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Der große Ruf

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Am Ostersonntag hat Papst Piuj XIL einen aufrüttelnden Appell an die Katholiken der Welt, in Sonderheit aber an jene Italiens gerichtet, sich ihrer politischen Verantwortung in einer Stunde, die vielleicht über Krieg und Frieden entscheidet, bewußt zu sein.

Dieser Anruf steht in einer Kette bedeutsamer Proklamationen des Papsttums der letzten Jahrzehnte, die ihren ersten Höhepunkt erreichten in den Lehrschreiben Pius XI., „Mit brennender Sorge“' und „Divini Redemptoris“ vom 14. und 19. März 1937 und einem zweiten Kulminationspunkt in den immer schneller aufeinanderfolgenden Reden und Rundschreiben des gegenwärtigen Papstes zusteuem. Diese lassen an Klarheit uijd Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Am 10. März 1948 erklärt der Papst in seinen Anweisungen an die Pfarrer und Fastenprediger Roms: in den gegenwärtigen Umständen besteht für all Stimmberechtigten, für Männer nd Frauen eine strenge Wahlpflicht. „Wer sich enthält, besonders aus Trägheit oder Feigheit, begeht an und für sich eine schwere Sünde, eine Todsünde.“ Der Papst des 20. Jahrhunderts verpflichtet die Katholiken zo restlosem, rastlosem Einsatz im Raum des Politischen.

Eine weltgeschichtliche Stunde hat geschlagen. In Italien, wie für das ganze Abendland. Die Tage Gregors VII. scheinen wiederzukehren. Jener große Papst hatte an der entscheidenden Wende, in der Krisis der frühmittelalterlichen Welt- und Lebensordnung, die Massen des niederen Volkes, die eben im Aufstieg zu politischem Selbstbewußtsein befindlichen Städte zum erstenmal aufgerufen zum Kampf wider die altfeudale Herrschaftsordnung des „Heiligen Reiches“, die Gott und Welt für sich beschlagnahmt hatte und die christliche Substanz zu ersticken drohte. Dieser erste Freiheitskampf des werdenden Abendlandes galt der „Libertas Ecclesiae“: „Freiheit der

Kirche" war das Schlagwort aller jener Reformkreise, die im erbitterten Ringen des 11. bis 13. Jahrhunderts zum erstenmal der massiven Welt- und Gesellschaftsordnung des feudalen Mittelalters einen Eigenraum der Freiheit, des persönlichen Gewissens abrangen.

Im folgenden halben Jahrtausend eroberten jedoch die „Welt“ und der Weltstaat ihre alte Herrschergewalt nahezu vollkommen zurück. Es gelang ihnen, die einst Welt und Überwelt, Zeit und Ewigkeit umfassenden Glaubenskräfte in rein innerweltliche Energien umzuwandeln. Ungeheure Kräfte wurden dadurch frei: die Kräfte, die eine tausendjährige Disziplin und Zucht der Leiber, Geister und Seelen im Dienste Gottes gesammelt und gebändigt hatte, ergossen sich nun, während ein Damm nach dem anderen einstürzte, über die Erde.

Verschreckt und bestürzt, mißleitet durch Fehlentwicklungen, die bis in den Raum der Theologie reichen, und durch Häresien, belastet mit eigener Schuld, zogen sich die Gläubigen in Reservationen zu rück. Das Rückzugs-Christentum des 19. Jahrhunderts; Flucht in den Frömmigkeitsund auch Denkstil begrenzter scharf um- rissener ständischer und völkischer Gruppen. Abwehr der ganzen großen und reichen Entwicklung, die sich draußen im Raum der Welt abspiflte. Ressentiment, Feigheit, Engherzigkeit waren die Folgen dieses verkümmernden Christentums, das nach und nach die Verbindung mit den schöpferischen Kräften der Menschheit verlor, weil es ängstlich und befangen von der Idee des Haiten- woIlens-um-jeden-Preis das Grundanliegen seines Stifters vergaß: daß das Leben auf Erden ein Kampf ist, ein Kriegsdienst; daß das Leben gerade als christliche Existenz begriffen, täglich neu gewagt werden muß. Verhängnisvollster Entschluß, schlimmste

Folge eines halbtausendjährigen Rückzugs aus der Bewegungsschlacht in scheingesicherte Stellungen: Zuerst ging die Herrschaft über die Geister verloren, über di Geister der Künstler, Dichter, Wissenschaftler und

Gelehrten. Dann jene über die Herzen der Jugend, zugleich — im großen Abfall des 19. und 20. Jahrhunderts, jene über die Seelen der Massen.

