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Der „Inspektor“ ist überlastet

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ES IST ZWEI UHR FRÜH. Über den grauen Asphalt eines Wiener Außenbezirkes jagen zwei Funkstreifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und Folgetonhorn. Soeben hat die Wagenbesatzung vom zuständigen Bezirkskommissariat erfahren, daß ein Passant niedergeschlagen, beraubt und verletzt worden sei. Der Überfall geschah etwa vor einer Stunde an einer nahegelegenen Straßenkreuzung. Nun sucht man drei junge Burschen, wie sie aussehen, weiß man nicht genau. Alle drei trugen blaue Mäntel mit messingbeknöpften Schulterspangen. Mehr ist nicht bekannt.

Der Überfallene hat sich inzwischen beim nächsten Wachzimmer gemeldet. Er wird nun vom dienst-

führenden Beamten einvernommen. Er steht noch unter schwerem Schock und findet nur langsam seine Worte. Der Akt wird aufgenommen. Der Sicherheitsapparat hatte zu rollen begonnen, aber erst langsam und bedächtig und viel zu schwerfällig, als daß man noch mit einem Schlag ausholen und die unmittelbare Verfolgung hätte aufnehmen können.

Dann kann der Überfallene schließlich das Wachlokal verlassen. Auf seinen Vorwurf und die böse Frage, ob denn alle Hüter des Gesetzes zur Nachtzeit schliefen, gibt Ihm der Inspektor salomonisch und mit dem Achselzucken der Aussichtslosigkeit zur Antwort: „Wir haben viel zuwenig Leute. Wir können nicht jede Straße bewachen und kontrollieren.“

*

ZUWENIGE POLIZISTEN, zuviel Arbeit und zuwenig Geld .. unter diesen Vorzeichen steht ein Problem, das hier durch einen Einzelfall ans Licht der Sicherheitsfrage gehoben werden sollte. Denn Einzelfall oder Symptom, die Tatsache bleibt bestehen, daß sich immer lauter der Ruf nach besserer polizeilicher Nachtaufsicht erhebt.

Wien ist bekannt als Stadt der zahlreichen „kleinen“ kriminellen Schlupfwinkel. Vom Zuhältertum, vom Kaffeehausstreit und von den nächtlichen Praterrowdyzügen ist in den Akten des Grauen Hauses oft genug die Rede; vieles könnte verhindert werden, wenn man schon vorher mit der Hand des Gesetzes vor allen anrüchigen Sammelpunkten und im weitflächigen Wiener Straßennetz auf der Lauer liegen würde.

Seit der „hohen Zeit“ der Polizei in den Jahren der Monarchie und der ersten Republik, als noch ein unerschöpfliches Reservoir an

Dienstwilligen bereitstand, hat sich der Hang zur grünen Uniform immer schwächer bemerkbar gemacht. Noch nie hat es in Österreich so wenige Wachebeamte gegeben wie in den letzten Jahren. Vielerlei Gründe mögen dafür angeführt werden, sie werden vor allem vom Grundtenor höherer finanzieller Forderungen getragen.

Vor allem die jungen Burschen vom Lande greifen nicht mehr so gern zur Polizeiuniform wie früher. Wenn sich die Polizisten einst zum größten Teil noch aus den angrenzenden Landgebieten Niederösterreichs und des Burgenlandes rekrutierten, so haben Industrie und Wirtschaft heute schon weitgehend Schranken gesetzt, welche die oft-

genannte „Landflucht“ ganz wesentlich in die Kanäle der Industrie ableiten.

*

RÜCKT MAN DEM PROBLEM der unzulänglichen staatsbürgerlichen Sicherheit jedoch aus der polizeilichen Sicht zu Leibe, dann zeigt sich der große Mangel an unserem (veralteten) Sicherheitssystem:

Das Tagesschema des polizeilichen Dienstplanes hat in der Nacht keine Gültigkeit. Wenn die letzten Kreuzungen um Mitternacht auf automatisches Blinklicht geschaltet sind, wenn der letzte Strom der abendlichen Autoheimkehrer über die Straßen gekommen ist, dann ist auch für Hunderte von Verkehrspolizisten Feierabend. Sie, die untertags ihren Dienst taten und den verschiedensten Bezirken und Wachzimmern zugeteilt waren, werden nun zur nächtlichen Stunde nach Hause entlassen oder zum Bereitschaftsdienist in die Stammkasernen der Verkehrsabteilung zurückgeschickt.

