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Der Held

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Ich sah ihn an einem warmen Vorfrühlingstag auf einer der dem Seeufer nahen Bänke sitzen, das eine Bein steif von sich gestreckt, ein Mann nahe der Sechzig und zur Fülle neigend. In seinem aufgedunsenen Gesicht beängstigten mich die nach unten gezogenen Mundwinkel, die mehr als die übliche Resignation des Alters auszudrücken schienen. Die unter dicken, geröteten Lidern versenkten Augen blickten stumpf und gleichgültig und ohne Ziel. In seiner linken Hand hielt er eine ausgebrannte, kurze Pfeife, die rechte fehlte. Der Arm mit dem rosigglänzenden Stumpf lag auf dem runden Knie des steifen Beines, als wollte der Verstümmelte sich der törichten Hoffnung hingeben, die milden Strahlen der Sonne könnten die fehlende Hand nachwachsen lassen.

Es waren nicht tadelnswerte Neugierde und auch nicht aufdringliches Mitleid, die mich bewogen, neben diesem Mann auf der Bank Platz zu nehmen, nachdem ich, den Hut lüftend, ihm meinen Gruß geboten hatte. Wie das schon ist, gaben das Wetter, der vorhergegangene harte Winter und andere saisonbedingte Phrasen den Anlaß, ins Gespräch zu kommen. Er formte die Worte langsam, ein wenig gehemmt, wie einer, dem die Zunge schwer im Munde liegt — aber nicht ohne eine gewisse Würde. Als ich dann meinen Tabaksbeutel aus der Tasche zog und ihm aus diesem anbot, zeigte es sich, daß der Einhändige geschickt mit der Linken gleichzeitig die Pfeife zu halten und zu stopfen vermochte. Derart auf das Gebrechen deutlich aufmerksam gemacht und dieses in den Bereich des Gespräches gezogen, fühlte sich der schwerfällige Mann bemüßigt, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, und diese mehr oder weniger nur im Hinblick auf den Verlust seiner Rechten.

Nicht ohne Stolz und mit einem den Südländern eigenen Pathos versicherte er mir, er sei ein „großer Held”, ein gefeierter und in den Zeitungen einst sehr gerühmter Mann. Aber man habe nur zu bald seiner vergessen, und heute erinnere sich kaum jemand mehr — einige seiner damaligen Kollegen ausgenommen — der Affäre, durch die er damals viel Ehre erfahren — aber auch seine Hand verloren habe. Um das Gesagte zu beweisen, griff er in die Innentasche seines abgetragenen Rockes und drückte mir ein Päckchen verblichener Zeitungsausschnitte in die Hand: „Lesen Sie, mein Herr, lesen Sie!”

So erfuhr ich, daß der alte Mann neben mir Gustino Perloggi heiße und bei der Kriminalpolizei von L. gedient habe. Den Gipfel seiner Tätigkeit und gleichzeitig auch deren Ende erreichte er durch die Aufklärung eines Raubmordes an einem der vielen Schmuckhändler von L.; die auf die heitere Eitelkeit der einheimischen Mädchen und Frauen und auf die Kauffreudigkeit der zahlreichen Vergnügungsreisenden bauend, ihre Geschäfte machen. Aus den mehr als drei Jahrzehnte alten Zeitungsberichten konnte ich entnehmen, daß die Leiche des Juweliers X. in seinem ausgeplünderten Verkaufsladen gefunden worden war und daß der damals noch junge und ehrgeizige Gustino Perloggi innerhalb von 48 Stunden des Mörders habhaft werden konnte. Es hatte alles einen routinemäßigen Verlauf genommen: Mittels Fingerabdrücken und eines am Tatort auf gefundenen Halstuches und nicht zuletzt durch die Geschwätzigkeit eines Mädchens, das sich allzufrüh des ihr vom Mörder — der ihr Liebhaber gewesen war — geschenkten Ringes rühmte, gelang es Perloggi kurz vor Einbruch der Nacht, den Täter in einer am Rande der Stadt gelegenen Grotta festzunehmen. Nachdem der vom Wein bereits berauschte und in diesem Zustand der Wahrheitsliebe ergebene Mörder die Tat gestanden hatte, fesselte Perloggi ihn mit den damals erst neueingeführten Handschellen an sich, um ihn zur nächsten Polizeistation zu bringen.

