleinen Bahre, die sie verfertigt, einen Schneemann hereintrugen, den sie sehr grob als Priester ausstaffiert hatten, natürlich auch mit einer Schnapsflasche als Sakramentswein, und stellten den stumm grinsend vor die königliche Pforte...“

Er machte eine lange Pause und lehnte sich zurück.

„Wie Wachs zerschmilzt vor dem Angesicht des Feuers“, sprach er leise aus dem Troparion weiter. „Ja“, meinte er dann, „so sagte ich wohl. Ich betete da Troparion zu Ende. Die Meinen standen wie aus Eisen gegossen da, die Frevler lärmten draußen vor der Pforte. Niemand hatte den Mut, diesem teuflischen Gebilde aus unschuldigem Schnee, das da ins Allerheiligste grinste, einen Fußtritt zu geben, wie er einem Götzen der Gottlosigkeit gebührte. Nein, keiner rührte sich. Und — ich sehe heute noch, wie die Tür sich einen Spalt breit öffnet und die Untäter hereinlugen, die sich der Wirkung ihrer Schandtat vergewissern wollten — ich trat vor den Götzen und sprach: .Nicht nur Wachs zerschmilzt vor dem Angesicht des Feuers. Auch der Schnee schmilzt hin unter der Sonne des Allmächtigen. Und wer ihn zu Werken des Frevels geballt und ihm Gestalt gegeben hat nach der Fratze des Bösen, dessen Hand wird verdorren, dessen entartetes Gesicht wird der Herr austilgen, auf daß dem Satan kein Denkmal bleibe, sondern der Mensch allein sei nach Gottes Bilde. Die Gerechten aber müssen sich freuen ... Dieser Schnee war so rein, wie er vom Himmel gefallen ist', sagte ich zu den Meinen. .Menschen haben ihn so beschmutzt. Habt Mitleid mit dem armen Schnee', sagte ich, und so wie ihr sanftmütig mit euern Feinden sein sollt, so nehmt auch keinen Anstoß an ihm da.'

Und so blieb der Götze stehen. Und was teuflisch an ihm war, mag sich gequält haben, fortwährend auf den Opfei-tisch des Herrn zu sehen und des Herrn Auferstehung und Himmelfahrt verkündigt zu hören an diesem Tag, den der Herr gemacht hat und an dem wir jubeln und fröhlich sein sollen!

Nun, das war nicht die erste Schandtat, die jener Pitirim sich ausgedacht und mit seinen Kameraden ins Werk gesetzt hatte, aber es war die frechste. Wir hatten an Fest- und Feiertagen schon Pflöcke aus frischem Holz in die Schlüssellöcher getrieben gefunden, wenn die Kirche geöffnet werden sollte, wir hatten schon Fenster ohne Scheiben gehabt; unter einer losen, federnden Planke hatte man einmal eine alte Ziehharmonika angebracht, die jedesmal ein wildes Gedudel von sich gab, wenn jemand auf diese Stelle trat und damit den Balg zusammendrückte, und ein zweites Geheul, wenn die Planke sich wieder hob — o ja, wir hatten ja mehr als zwanzigjährige Erfahrungen. Bis hierzu aber hatte noch keiner von diesen jungen Gottesleugnern gewagt, während der göttlichen Liturgie in die Kirche zu kommen.

Die Andacht am Vorabend der Himmelfahrt war zu Ende. Die Meinen gehen hinaus, draußen werden sie von Schmähern erwartet. Ein Weilchen später gehe ich heim, und entgegentritt mir eben jener Pitirim als Wortführer seiner Genossen.

,Höre, Bürger Evangelium', beginnt er, was er sagen will, aber dann geht alles in dem Gelächter unter, das die Seinen über diesen Witz anstimmen.

,Du hast recht, ich bin ein Bürger des Neuen Bundes', sage ich, .ihr braucht nicht zu lachen.'

,Du wirst dein Geschäft schließen, Bürger', beharrt Pitirim, ,oder wir zeigen dich beim Kreissowjet an.'

,Das könnt ihr tun, aber das wird euch nichts nützen.' Nun hatte ich die Drohung, mich anzuzeigen, nicht zum ersten Male gehört, sie jagte mir auch diesmal keinen Schrecken ein.

,Wir sind als Gruppe von Gläubigen registriert', sagte ich, ,der Kreissowjet hat uns die Kirche zur Nutzung übergeben, wir haben die Vorschriften des Gesetzes beachtet und werden sie weiter beachten, du bemühst dich unnütz, Bürger Pitirim.'

,Die Kirche kann geschlossen werden, wenn ein Teil der Bürgerschaft Anstoß an ihren Umtrieben nimmt und gestört wird', beharrte er.