Und doch begann bereits, mitten im Verfall, das großartige Werk der Erneuerung: mit Männern wie Lamennais, Ozanam, Lacordaire in Frankreich, Görres, Möhler, Ketteier in Deutschland, Wiseman und Newman in England beginnt jene Reihe katholischer Denker und Theologen, die den Aufschwung des 20. Jahrhunderts einleitet. Die große christliche Renaissance des 19. und 20. Jahrhunderts — und diese Jahrhunderte werden einst in die Weltgeschichte eingehen als schöpferische Epochen eines aus seinen letzten Tiefen erneuerten Christentums —, diese Wiedergeburt mußte also dort an- und einsetzen, wo die erste große Schlacht verloren worden war: im innersten Raum des Geistes, des Herzens und der Seele. Darf es als Zufall bezeichnet werden, daß in dem erbitterten Ringen um einen Neuaufbau des innerchristlichen Kraftfeldes des Geistes und des Glaubens Frankreich eine führende Rolle zuteil werden sollte — jenem Frankreich, das einst in der großen Wende des 12. und 13. Jahrhunderts bereits die spirituelle Führungsmacht Europas gewesen war?

Von innen geht aber der Weg notwendig nach außen. Die neugeweckten christlichen Kräfte müssen danach streben, die Welt nach ihrem Bilde zu formen. Wirken in der Welt — und das heißt heute in Wissen- schaft und Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und staatlicher Gemeinschaft — ist Aufgabe des Vollmensdien, des Vollchristen seit dem Tage, an dem Adam Gottes Befehl empfing, die Erde zu bebauen und der Mensch von Christus diesen Befehl, die Pflege des Menschen in ganz neuer Tiefe und einmaliger Berufung wieder empfing.

Nüchtern erklären die Gegner der Kirche und des Christentums: vortrefflich, diese offene Deklarierung! Sie bestätigt uns das, was wir immer schon gewußt und gesagt haben. Solange die Christen und zumal die Katholiken Minderheiten, beziehungsweise in der Defensive sind, gebärden , sie sich zahm, menschlich-human, bewegen sich in schöngeistigen Reden und Predigten. Wehe uns aber, wenn sie zur Macht gelangen! Da erhebt der politische Katholizismus sein Haupt und kämpft rücksichtslos um politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen!

Wie steht es nun wirklich mit diesem „politischen Katholizismus“? Jawohl, es hat in der zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit so etwas wie einen politischen Katholizismus im schlechten Sinne des Wortes gegeben. Eine leid- und folgenschwere Verquickung von Religion und Parteiwesen belastet die Geschichte unserer Welt seit jenen frühchristlichen Jahrhunderten, in denen das Labarum, das Kreuzeszeichen, zur Standarte der spätrömischen kaiserlichen Heere wurde, als kaiserliche und gegenkaiserliche Bischofsgruppen die Konzilien des Ostens mit Zank, Streit, Intrige, Rebellion und Mord entehrten. Die Taten so mancher Reichsbischöfe des Mittelalters, italienischer Renaissance-Päpste, spanischer Könige an der Schwelle der Neuzeit: welcher christliche Historiker dürfte es wagen, sie, die in Blut und Tränen ihrer Jahrhunderte untiergegangen sind, reinzuwaschen im Papier des 20. Jahrhunderts? Und dieses selbige 20. Jahrhundert, das augenscheinlich nicht nur aus Papier besteht, sondern auch aus „Blut und Eisen“, aus Völkerheeren, Imperien und Imperialismen, aus gefährlichen Ballungen ober- und unter irdischer Kräfte —, liefert es nicht selbst neue Beweismittel für die Gegner „des politischen Katholizismus“? Versuchen nicht Christen ihre soziologischen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüche zu decken durch Berufung auf Kirche und Christentum? Hat nicht der große Papst der Moderne, Pius XI., selbst in seinem berühmten Paravento- Gleichnis diese Wand- und Regenschirmtaktik enthüllt, bloßgestellt? Dieser politische Katholizismus ideologisierender Machtpolitiker hat seit den Tagen Leos XIII. zaJhl- reidie Verurteilungen durch die Päpste erfahren. Erinnert sei nur an die aufsehenerregende Stellungnahme dieses Papstes gegen den royalistischen Katholizismus Frankreichs in den neunziger Jahren des

