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„Der große Wanderer“

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Steinamanger, September 1947 Ein junger Priester in weißem Rochett sagt es zu einem neben ihm schreitenden alten Manne, vielleicht ist dieser ein Schul-lehrer oder Dorfarzt — sein Anzug ist abgetragen, sein Gesicht braungebrannt —, und er wiederholt die beiden Worte langsam, fast skandierend auf ungarisch und das Volk, das in dichtgedrängten Reihen die staubige Landstraße dahinzieht, nimmt diese beiden Worte auf; die beiden Worte fließen wie, ein Strom mit der Menge: „A nagy vandor“, „der große Wanderer“, der Hirte, der unablässig seine nun so verlassene Herde betreut, warnt, bewacht.

Die Sonne ist noch kaum über den fernen glasigen Rande des Horizonts hinaufgestiegen, die Ebene liegt im durchsichtigen Schimmer des frühen Septembermorgens, der alles zu Gold werden läßt. Wir aber wandern auf S t e i n a m a n g e r zu, die Stadt, in der seit gestern ein hohes Fest gefeiert wird: die Kathedrale, die im März 1945 fast vollkommen zerstört wurde, ist wieder neu erstanden. Bis auf einige Details der Innendekoration und der zerstörten Fresken von Maulpertsdi ist sie wiederhergestellt.

Am Tage vor Maria Geburt nimmt Fürstprimas Josef Mindzenty, umgeben von dem ganzen Episkopat Ungarns, die Weihe vor.

150.000 Menschen sind in der Stadt zusammengeströmt. Es ist derselbe Ruf, der 500.000 an der St.-Stephans-Prozession hatte teilnehmen lassen, der hunderttausende Männer und Frauen nach Maria - ReVnete vpilgern läßt und anfangs Oktober die Gläubigen zum Marianischen Kongreß nach Budapest führen wird ...

Den ersten Festtag beschloß die große Lichterprozession am Ab;nd; 70.000 Men-sdien nahmen an ihr teil.

Die ganze Nacht hindurch hat dann eine unübersehbare Menschenmenge vor dem ausgesetzten Allerheiligsten gewacht. Am Vormittag des Marientages stehen die 150.000 wieder in und um die Kirche, in der der Stadtpfarrer von Steinamanger das Pontifikalamt zelebriert.

Fahnen wehen, Tafeln mit den Aufschriften der Gemeinden leuchten. Eine kleine Gruppe bahnt sich ihren Weg und singt mit rührend kindlichen Stimmen ein slawisches Kirchenlied. Menschen sind da aus 7ala un£ der Somog}', aus Debreczen und Szejrd, aus Miskolcz und Nyiregyhaza, ja selbst aus der Bacska. Aus dem Komitate Heves, viel hunderte Kilometer entfernt, kam eine Gruppe zu Fuß, nicht zu reden von Nagykanizsa, Papa und den näheren Städten und Ortschaften.

Bewegung. Eine kleine alte Bäuerin in schwarzem, weitem Faltenrocke und enger Jacke, das sdiwarze Kopftuch über der gefurchten, braungebrannten Stirne, in den schwieligen Händen das alte abgegriffene Gebetbuch und den Rosenkranz, trippelt durch die enge Menschengasse: die alte Mutter des Fürstprimas. Es geht wie ein Schluchzen durch das Volk und erstirbt wieder. Ein junger Zeremoniär im weißen Rodiett führt sie ehrfurchtsvoll an ihren Platz und das alte Weiblein kniet einfach und ernst inmitten all der offiziellen Ehrengäste nieder. Und nun hört man fernes Brausen, es wächst zum Orkan an, im offenen Portal der Kathedrale erglänzt das Kreuz. Die weißen Chorhemden der Alumnen und Priester schweben wie weiße Blumen im sonnendurchtränkten Rahmen des mächtigen Tores und nun erklingt das „Ecce Sacerdos“. Es erklingt und erstirbt sogleich, hinweggeweht wie ein Blatt, wie ein Stückchen Papier, das der Sturm hinwegfegt, es geht unter im tosenden Beifall der Menge, der durch die ganze Kirche brandet, daß die Gewölbe erzittern. Frenetisches Händeklatschen und Rufen wachsen zu einer gewaltigen Welle an, die erst abebbt, bis der Primas seinen Sitz unter dem Baldachin einnimmt. Über dem Hermelin hebt sich sein Gesicht weiß, ja fast durchsichtig, überschattet von tiefem Ernst. Es ist, als ob seine Schultern eine schwere Last trügen. Ich hatte ihn früher gesehen, noch als Stadtpfarrer von Zalaegerszeg. Damals machte er den Eindruck eines beweglichen, robusten Mannes, heute ist er nur mehr Geist, Ruhe, Entschlossenheit und tiefer, fast tragischer Ernst.

