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Der Hirte

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Die Kühe hatten sich sattgeweidet und standen zuhauf am Moortümpel. Der Hirtenjunge Wanjuscha schlief in einer merkwürdigen Stellung auf dem moosigen Hügel. Offenbar hatte er sich mit dem Kopf ins Moos gelegt. Aber während er schlief, hatte sich das Moos zusammengedrückt, der Kopf war heruntergerutscht, der Bauch hochgekommen, so daß nun Kopf und Beine herabhingen. Ich schickte mich an, ihn zu wecken. Einen Blick lang öffnete er das eine Auge, holte eine noch halbvolle Flasche aus der Tasche, reichte sie mir und schlief wieder ein. Ich lachte laut auf und begann ihn zu rütteln.

„Trink“, sagte er noch ganz schlaftrunken, „ich war gestern beim Fest unten im Dorf, hab auch für dich was mitgebracht.“

Als er völlig munter war und noch einen Schluck aus der Flasche getan hatte, nahm ich das neueste Heft des „Jägers“ aus meinem Rucksack und gab es ihm. Es enthielt eine Erzählung von mir.

„Lies, Wanja, das habe ich geschrieben.“ Er machte sich ans Werk. Ich zündete mir inzwischen eine Zigarette an und begann, mich für fünfzehn Minuten mit meinem Skizzenbuch zu beschäftigen; so lange nämlich, wußte ich, brannte meine Zigarette.

Als ich zu Ende geraucht hatte und der Hirte immer noch las, unterbrach ich ihn mit der Frage: „Laß sehen, wie weit du bist!“

Er zeigte es mir. In einer Viertelstunde hatte er zweieinhalb Zeilen gelesen, die Erzählung hatte über dreihundert. „Gib mir die Zeitschrift wieder“, sagte ich, „ich muß gehen. Es lohnt sich nicht, daß du weiterliest.“ Er gab mir das Heft und pflichtete mir bei: „Es lohnt sich nicht.“

Ich war etwas verblüfft. Derart gutmütige und offenherzige Leser kommen einem nicht allzu oft unter. Ich muß sagen, es gefiel mir sogar ein wenig. Er gähnte und meinte dann: „Ja, wenn du die Wahrheit geschrieben hättest! Aber du hast gewiß nur alles erfunden.“

„Nicht alles“, antwortete ich, „aber doch ein wenig.“

„Ich hätte es anders gemacht.“

„Du hättest nur die Wahrheit geschrieben?“

„Ja, die reine Wahrheit. Ich hätte die Nacht geschildert, wie es nachts im Moor zugeht.“

„Und wie geht es denn zu?“

„Nun ja, eben so ... Ein großer, großer Busch am Moortümpel. Und ich sitze dahinter, und die Sumpfhühner machen leise — tschip, tschip, tschip!“ Er hielt inne und wurde nachdenklich. Ich dachte, er suche nach Worten, nach Bildern. Ich wartete. Da erwachte er aus seinen Träumen, holte seine Hirtenflöte hervor und fing an, ein siebentes Loch hineinzubohren.

„Nun, und was weiter?“ fragte ich, „du wolltest doch die Nacht wahrheitsgetreu schildern.“

„Ich habe sie doch geschildert“, erwiderte er, .alles, der Wahrheit getreu.

Ein großer, großer Busch, ich sitze dahinter, und die Sumpfhühner machen die Nacht hindurch leise — tschip, tschip, tschip.“

„Das Ist viel zu kurz.“

„Wieso zu kurz?“ staunte er. „Es geht ja ununterbrochen, die ganze Nacht hindurch — tschip, tschip, tschip!“

Ich machte mir gleich ein paar Anmerkungen und sagte laut: „Nun gut!“

„Muß auch gut sein“, sagte er und hob seine Flöte aus Schilfrohr an die Lippen.