Aber ehe noch die ersten Häuser der Stadt sichtbar wurden, stürzten sich an einer von Gebüsch verdeckten Straßenbiegung zwei durch vor das Gesicht gebundene Halstücher unkenntlich gemachte Männer auf den seines Sieges schon allzu sicheren Polizisten und wollten ihm den Gefangenen entreißen. Aber die Handfessel vereitelte den auf Ueberraschung berechneten Heberfall. Perloggi verteidigte sich, nachdem ihm die Pistole aus der Hand geschlagen worden war, mit der bloßen Faust seiner freien Hand. Aus mehreren Wunden blutend, fühlte er seine Kräfte nachlassen und mußte erkennen, daß die beiden Helfershelfer des Verhafteten, sich der durch die Handschellen veränderten Lage anpassend, aaran waren, in seinen Taschen den Schlüssel zu finden, um so ihren Freund von der Fesselung freizumachen. Perloggi aber, um nichts in der Welt bereit, den von ihm verhafteten Mörder entkommen zu lassen, schleuderte mit den letzten Kräften den Schlüssel in weitem Bogen über das Buschwerk in den dahinter vorbeifließenden und von den Regenfällen der vorhergegangenen Tage angeschwollenen Fluß. Die Verbrecher, derart um den Erfolg ihres Rettungswerkes gebracht und keineswegs gesonnen, ihren Genossen preiszugeben, schlugen den halb ohnmächtigen Perloggi nieder. Mit ihm stürzte auch der Mörder zu Boden, und während der eine Maskierte den Polizisten mit einem in den Mund gepreßten Tuch am Schreien hinderte, hob der andere den Arm, an dem ihr Spießgeselle gefesselt war, legte, den Aermel der Uniform zurückschiebend, das Handgelenk Perloggis auf einen die Straße säumenden Grenzstein und schlug mit dem schweren Weinbergmesser so lange auf den Unterarm ein, bis sich die Hand mitsamt der Fessel löste und die beiden mit dem so befreiten Verbrecher in das Dunkel und im weiteren Verlauf über die nahe Grenze verschwinden konnten.

Erst später fand eine zur Verfolgung der Uebeltäter ausgesandte Polizeistreife, ein gutes Stück von der Stelle, an welcher der Ueberfall stattgefunden hatte, die ausgeblutete Hand des jungen Polizisten. Ihn selbst, der durch die schenke überreicht oder Hin zum. Ehrenmitglied ernannt hatten. „Gustino Perloggi bleibt im Polizeidienst!” stand fettgedruckt als Titelzeile auf einem der letzten Blätter. Er war, wie man lesen konnte, zu leichterem Bürodienst bestimmt worden.

„Genug, mein Herr — genug! Sie wissen nun alles!” Mit diesen Worten nahm er mir das Bündel bedruckten Papiers aus der Hand. „Ich konnte nicht bleiben. Ich — ein Tintenkleckser? Ein Held am Schreibtisch, im Vorzimmer irgendeines Zweihändigen? Ein Jahr nachher sprach schon niemand mehr davon, wollte niemand wissen, daß ich ein Held war — sah man verlegen weg, wenn ich meinen Armstumpf zeigte. Eine Prothese wollte man mir geben, gerade als müßte ich mich meiner ehrlichen Narbe schämen! Ich ging — böse Kollegen —, Sie wissen wie das ist — keine Ehrfurcht, keine Achtung … Ich ging. Ein Pensionist — mit einer Gnadenpension — zuwenig zum Leben — zuviel zum Sterben! Ein pensionierter Held — ich, Gustino Perloggi!”

Ich suchte verlegen nach Worten, die nicht . etwa Trost, sondern Anerkennung seiner Tat Schläge und den großen Blutverlust das Bewußtsein verloren hatte und noch rechtzeitig aufgefunden worden war, brachte man in das Spital, Wo er tagelang zwischen Tod und Leben schwebte.

Wie ich den Zeitungen weiter entnehmen konnte, scheint Perloggi in den Wochen seiner Genesung das erlebt zu haben, was man gemeinhin Popularität nennt. In den Zeitungen erschien sein Bild, und an seinem Krankenlager drängten sich die Journalisten nicht nur der örtlichen Presse, sondern auch solche der anderen Kantone, ja sogar ein Vertreter einer ausländischen Zeitung war gekommen, bewaffnet mit Kamera und Blitzlicht. Auf einem Bild konnte man Perloggi sehen, wie er, den Unterarmstumpf durch einen dicken Verband verhüllt, an dem weißen Kissen des Spitalbettes lehnt, sein damals noch herbes und sehniges Gesicht von einem zufriedenen Lächeln erhellt; auf einem anderen sah man den Polizeichef der Stadt und den Bürgermeister, wie sie, über den Verwundeten gebeugt, diesem die offizielle Anerkennung ausdrücken. Man konnte lesen, daß verschiedene Vereine, darunter auch solche, deren Mitgliedschaft an die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht gebunden war, ihm Gehalten ausdrücken sollen, einer Tat, die, nüchtern betrachtet, eher als ein unglücklicher Zufall, ja sogar — die Zeitungen schwiegen taktvoll darüber — als eine böse Nachlässigkeit hätte angesehen werden können, da er durch die falsche Anfesselung sich selbst der Kraft seiner rechten Hand beraubt hatte.

„Und Ihr Bein?” erlaubte ich mir die Frage, „auch ein Andenken an dieses schreckliche Erlebnis?”

Er schlug mit dem Stock nachlässig auf die staubige Schuhspitze. - „Das Bein?” Die Mundwinkel zogen sich verächtlich herab. „Das Bein? Wegen einer Bagatelle! Jahre später, von einem Auto niedergestoßen. Ein dummes Kind trug die Schuld — mehr als der Autolenker. Ich sah es über die Straße laufen, ins Auto hinein, riß es zurück, mit der einen Hand, verlor das Gleichgewicht, drehte mich, fiel und bekam das Rad übers Knie. Pech — weiter nichts!”

Ich habe dann noch mit Gustino Perloggi einen Liter des guten, herben und ehrlichen Nostrano getrunken. Als ich ihn verließ, war er bereit, mir einen der Zeitungsausschnitte zu schenken — aber ich wollte ihn seines Schatzes nicht berauben.

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