Man hat die Empfindung, dieser Mann trägt seine schwere Last mit Kraft und Zielsicherheit, es geht ein Gefühl durch uns alle: dieser Mensch trägt unsere Last! Und darum diese überwältigende Antwort auf den Ruf des Hirten. Der große Wanderer erscheint und Tausende und aber Tausende folgen seiner Stimme und säumen seinen Weg ..,

Arft Nachmittag erreicht die Feier ihren äußerlichen Höhepunkt; der Primas spricht auf der marianischen Tagung. Der Erz-bischof von Erlau eröffnet mit einer eindrucksvollen Ansprache. Dann erhebt sich der Primas und hält eine Rede, die wegen ihrer Denkwürdigkeit der „Furche“ berichtet sei:

„In dieser Stadt war ich einst ein kleiner Junge von zehn Jahren, der zaghaft das Gymnasium der Prämonstratenser als Schüler der ersten Klasse betrat. Und als dieser kleine Knabe frug ich einen älteren Mitschüler: Was für einen Titel muß ich wohl gebrauchen, wenn ich einem Studiosus der sechsten Klasse einen Brief schreiben würde? Und der große Junge antwortete mir mit ernster Miene: „Wohlangesehener Herr' kannst du ihn nicht titulieren, denn er hat ja noch keine Reifeprüfung abgelegt, daher hat er noch kein Ansehen, aber schreibe immerhin .sze'premenyü* (Der zu schöner Hoffnung Berechtigte), und diese Anschrift ist wohl die richtige.

Ich meine, dieser Titel würde auch heute gegen die so viel genannte Demokratie nicht verstoßen. Ihr Jungen! Dieser Titel besagt nicht nur, daß jeder von euch den Marschallstab, den Hirtenstab, den Samt des Ministerfauteuils in seiner Schultasche trägt, er sagt vielmehr auch, daß Gatt, die Kirche und das Vaterland mit froher Hoffnung auf euch blicken. Noch nie hat man höhere Hoffnungen auf eine Jugend gesetzt als heute. Wir brauchen keine exhausta pubertas, erschöpfte, schwächliche Jugend, oder gar den Typus des verlorenen Sohnes, der sich am Trog der Schweine erlabte ... Soli man hatte nicht so viele Muselmanen unter den Mauern der Festung Güns, in den Sümpfen von EgervaV gab es nicht so viele Panzerreiter, als es nun Söldlinge der neuheidnischen Gedankenwelt gibt, die gegen eure Reinheit, Selbstlosigkeit, Glaubenstreue und Vaterlandsliebe den Kampf angesagt haben. Nur der Sta.rke und Reine bleibt Sieger! Von Otto dem Babenberger sagte man einst: Er ist schamhaft wie eine Jungfrau, aber tapfer wie ein Löwe! So sollst auch du sein, ungarische Jugend!

An Stelle heiliger Traditionen laßt euch durch keinen Sdilamm, den Hochwässer mit sich führen, die reinen Ufer zerstören. Und darum: Verlaßt Maria nicht, sucht die Kongregationen, laßt in euren Seelen niemals die Kathedralen zerstören!... Christentum ist Unterwerfung unter die Lehren der Kirche. Christentum ist Gehorsam dem Heiligen Vater und den mit ihm vereinigten Oberhirten ...

Haltet dies vor Augen: ich bin geboren als ein Bürger des Reiches des heiligen Stephan, als Katholik bin ich aber ein Weltbürger des Reiches Gottes. Diese zwei Komponenten sind die grundlegenden Elemente meines Lebens. Als Katholik denke ich in Kontinenten und Ewigkeiten. Als Ungar schwebt meine Seele über den durch die heilige Hand des heiligen Königs Stephan gezeichneten Hügeln, und wo immer Söhne und Töchter dieses heiligen Königs — ohne Rücksicht auf ihre Sprache — sich quälen und härmen, sind sie alle in meinem Herzen und meinen Gebeten ...

So wie wir uns von jenen absondern, die auf fremden Einfluß hin ihrem Vaterlande den Rücken zukehren, so auch von jenen, die den anderssprachigen, doch treuen Söhnen und Töchtern dieses Landes in ungerechter Weise Gewalt antun ...

Die Lippen der Ideologen werden längst verblichen sein, wir aber halten fest, mit dem Bekennermut des heiligen Martinus und der Märtyrerkraft des heiligen Quiri-nus, an unserer Überzeugung!...

Merket wohl auf: Es kann alles zusammenbrechen, doch Recht und Gerechtigkeit überdauern doch immer alles!... Wir sind Katholiken und Ungarn, Marias angestammtes Volk durch Sklaverei, Stürme, Kreuz und Elend hindurch! ... Und darum lebt inmitten all dieser Prüfungen die unerschütterliche Hoffnung: eine Nation, die Maria zu eigen gehört, kann niemals verlorengehen!“

Die Worte des Kirdienfürsten waren von Begeisterungsstürmen begleitet, die sich minutenlang erneuerten.

Es folgte die Weihe aller Anwesenden an die allerseligste Jungfrau und die Ablegung eines feierlichen Eides, der Kirche treu zu bleiben, die zehn Gebote zu halten und als katholische Ungarn zu leben und zu sterben.

Die Schwurfinger hoben sich zum Himmel, brausend erklang es aus mehr denn 150.000 Kehlen: „So wahr mir Gott helfe!“

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