(Aus dem Russischen übersetzt von Julius Mader)

Des Fährmanns GesdiicJtte

Von Hans Breidbach-Bernau

Im Herbst erglühen die Bergwälder noch einmal vor dem eisigen Anhauch des Winters. Hoch am Himmel fliehen die feinen Gespinste, die Gipfel verhüllen sich schweigend, bang und schrill tönt des Spechts Glockenruf aus den raschelnden Hainen, und Häher und Eichhörnchen heben in den Obstgärten zu plündern an. In wechselnden, gespenstigen Gestalten dringt König Nebels Heer, sein verzerrtes Gefolge, aus den Schroffen der Felsschluchten und steigt aus dem See. Und im Tal greint der Herbstwind. Lang sind die Abende, durchgeistert von Schatten und seltsamen Rufen. Den einsamen Wanderer begleitet des Waldkauzes schrilles Gekreisch durch den unheimlich hallenden Hohlweg. Der rote Mond, der einsam über verwehte Bergkämme emporsteigt, hat einen Hof und leuchtet fahl. Am föhnigen Himmel schwankt er wie eine rote Laterne in der Hand eines Gespenstes, das sich drohend über den Horizont neigt. In jenen Tagen hat der alte Fährmann, der den See überquert, ein schweres und oftmals gefahrvolles Werk zu leisten. Im Dunkel erhebt sich nicht selten der Wind und steigert sein Wehen oftmals zum Sturm. Allerseelen rückt heran, Lichtlein flackern auf den Friedhöfen. Das Bergvolk blickt scheu ins dämmernde Dunkel, und man drückt sich am Totenacker vorbei.

Aber der Fährmann fährt über den See. Er tut dies seit manchem Jahrzehnt. Stehend treibt er mit langsamem Schlag das schmale, kiellose Langboot von einem Ufer zum anderen, vom einen zum anderen. Er ist krummrückig und grauhaarig geworden, schweigsam und seltsam. Aber seine alten Augen blicken klar und nachdenklich über die Weiten des Wassers. An sein Ohr klingen wehmütig vertraut die hallenden Stimmen des Herbstes. Da rauschen der wilden Gänse Geschwader gen Süden, Kraniche und Reiher, und ihre geisterhaften und verwehten Rufe tönen herab. Der Uhu schreit auf der Jagd, und die alte Kirchenuhr schlägt zinnern an. Der alte Fährmann, einem heidnisdien Fergen aus Nordland gleichend, mit wehendem Mantel und Bart, taucht im ziehenden, summenden Nebel auf und schwindet, taucht auf und schwindet.

Zu allen Tages- und Nachtstunden fährt der Alte die Menschen über den See, ein Leben lang. Alle Arten und Sorten von Menschen. Den Gendarmen mit Gefangenen, Liebesleute, Reisende, Touristen, den Pfarrer zum Sterbenden, den Arzt zum Kranken, selbst die Toten in ihren Särgen fährt er über den See, hin und her, von Ufer zu Ufer. Das Leben und der Tod drängen zu ihm in den Nachen. In Geheimnis verhüllt, steigt das Schicksal augenlos und murmelnd ein und fährt hin und fährt her in seinem Boot. Vieles hat der alte Mann erlebt, dem er nachsinnt, wenn er allein über den nebelnden See fährt. Schweigend bewahrt er manches Geheimnis. Und in seiner alten und melancholischen Seele mischt sich Erlebtes mit Erdachtem, Wirklichkeit mit Phantasie und alter Sage und bildet ein sonderbares Gemenge, und während er fährt und fährt, lauscht er leise und kaum bewußt den vielfachen Stimmen seines verrieselnden Lebens.

Wenn die Nebel steigen und das Laub fällt, wenn das Flämmlein niedrig brennt und die alten Leute sterben, wenn alles Leben vor dem tödlichen, eisigen Hauch aus dem Norden erbebt und sich krümmt, um jene Zeit etwa ist es, daß der alte Fährmann mitunter einem Reisenden eine Geschichte erzählt:

Lebte da einst ein reidier Bauer in der

Gegend, dem weithin Äcker, Wälder und Wiesen gehörten, der reichste Großbauer weit umher. Gestrenge Herrschaft führte er, weder die Bäuerin noch die beiden herangewachsenen Zwillingssöhne noch jemand vom Gesinde wagte ein Wort gegen ihn zu erheben. Er übergab in seinem herrschsüchtigen Starrsinn, auch als er älter und älter wurde und die Söhne schon kräftige Männer waren, den Hof nicht, noch wußte man, wer ihn einst erben würde. An einem Septemberabend brachten die Knechte ihn tot aus dem Holzschlag, ein fallender Lärchenbaum hatte den Unnachgiebigen gefällt.