,Du irrst“, sagte ich, ,ich kenne das Dekret des Rates der Volkskommissare besser. Sie muß öffentlich Ärgernis erregen, aber das tut sie nicht, und ihr seid keine' Öffentlichkeit. Wir haben die Bestimmungen über das Veranstalten von Prozessionen genau eingehalten, wie du weißt. Und ich bin ein Werktätiger wie du und ihr alle.'

.Aber hier ist gegen die Bestimmung verstoßen worden, daß bei Jugendlichen unter achtzehn Jahren keine religiöse Propaganda getrieben werden darf. Und dabei sind Jugendliche in der Kirche ge-wesenl Das werden wir anzeigen, und das wird dein Geschäft schließen.'

Das letzte stimmte — und stimmte doch nicht. Es waren tatsächlich kurz vor Ostern ein paar halbwüchsige Kinder von ihren frommen Eltern zur Kirche geschickt worden und hatten vorzeitig getriebene Weiden und Blumen zur Schmückung des Sarges Christi bringen sollen; aber sie hatten nicht am Gottesdienst teilgenommen, waren nicht während des Gottesdienstes dagewesen, hatten nur einen Botengang für ihre Eltern gemacht. Und das erklärte ich Pitirim. Er grinste. ,Das genügt vor Zeugen', meinte er und sah sich siegesgewiß nach seinen Kameraden um.

.Mensch“, sage ich da und vergesse mich vielleicht zum ersten Male in einem Kampf, der schon an die drei Jahre gewährt hatte, und trete auf ihn zu und will ihn schon beim Rock greifen, als ich's gerade noch bleiben lassen kann, .wenn du schon keine Obrigkeit im Himmel kennst, so nimm doch Lehre an von deinen Oberen hier auf Erden. Hast du selber keinen Glauben, so halte dich an die Bekämpfung des Glaubens, und nicht der Gläubigen, wie Lenin gelehrt hat. Und versuch nicht, mit Schneemännern zu überzeugen, denn die schmelzen sehr schnell. Propagiere für deinen wissenschaftlichen Materialismus. Aber als Gläubiger rate ich dir: gib beides auf! Es hat größere Feinde Christi gegeben als dich, und am Ende sind sie doch für ihn gestorben. Der Himmel meint es bisweilen so scheinbar verkehrt.'

Und damit ging ich, ohne seine Antwort abzuwarten. Am nächsten Morgen trat während des Gottesdienstes ein gottloser Sprechchor vor den herbeigeeilten Kindern nahe der Kirche auf, und in unsere Hymnen zu Ehren des gen Himmel Gefahrenen schallte die Musik aus dem Lautsprecher des Ortssowjets, von dem man eine Leitung mit einem Lautsprecheranschluß bis hieher gezogen. Als unsere Glöckner die Glocken läuten wollten, hatten die keine Klöppel mehr. Sie waren irgendwann einmal ausgefeilt worden. Es war ein schauerlicher Wirrwarr, dieses Gemisch aus Lautsprechermusik vor den Fenstern und in unserem Gesang. Es war die Propaganda für den wissenschaftlichen Materialismus, die ich selber empfohlen hatte. .

Mitten in dieser Hölle aber tat der Herr das erste Zeichen und Wunder. Der Gottesdienst ging eben zu Ende, als es draußen mit einem Male still wurde. Die Sprechchöre waren verstummt. Alle, die hinausgingen, empfing von dort her das Gemurmel friedlichen Ratschlagens und Staunens. Selbst die Ungläubigen waren voller Verwunderung, die Gläubigen aber erfaßte ein geheimes Wissen, daß die eit erfüllt war. Ich sehe sie noch heute vor mir, die Meinen, viele von ihnen sind jetzt hier: sie stehen-vor der Kirche, sie haben vergessen, den von fern her herangeleiteten Draht und den Schalltrichter zu betrachten, sie starren zum Himmel und bekreuzigen sich und beten: .Herr, erbarme dich unser!' Sieben Sonnen standen am Himmel um die dritte Stunde des Himmelfahrtstages, um jene uns täglich vertraute herum im Kreise sechs kleine Sonnen, die um ihren hellen Kern in allen Regenbogenfarben glänzten, und rot strahlten sie zu unserer abtrünnigen Erde hinunter. So waren wir in den siebenten Äon eingetreten, und der Herr gab den Seinen ein Zeichen, daß der große, offenbare Tag nahe sei.“

(Aus dem Roman „Der große, offenbare Tag“ mit Bewilligung der Hegner-Bücherei im Summa-Verlag, Ölten.)

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