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„Der Himmel voller Geigen“

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Das Leben der großen Symphoniker. Von Rudolf Thiel. Paul-Neff-Verlag, Wien, Berlin, Stuttgart. 792 Seiten>>>>>

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Das Leben der großen Symphoniker. Von Rudolf Thiel. Paul-Neff-Verlag, Wien, Berlin, Stuttgart. 792 Seiten>>>>>

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.Wie wunderbar und doch so einfach! — Da6 steht in allen Lehrbüchern der Stenographie. Und wenn man dann die stenographischen Zeichan, die diesen Satz aus- drücken, in einer bestimmten Anordnung hin- 6direitrt, so erscheinen auf dem Papier die treuherzigen Züge von Franz Xaver Gabels- berger, des Erfinders der Kurzschrift… Ähnlich .wunderbar und doch so einfach“ scheint 6ich Rudolf Thiel das Leben der großen Symphoniker vorgestellt zu haben, als er über dieses gewaltige Thema ein gewaltig dickes Budi von 792 Seiten schrieb, es mit vielen prächtigen Bildern ausstattete und es unter dem ebenso geschmackvollen wie zutreffenden Titel .Der Himmel voller Geigen“ hefaus- gab. Von den Söhnen Johann Sebastian Bachs bis zu Tschaikowsky geht der bunte Reigen. Mit Ausnahme von Mozart sind alle da; alle, die großen Meister der Instrumentalmusik, denen der Himmel bekanntlich immer voller Geigen hing. Die .Lerche Gottes“ — unter der man sich Franz Schubert vorzustellen hat — fehlt ebensowenig wie der „schüchterne Zyklop’ — der natürlich nur Anton Bruckner sein kann. Die Methode der Darstellung entspricht genau dem stenographischen Hoku6poku6: es wird fast alles aus authentisch überlieferten biographischen Einzelzügen aufgebaut. Während aber dort das Jonglieren mit den kleinen Zeichen nur zur vagen Silhouette eines harmlosen Biedermanns führt, ergibt hier das hemmungslose Kombinieren anekdotischer Fakten die allerbedenklich6len Verzerrungen. Das soll durch ein paar Zitate bewiesen werden.

Verhältnismäßig unschuldig 6ind noch die Fälle, in denen die überlieferten Tatsachen bloß gemütvoll „ausgesdimückt werden. Als Beispiel diene uns der Beginn des Abschnitts über Joseph Haydn, der bei Thiel natürlich den vertraulichen, aber irreführenden Titel .Papa Haydn“ trägt. Haydns ereter Biograph Griesinger hat im Jahre 1809 über die früheste Jugend des Meisters nach dessen eigenen Angaben das folgende berichtet: .Nach Handwerks Gebrauch hatte sich der Vater in der Fremde umgesehen und während seines Aufenthaltes zu Frankfurt am Main die Harfe klimpern gelernt. Er 6etzte als Meister in Rohrau die Übungen auf diesem Instrumente zur Erholung nach der Arbeit fort, und seine Gattin begleitete das Saitenspiel mit ihrem Gesänge. Eines Tages kam der Schulrektor aus dem benachbarten Städtchen nach Rohrau. Meister Haydn und 6eine Gattin’ gaben nach ihrer Weise ein kleines Konzert, der fünfjährige Joseph 6aß neben den Eltern und 6trich einen Stab auf dem linken Arme, als wenn er auf der Violine akkompagnierte. Dem Schullehrer fiel es auf, daß der Knabe den Takt so richtig beobachtete: er schloß daraus auf gute Anlagen zur Musik …

Diese schlichte Erzählung hat der musikalische Romancier Thiel folgendermaßen umgeformt: .Hinten im Burgenland, wo 6i h Deutsche und Magyaren .Gute Nacht!’ sagen, lebte um die Mitte des 18. Jahrhunderts in einem Dorf ein musikalischar Wagenbauer, der nach dem Tagewerk die Liedchen sei- ner Weibsleute auf der Harfe zu begleiten pflegte. Da machte auch sein Sepperl, noch zu klein zum Singen, eifrig mit. Er saß i m Hemd auf einem Fußbänkchen und strich die Geige, wie er es vom Schulmeister beim Gottesdienst gesehen, lautlos mit einer Gerte über ein Stück Holz, doch wacker im Takt, mit viel Empfindung. — Der schweigsame Betätigungsdrang des Hemdenmatzes war von symbolischer Bedeutung…

Das der Haydn-Legende folgende Beethoven-Kapitel ist mit seinen 160 Seiten das längste und anspruchsvollste des Buches j seine Glossierung würde viele Seiten erfordern; seine geistige Haltung läßt sich etwa durch die berühmte Antwort kennzeichnen, die ein verschüchterter Konservatorist einst auf die Frage nach der Zahl der Symphonien Beethovens gab: .Drei — die Eroica, die Pastorale und die Neuntel