Verwaist lag der Hof, ohne Herrscher und Herrn, und wie Geflügel ohne Hahn huschte ratlos das Gesinde umher. Jammernd klagte in der Kammer die Bäuerin. Aber die Söhne, über Nacht zu Todfeinden geworden, einander das Erbe neidend und streitig machend, mieden einander und gingen rnit bösen Blicken umher. Und jeder suchte fieberhaft nach einem letzten Willen des Alten. Es war ein finsterer, regnerischer Herbst, unentwegt tropfte und klopfte es auf Hausdach und Stalldach herab. In alten Linden greinte der Wind.

Es gab eine großartige Leich. Von überall strömten die Leute zusammen. Verwandte, altes Gesinde, Nachbarn, Bauern und Neugierige von weit her. Hinter dem Sarge schritten die zusammengesunkene Bäuerin und die trotzigen, wildschauenden Brüder. Dann breitete sich Stille über den herrenlosen Hof. Doch in der Kammer brannte das Licht die ganze Nacht, dort stritten und feilschten die beiden um den väterlichen Hof. Und weiter ging es. Keine Verleumdung, keine Tücke, keine Niedertracht blieb unangewendet. Schließlich förderte der eine ein Testament hervor, in dem er zum Erben erklärt war. Der andere bestritt es, focht es an, sie prozessierten und überschütteten sich vor Gericht mit Schmach und Schande, jeder scharte eine Partei um sich, in Hof und Gemeinde, es wurde ein regelrechter Krieg. Aber schließlich siegte doch der eine, das Testament wurde anerkannt und er gewann den Hof. Der Bruder fluchte ihm alle Greuel der Erde an den Leib, verschwor sich hoch und teuer, niemals mehr des Vaters Hof zu betreten, ja nie mehr jene Seite des Sees bei Lebzeiten zu besuchen, er ging auf die andere Seite, nahm Dienst als Knecht und führte ein Leben voll Elend und Haß gegen den Bruder, den zu verleumden, er habe ihn um sein Erbe gebracht, er niemals müde wurde. Jahrelang säte er Haß und Hader, giftige Saat, und verkam dabei immer mehr.

Dann kam nach vielen Jahren ein böser Herbst, mit Stürmen, Bergrutsch, Krankheit und Seuchen. Und es packte ein Leiden auch den armen Knecht, den verkommenden Bauernsohn, und er lag auf den Tod in dem kleinen Hof, in dem er die letzten Jahre als Knecht gedient hatte. Da sandte man nach seinem Bruder, er möge zu dem Sterbenden kommen, damit sie sich aussöhnen könnten. Aber der Großbauer kam nicht. Er verzieh dem Sterbenden nicht, daß er jahrelang umhergegangen und böse Saat gegen ihn gesät hatte. Auch als des Sterbenden Sohn zum Onkel kam, weigerte sich dieser, über den See zu fahren und wies ihn vom Hofe. In jener Nacht starb der andere, und drei Tage später wurde er begraben. Es war an einem regnerischen und nebligen Tage.

In jener Nacht aber wird der Fähr-, mann geweckt, als die Glocke jenseits des Sees anschlägt, wo jemand übergesetzt werden will. Der alte Mann fährt in seinen Mantel und rudert über den See, der von dichtem Nebel überlagert ist. Er hat noch den Klang der Glocke im Ohr, und es scheint ihm, als habe sie mit einem abscheulichen, gleichsam toten Ton angeschlagen. Der Nebel treibt sein zaubrisches Spiel. Als der Fährmann sich dem Ufer nähert, sieht er niemand am Stege, er ruft, und als niemand antwortet, wendet er wieder und fährt zurück, in der Meinung, sich getäuscht zu haben. Aber da schlägt neuerlich die Glocke an, mit dem gleidien gräßlichen, unwirklichen Geisterton. Und der Alte erschauert. Er wendet, fährt zum Ufer, steigt aus und geht bis zur Glocke. Aber niemand ist dort. Er glaubt, es narrt ihn ein Nachtalb.