19. Jahrhunderts, an die Verurteilung des politischen Katholizismus eines Charles Maurras durdi Pius XI., an die Warnungen desselben Papstes 1925/26 an die mexikanischen Katholiken — die in grausamster Verfolgung ihren Glauben durch zahlreiche Blutopfer bezeugten —, sich nicht zur Rebellion gegen die Staatsgewalt verführen zu lassen. Wenn heute „Antifaschisten“ aller Grade und Observanzen den Päpsten den Lateranvertrag und das Reichskonkordat als Pakt mit dem Faschismus vorwerfen, dann übersehen sie, daß eben diese Staatsverträge der Kurie feierliche und hochbedeutsame Absagen an jeden „politischen Katholizismus“ falscher Ordnung darstellen. Die römische Kirche hat in strikter Erfüllung des Gebot „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ ihre Kinder nicht geschont, sie hat ihre Söhne und Töchter oft und, wie gerade die Gesdiichte des faschistischen und nazistischen Staates zeigt, bis zum Weißbluten der Macht der weltlichen politischen Gewalt ausgesetzt gelassen. Nicht zuletzt in den Erfahrungen dieses letzten grauenhaften J a h r- zehnts stieg aber, in der Absage und Aufgabe des „politischen Katholizismus“ eines christlich etikettisierten Partei- und Interessen wesens leuchtend die uralte Erkenntnis von der echten politischen Sendung des Christen neu herauf. Der Christ, der Diener Christi, des Königs der Liebe, der Wahrheit und Gerechtigkeit, hat im Raum dieser Welt vom Gebot dieses seines Herrn Zeugnisabzulegen. Das Kreuz, das Sdiandmal, das Richtzeichen der Staatsverbrecher des römischen Reiches, wird wieder erkannt als das große Ärgernis für alle Herrscher und Großmädite dieser Welt, weil es diese insgesamt unter sein Gericht einberuft. Mit dieser Erkenntnis, mit der Anerkenntnis der Forderungen Christi an diese Welt, formiert sich die neueChristenhcit Die uralte, inhaltsschwere Frage tritt als Lebens- und Existenzfrage neu an uns heran: Wer ist der Kyrios, der Großherrscher über Leiber und Seelen, wer bestimmt, was wahr und falsch. Recht und Unrecht, menschlich und unmenschlich, erlaubt und unerlaubt ist? Ist es Nero, der nero- nische Großtyrann, der Totalstaat des ersten oder 20. Jahrhunderts — oder ist es jener zu dem die Christen täglich rufen Kyrie eleison? Christse:n an sich manifestiert sich demnach heute als ein Phänomen von grundsätzlich politischer Bedeutung..

Der Christ ist zur Verantwortung eingefordert für das Schicksal aller Verbannten Verjagten, Eingekerkerten, Unterdrückter Verfolgten. Aller Mühseligen dieser Erde die auf den Straßen Chinas, Indiens, Mitteleuropas, in den Anhaltelagern, in der Kerkern der ganzen Welt schmachten. Soziale, politische, nationale, rassische Unterdrückung — in allen Nationen und Staatsgebilden der Erde — sie ist dem Christen als Kreuz aufgeladen, zur Bewältigung in dieser Welt! Gibt es ein dirist- Fcheres, gibt es ein brennenderes öffentliches Anliegen in unserer Zeit, welche gezeichnet ist durch 80 Millionen Flüchtlinge und 800 Millionen Menschen, welche im Aufbruch zu neuen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebensformen stehen?

„Die große Stunde des christlichen Gewissens hat geschlagen.“ Mit diesem einen Satz umreißt Papst Pius XII. in seiner Osteransprache die brennende Größe dieser Stunde: Nicht um den Kunstschnitt von Gebetbüchern, um die Fassung von Andachtsmedaillons und Erinnerungsmedaillen, um die Beschaffung von Weihrauch für die Gedächtsnisfeiern der heiligen Kämpfer vergangener Zeitläufte geht es heute, sondern um den Einsatz des Christen als Träger christlichen Geistes. In Fabrik und Büro, in Schule und Werkstatt, in Film,

Funk und Presse auf allen Schlachtfeldern dieser Erde, weil überall hier, in dieser Stunde, Entscheidungen von folgenschwerster Bedeutung fallen. Sie gehen zwischen . Freiheit und geistiger Botmäßigkeit, zwischen Menschenwürde und Herdendasein, zwischen dem Leben und Wirken aus der christlichen Liebe oder aus dem Mechanismus eines menschlichen Systems. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben uns gelehrt: Wer heute zu feig ist, das Antlitz des lebendigen. Gottes zu bekennen, ist morgen zu schwach, das Gesicht des Menschen zu wahren: In den „gleichgeschalteten" Büros, in den staatlichen Instituten und Fabriken der Lenkung der öffentlichen Meinung, in den Zwangs arbeitslagern und Gefängnissen des totalen Staates!

Die Christen des ersten Jahrhunderts starben, weil sie ihre christliche Existenz als eminentes Anliegen der menschlichen Gemeinschaft begriffen. Die Christen des

20. Jahrhunderts werden leben, wenn sie im Geist jener ihr tägliches Leben als Verpflichtung zum öffentlichen Zeugnis hier und heute verstehen lernen. Der Papst Pius bezog sich in seiner Osterbotschaft auf den Ruf Christi zur Entscheidung „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“. Dieses Wort steht heute groß an der Stirnwand jedes Wolkenkratzers und jeder Baracke, jeder Montagehalle und jedes Kinos — es pocht an die Gewissen der Christenheit in dieser Stunde, die über Heil und Unheil vieler Geschlechter bestimmen wird.

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