„Na ja, die Polizei bezahlt zu wenig und außerdem gilt dort noch immer die 55-Stunden-Woche.“ Diese Antworten hören die polizeilichen Werbetrommler oft genug, wenn sie ihre ländlichen Umfragen halten. *

ZURÜCK IM weiteren Dienst zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit bleiben dann nur noch die Sicherheitswachebeamten; Polizisten, d;e keiner Verkehrsabteilung und keinem Sender- oder Spezialkommando, sondern einzig und allein ihren Bezirken und kleinen Wachzimmern zugeteilt sind.

Man könnte also sagen, daß erst in der Nacht die wirkliche, in ihrem ursprünglichen Aufgabengebiet umgrenzte „Polizeistruktur“ der Großstadt Wien zum Ausdruck kommt Das Gerippe dieser Struk-

tur ist dünn, und die einzelnen Knotenpunkte sind an den nächtlich beleuchteten rotweißroten „Polizei“-Schildern der weit verstreuten Wachzimmer zu finden. Zahlen treten noch bessere Beweise für den dünnen nächtlichen Sicherheitsdienst an:

Die Großstadt Wien hat ungefähr 1,6 Millionen Einwohner und 6000 Polizisten. Demnach fallen auf einen Hüter des Gesetzes etwa 2066 „Seelen“, die er zu hüten hätte! In der Nacht sind noch eine Anzahl Verkehrsregler und jeweils dienstfreie Sicherheitswachebeamte aus der unmittelbaren Vorsorge für den öffentlichen Schutz ausgeschaltet. Dazu kommen noch die „Weißen Mäuse“, die ebenfalls nach Mitternacht keinen Dienst mehr durchführen.

WIEN HAT INSGESAMT 23 Bezirkspolizeikommissariate. Die größten liegen in der Inneren Stadt. Sie werden jeweils von einem Bezirksleiter geführt, dem ein Sicherheits-wache- und Abteilungskommandant und ein leitender Kriminalbeamter unterstellt sind.

Auf der untersten Sprosse der polizeilichen Ordnungsleiter stehen schließlich die Wachzimmer. Jeder Bezirk hat etwa zwei bis zehn Wachzimmer, ganz nach einem örtlich verschiedenen Aufstellungsschema, das noch aus den Tagen der Monarchie stammt und an dem man bis heute nichts geändert hat Die Anzahl der Waohzimmer hängt in den einzelnen Bezirken von der Flächengröße und jeweiligen Bevölkerungsdichte ab. Kein Wunder, daß das behördliche Überwachungsschema mit diesen kleineren und kleinsten Sicherheitsstellen kein Auslangen mehr finden kann. Man vergleiche etwa die dünnbevölkerten Randdistrikte von damals mit den hochindustrialisierten und dichtbesiedelten Außenbezirken von heute. Die Fläche ist zwar zum Teil die gleiche geblieben; aber durch den starken Menschenzuwadhs müßte die Anzahl der Wachzimmer um einiges erhöht werden, wenn wirkliche Sicherheit garantiert sein soll.

Das andere und zweite Sicherheitsproblem liegt in der oftmals chronisch unterbesetzten Personalanzahl der einzelnen Wachzimmer. Gerade für die größeren Außenbezirke sind zu wenige Polizisten da.

An der Spitze seines sogenannten „Rayons“ steht der dienstführende Beamte. Ihm sind jeweils mehrere „eingeteilte Beamte“ unterstellt. Die Mindestzahl liegt bei drei; es kann sich aber auoh, wie es öfters vorkommt, bei Krankheits- und anderen Arbeitsausfällen ein Turnusverhältnis von eins zu eins ergeben. Ein Dienstführender und ein eingeteilter Beamter haben dann einen Tag und eine Nacht lang für die Ruhe des gesamten Distriktes zu sorgen. Daß hier die Überwachungsmöglichkeiten in enge Grenzen rük-ken ist ganz klar; man hilft sich mit „improvisierten“ Rayonstouren.

Ein weiteres Glied in der Kette überalteter Bewachungszustände ist ferner die Dienstzeit; ein Stein des Anstoßes, wenn man die längst durchgeführte 45-Stunden-Woche in allen übrigen Berufen vor Augen

sieht. Der „Herr Inspektor“ hat jahraus, jahrein seine 55-Stunden-Woche. Das sind im Monat 230 Stunden Dienstzeit, bei einer Anfangsbezahlung von 1625 Schilling brutto. Das Gehalt steigt dann alle zwei Jahre um weitere 50 bis 75 Schilling an. Die zusätzliche Dienstzulage pro Monat beträgt 35 Schilling und die Wachdienstzulage ganze 119 Schilling.