Unsicher geht er zum Boot zurück und steigt ein. Wie er eben abstoßen will, überfällt ihn ein intensives Furchtgefühl, wie vor übermächtig drohender Gefahr. Er starrt durch den Nebel: die Glocke bleibt still. Aber da bemerkt der Fährmann, wie sich mit leisem Ruck das Boot um ein weniges senkt, etwa, als habe ein Kind den Nachen betreten. Nichts ist zu sehen, dem Alten hämmert das Herz in der Brust. Nichts ist zu hören. Der Nebel schieiert und summt. Der Fährmann stößt ab und rudert voll Hast über den See zurück. In den Schluchten donnert eine Lawine. Der düstere Mond, der durch den Nebel blinkt, hat ein Totengesicht. Dem alten Fährmann steht der Schweiß auf der Stirne. Sein Haar ist gesträubt. Als er den See überquert hat und anlegt, ist ihm, als höbe sich wiederum das Boot um ein weniges, als würde es um eine geringe Last erleichtert. Das Gespenst hat den Nachen verlassen. Dem Alten fällt jene Sage ein, nath der die Geister ein Gewässer nur in einem Boot zu überqueren vermögen. Erleichtert atmet der Alte auf, da er seiner Hütte am Seeufer zuschreitet. Aber er findet keinen Schlaf mehr in dieser Nacht. Es zieht auch ein Unwetter auf.

Ein Sturm von seltener Heftigkeit bricht los, und in seinem Gefolge ereignen sich seltsame Dinge auf dem jenseitigen Hofe des Großbauern. Die Fensterläden schlagen auf, vom Dache wirbeln • Schindeln herab. Eine tote Eule fällt vor der Haus-tüse nieder. Es murmelt allenthalben, Türen krachen, mit gesträubtem Haar bellt der Hund die Wand an, die Pferde schlagen im Stall, grell wiehernd, aus. Die Katze bringt eine tote Maus mit zwei Schwänzen ins Haus. Teller fallen vom Simse. In der Gesindekammer beginnen die erschrockenen Leute zu beten. Man sieht den toten Altbauern in feuriger Gestalt in die Tenne gehen und dort fluchen und poltern. In der Schlafkammer wird die aufgeschreckte Bäuerin von dem zitternden, fahlen Bauern entsetzt beim Arm gepackt und geschüttelt. Er hat seinen toten Bruder, mit riesigen, drohenden Augen und gräßlich anzusehen, im Dunkeln auf sich zugehen sehen, der Verstorbene hat sich auf seine Brust gesetzt und ihn angestarrt. Ihm sei das Herz stillgestanden und der Atem sei ihm erstorben. Man will den Bauern beruhigen. Er muß sich niederlegen. In den folgenden Nachtstunden verfällt er in ein unbekanntes, tödliches Leiden. Seine Kräfte schwinden dahin. Der Spuk hält an. Mit steigender Heftigkeit tobt er auch in den folgenden zwei Nächten.

Dan wird es klar, “daß der Großbauer

sterben wird. In seinem Testament vermacht er den Hof und allen Besitz dem Sohn seines toten Bruders. Er verfällt in rasender Schnelligkeit. Murmelnd betet das Gesinde. Als in der vierten Nacht der Großbauer stirbt, bleibt alles ruhig und still. Der Spuk hat geendet. Mondhell ist es, in den Lindenbäumen singt der Nachtwind. Still liegt der Hof und im Schweigen und Dunkel der Nacht.

Wer weiß, ob das wahr ist! Der alte Fährmann hat mir die Geschichte erzählt, der alte Ferge, der winters und sommers, bei Tag und Nacht über den See fährt, von Ufer zu Ufer, durch dessen Nachen in tausendfachen Gestalten, das Schicksal der Menschen führt. Wenn die anderen schlafen und vielleicht schwere Träume haben, wird ihm vielleicht manches offenbar, was jenen verborgen bleibt, auf seinen einsamen Fahrten von Ufer zu Ufer, zwischen Mitternacht und Morgen. Um jene Zeit, da die Schreie der Zugvögel herniedertönen, der Nebel geistert, und wenn der rote Mond mit fahlem Hof über verwehte Bergkämme leuchtet, als schwanke eine düstere Laterne in der Hand eines dunklen Gespenstes, das sich gewaltig und drohend über den Horizont neigt.

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