Uber Leben und Schaffen Franz Schuberts wird in einem Ton fabuliert, gegen den das Textbuch des „Dreimäderlhauses“ wie eine Dichtung Goethes anmutet. So heißt es zum Beispiel von der Entstehung des „Erlkönig“: „Wie er zustande kam, erzählten die, die dabei waren, immer mit großem Vergnügen. Sie trafen Franzi an einem Wintermorgen im Schlafrock durch die dunkle, feuchte, ungeheizte Kammer segelnd, ein Buch in der Hand. Er ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern deklamierte aufgeregt und laut die Goethesche Ballade. Als er fertig war, schaute er sie an wie ein Schlafwandler, fuhr sich über die Stirn und sagte: .Machts euch bequem dort auf dem Bett, aber halteteine Stunde lang die Schnauzen!’ Dabei fegte er die Schulaufgaben seiner Abc-Schüler vom Tisch, tauchte die Feder ein und schrieb, während die Finger seiner linken Hand sich ab und zu im Takt einer unhörbaren Melodie bewegten — Mit ähnlicher Anschaulichkeit wird die Komposition eines anderen Liedes geschildert, das der Verleger — bekanntlich wurde Schubert von den Verlegern geradezu überlaufen — persönlich in der Wohnung des Komponisten abholte: „Bleiben Sie ein bißchen da! Sie können’s gleich mitnehmen!“, sagte das Meisterlein gemütlich und fing an zu rauchen und zu schaffen. Dabei unterhielt er 6i h, wie der Schuster mit den Kunden schwätzt, dem er die Stiefel frisch benagelt, und nach einer halben Stunde zog der Kunde mit dem drudefertigen Opus ab.“ Nach diesem tiefen und lebensvollen Einblick in das Schaffen Schuberts, bekommen wir ebensolche anschauliche Dinge von Mendelssohn, Chopin, Schumann, Berlioz, Liszt und Cėsar Franck zu lesen. Von Bruckner, dessen Symphonik der phantasiebegabte Autor gelegentlich mit der Gustav Mahlers verwechselt, werden Märchen au6 dem Liebesieben mit Behagen erzählt. Da heißt es etwa: .Er tanzte viel und eifrig. Er stieg fast jeder Schönen nach und guckte häufig in den Spiegel, wohlgefällig murmelnd: ,1 b i n a verfluchter Kerl — a verfluchter Kerl bin i!’ — Von seinem Wirt6haus- 6tammplatz äugelte er einst mit hübschen Mädchenköpfen aus dem Fenster gegenüber. Man stieß ihn an: ,Du, das sind Flitscherln!’ — Gleich fuhr er zurück, blutübergossen. Dann schickten sie ihm eine davon auf die Bude. Sie gab sich al6 Kunstverehrerin aus. Als sie ein bißchen deutlich wurde, 6prang er auf und wankte in die Ecke, kniete vor dem Betpult und rief seinen Herrgott an. Das Flitscherl fand es für geraten, sich zurückzuziehen. — Und seine Vorsprache beim größten deutschen Musikverlag wird folgendermaßen geschildert: …. Man bedauerte unendlich. Bruckner wandte sich noch in der Türe wieder um: ,A c h, i bitt’ Sde gar schön, Sie drucken soviel Dreck, da können S’ denMist da a noch nehmen’.

Man weiß jetzt, wie sich „schüchterne Zyklopen“ benehmen.

Aus Brahms, der durch zweihundert angeblich wahre Anekdoten charakterisiert ist, wird ein taktloser Tölpel gemacht, der auf den alten, damals noch lebenden Komponisten Ferdinand Hiller auf einem Bankett den folgenden Trinkspruch ausgebracht haben soll: „Nachdem wir auf 60 viele lebende Tonkünstler getrunken haben, wollen wir auch auf einen verstorbenen trinken. Ich erhebe mein Glas auf Ferdinand Hiller!“ — Kurz und verhältnismäßig glimpflich kommen Grieg und Dvorak davon, während die geheime Tragik Tschaikowskys, unter dem Titel „Tschai- kow6kys heiliger Krieg“, mit fast 100 Seiten die nach Beethoven größte Auswalzung erfährt.

All die eben gekennzeichneten romanhaften Ergüsse wären mit einem Lächeln abzutun, wenn sie nicht geistige Gefahren in 6ich bergen würden. Für viele Menschen — vor allem für Jugendliche — wird der dickleibige Geschenkband die erste Annäherung an eine Reihe der größten und edelsten Meister der Musik bewirken. Welches Bild werden sie sich vom menschlichen Wesen und künstlerischen Schaffen dieser Komponisten machen, wenn ihnen die Fakten in so willkürlicher und entstellter Art vorgeführt werden? — Deshalb sei hier diese Warnungstafel aufgerichtet!

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