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DIE DIENSTZEIT EINES Sicherheitswachebeamten, der Tag und Nacht seinen Dienst im gleichen „Revier“ durchführt, sieht so aus: 24 Stunden durchgehend Dienst; 24 Stunden Bereitschaft; 24 Stunden Freizeit. In den 24 Dienststunden geht ein genau begrenzter Arbeitsrhythmus durch den Polizistenalltag: drei Stunden Außen- oder Sicherheitsdienst. Bei Tag sehr oft im Beisein von Verkehrspolizisten, die eben ihre Stunden an der Kreuzung absolviert haben und die in ihrer Bereitschaftszeit angehalten sind, den Wachzimmerkollegen zu helfen. Bei Nacht sind die Rayonsposten dann oft allein, aber auch zu zweit, zu dritt oder mit Hunden auf den Straßen unterwegs; je nach Größe des Rayons. Dann folgen drei Stunden Innendienst oder „Administrativer Dienst“. Diese drei Stunden gehören nun der Schreibmaschine, dem Schriftverkehr und der Amtshandlung auf dem Papier.

Nach diesem Wechselschema verläuft die gesamte 24stündige Arbeitszeit. Der nächste Bereitschaftstag bringt aber sehr oft wieder nur Dienst. Vor allem im Sommer bei besonders starkem Verkehr, wenn sich die Fußballfans im Stadion versammelt haben, wenn am Abend die Bäder schließen... es ist ein

„Wenn“ mit den Folgen neuerlicher, vielstündiger Arbeit. Der dritte Tag ist endlich dienstfrei. Da taucht der „Herr Inspektor“ dann unter ins Zivil.

Aber der kommende Tag bringt schon wieder 24 Arbeitsstunden.

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BEI DURCHSICHT ALLER Planposten hat sich ergeben, daß man noch 840 Polizisten brauchen würde, um die Lücken im Netz der Sicherheit wieder restlos auszuflicken. So lange zu wenige Hüter der Ordnung da sind, muß mit Personalüberlastungen und einer örtlich verschiedenen Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit gerechnet werden.

Weiters stehen für die nächtlichen Einsätze und Ordnungskontrollen dann noch Sonderabteilungen oder sogenannte Einsatzkommandos, 15 Funkstreifenwagen und 50 Polizeihunde bereit, die auf die einzelnen Bezirke ganz verschieden aufgeteilt sind. Die Wagen der Funkstreife laufen Tag und Nacht im Einsatz. Sie sind namentlich nach der telephonischen Alphabetsbezeichnung aufgefädelt, haben Spezialmotoren und besondere Funkeinrichtungen. Für die kleinen Bezirke fährt jeweils eine Funkstreife, für die größeren Bezirke stehen dafür meistens zwei rollende Sicherheitsstationen im Dienst. Die grünen Volkswagen mit dem hell erleuchteten Polizeischild sind jedoch nicht den einzelnen Wachzimmern oder Kommissariaten zugeteilt, sie haben ihre eigenen Zentralen in der Marokkaner-und Roßauer Kaserne.

Der Kraftfahrzeugpark der Wiener Polizei tritt schließlich den letzten Beweis für den Polizistenmangel an: Es stehen viel mehr Transportfahrzeuge und Einsatzwagen in den Garagen bereit, als jemals zur Verwendung herangezogen werden können: Material, Fahrzeuge und Schulungsmöglichkeiten sind für den Schutz der öffentlichen Sicherheit zur Genüge da; es fehlt bloß an den uniformierten Vollstreckern, die zur Ausrüstung greifen.

Ein großer, vielleicht der größere Teil der ausgeschulten, jungen Polizeikräfte geht nach dem einjährigen probezeitbedingten Durchpauken der reinen Sioherheitsarbeit hinüber in den Spezialdienst; hinaus zu den Verkehrsampeln, zu den motorisierten Verkehrsgruppen, zu den Nachrichtenabteilungen und vor allem zur Kriminalpolizei.

Aber der „Herr Inspektor Unbekannt“ aus irgendeinem Wiener Bezirkswachzimmer ist und bleibt der erste Freund und Helfer aller jener, die am Arm des Gesetzes einen wohlverdienten Schutz suchen. Ihrer sollte es nie zu wenige geben, denn sie werden von allen gebraucht.

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