6723868-1965_23_06.jpg
Digital In Arbeit

Der große Schock

Werbung
Werbung
Werbung

Der belgische Staat war immer echon ein schwer zu steuerndes Schiff. Regieren ist dort eine prekäre, höchst undankbare Aufgabe. Das zeigte sich wieder einmal besonders deutlich bei den jüngsten Neuwahlen und ihrem Vorspiel. Ver-

diente Minister des abtretenden Kabinetts, wurden von der eigenen Partei auf einen Platz auf der Wahlliste abgescnoben, wo ihnen kaum edne Chance blieb, gewählt zu werden. Politik ist eine harte Sache. Wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat, schickt man ihn einfach in die Wüste. Was diesen Herren von der Partei geschah, das mußte die Partei von den Wählern hinnehmen. Die beiden Koalitionspartner, die christliche Volkspartei (CVP) und die Sozialisten (BSP), die immerhin Volkswohlfahrt und sozialen Frieden redlich gefördert und sich darüber hinaus für die Konsolidierung der Beziehungen zwischen Flamen und Wallonen und für brauchbare Sprachgesetze eingesetzt hatten, waren sich von vornherein darüber im klaren, daß die unpopulären Maßnahmen, deren Verankerung im Grundgesetz allmählich gewünscht erschien, ihnen wenig Sympathien eintragen, vielmehr einen schweren Zoll abnötigen würden. Sie waren bereit, ihn zu bezahlen. Daß jedoch ein förmlicher Erdrutsch ihnen das Konzept völlig verderben und die leidlich stabilen politischen Verhältnisse total durcheinanderbringen würde, hatte auch der ärgste Pessimist nicht erwartet.

Das Parteiensystem (der Parteienblock) in Belgien ist ein überaus kompliziertes, verwirrendes Labyrinth. Die politischen und weltan-

schaulichen Differenzen werden im Zweivölkerstaat noch vom Gegensatz zwischen Flandern und Wallonien durchkreuzt. Flamen und Wallonen bekämpfen sich sozusagen auf mehreren Fronten, die sich überschneiden und da und dort auch wieder zu-

sammenfinden. Es ist nicht ganz klar, ob ein sozialistischer FlamfretäKÄrSei-t nem, Parteigenossen in WaUflnien,-nähersteht oder doch seinem Landsmann in Flandern, der der katholischen Volkspartei angehört.

Von Großparteien bis zu Vereinen Huysmans Eulenspiegelei

Außer den drei großen Parteien, den beiden bereits erwähnten und der PVV (liberale Partei für Freiheit und Fortschritt), gibt es noch zwei kleinere, nicht eben unbedeutende: die Volksunion der extremistischen Flaminganten und die kommunistische Partei, neuerdings als Moskowiter und Pekinger getrennt marschierend. Überdies existieren noch rund zehn Splitter- und Zwergparteien, die das Chaos zwar vermehren, anderseits jedoch eine drohende Erstarrung der Demokratie gelegentlich verhüten und dem Monopol der Großen entgegenarbeiten. Daß auch noch Vereine, die keine politischen, sondern allgemeinmenschliche Ziele verfolgen, ihre Kandidatur stellen, ist recht abwegig, wenn diese Ziele auch manchmal so erfreulich sind, wie das zum Beispiel beim Tierschutz der Fall ist. Als ernst zu nehmende, wenn auch lästige Zwergparteien wären noch zu erwähnen: die Front der Französischsprechenden (Frankofone Front) in Brüssel und die linksorientierte Mouvement Populaire Walion.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung