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Der Justizreform nicht gedient

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KALTBLÜTIG. Wahrheitsgemäßer Berich t über einen mehrfachen Mord und seine sucht und Folgen. Von Truman Capote. Limes-Verla g, Wiesbaden. 435 Selten, Ln., Preis DM 28,50.

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KALTBLÜTIG. Wahrheitsgemäßer Berich t über einen mehrfachen Mord und seine sucht und Folgen. Von Truman Capote. Limes-Verla g, Wiesbaden. 435 Selten, Ln., Preis DM 28,50.

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Capote, dem breiteren europäischen Publikum durch die Verfilmung seines Romans „Frühstück bei Tiffany“ dem Namen nach bekannt, beschreibt in diesem Buch die beiden psychotischen Mörder Dick Hickock und Perry Smith, die im November 1959 das Farmerehepaar Clutter und deren halberwachsene Kinder, Nancy und Kenyon, ermordeten, wobei sie eine Beute von etwa 50 Dollar machten. Was er bietet, sind nicht allein belegbare Fakten, wie der Untertitel verspricht, sondern eine Mischung zwischen einem Tatsachenbericht und kaium merklich in den Text eingeschmuggelten Interpretationen des Autors. Die Verstimmung, die sich darob im Leser einstellt, verflüchtigt sich jedoch alsbald unter dem Trommelfeuer suggestiver Bilder und Szenen, die Capote in dichter, prägnanter, stellenweise auch poetischer Sprache ausbreitet. Man versteht, daß der Romanschriftsteller von Geblüt nicht anders konnte, als die Zeitungsberichte, die Ausschnitte aus Untersuchungsakten, Vemehmungs- und Gerichtsprotokollen, Briefen und Tagebüchern von unzweifelbarer Authentizität mit seinem inneren Bild von den zentralen und peripheren Ereignissen in eins zu schmelzen und durch einfühlsam erfundene, fugenlos sich einpassende Passagen zu ergänzen. Daß ihm die Bändigung derart heterogener Elemente in die Ganzheit des wie aus einem Guß wirkenden Romans gelang, dem nirgendwo der collagenhafte Charakter bekannter und meist mißglückter ähnlicher Versuche anhaftet, ist eine glänzende Leistung.

Der scheußliche Mord — die Opfer wurden gefesselt und dann, teils im triebhaften Affekt, teils um als Tatzeugen des Raubüberfalls ausge- schalteit zu werden, erschossen — steht am Anfang. In der Folge bezieht das Buch seine Spannung aius der Frage, ob die Täter gefaßt werden oder nicht, und zuletzt daraus, ob man sie hängt oder am Leben läßt. Der Hauptteil des Textes lebt nach bewährter Krimitechnik vom Thrillereffekt des kontinuierlichen Szenenwechsels. In filmischen Überblendungen erleben wir Jäger und Gejagte, das Team der recherchierenden Kriminalbeamten und die Täter, erleben auch Reaktionen der Freunde und Verwandten der Ermordeten und der ländlichen Gemeinschaft in Hoicomib in Kansas, in der sie gelebt hatten.

Je länger sich Capote mit Dick und Perry befaßt, und er tut dies mit äußerster Intensität bis in ihre geheimsten Regungen hinein, um so näher rücken uns die beiden auf einem breiten Sektor unserer Empfindungen — ein unausbleiblicher Humaneffekt. Wir lernen ekelhafte und naive, infantile, aggressive, pathologische und normale Eigenschaften der Verbrecher kennen, ihre vergeblichen Hoffnungen und sehnsüchtigen Träume, ihr Glücksverlangen und ihre armseligen Vergnügungen. Wir erfahren von unglücklichen Kindheits- und Jugenderlebnissen, von asozialer Haltlosigkeit als Folge innerer Anlagen und belastender Milieueinflüsse, von ihren ohnmächtigen Versuchen, „so zu sein wie die anderen“. Damit rückt der Mord in eine unausweichliche Kausalkette seitens der Täter, auf die sich alles Interesse konzentriert, in eine Kausalkette, innerhalb welcher die Ermordeten, die anfangs kurz charakterisiert wurden, eine austauschbare Rolle spielten — die Untat hätte ebenso gut beliebige Nachbarn treffen können. Dieser Zufälligkeit halber, und weil nicht die Familie Clutter, sondern Dick und Perry im Mittelpunkt des Buches stehen, hat sich die emotionale Anteilnahme von den ersten Kapiteln an auf die Mörder verlagert. Die Tatsache schließlich, daß in beiden starke psychotische Elemente wirksam waren, macht sie zu quasi schuldlos Schuldigen, und die weitere Tatsache, daß sie dennoch gehängt wurden, zu den Opfern eines Racheaktes einer Gesellschaft, in der atavistische Züge wirken.

So wird das Buch zu engagierter Literartur, zu einem Plädoyer, auch im Verbrecher, zumal im Psycho- tiker, vor allem den Menschen zu sehen. Ein höchst legitimes Anliegen in einer Zeit, in der in vielen Staaten um bessere und gerechtere For- ipen der Gerichtsbarkeit und des Strafvollzuges gerungen wird (siehe hiezu die exemplarische Untersuchung „Versagt der Mensch oder die Gesellschaft? — Probleme der modernen Kriminalpsychologie. Von Friedrich Hacker. Europaverlag. Wien, 1964). Dennoch erscheinen uns die von Gapote angewandten künstlerischen Mittel und das von ihm entfaltete Pathos in einem schiefen

Verhältnis zu seinen Absichten zu stehen. Zwar hat er seinen Rang und seine Routine als Schriftsteller bewiesen, nicht aber einen solchen als Künstler und nicht als selektiven Denker. Denn Kunst wird allein dort, wo der Mensch (und sei es in einem Mindestmaß) in sittlicher Freiheit handelt. Besitzt er sie nicht, weil er Psychopathologe ist, scheitert das Kunstwerk, denn es geht nicht um Werte und Unwerte, um Möglichkeiten der Entscheidung, sondern um ein Krankheitsbild.

Capote war sich nicht klar darüber, daß sein Thema, um geistig sauber und unanfechtbar zu bleiben, entweder einen wissenschaftlichen klinischen Bericht über die Zustände der Täter oder eine lapidare Auseinandersetzung mit der Strafjustiz erfordert hätte. Er ist den geistig schändlichen Weg gegangen, Engagement und Poesie, Spannungsliteratur und Kulturkritik heillos zu vermischen — um so heilloser, je stärker seine Sprachkraft glänzt. Was er hinterläßt, ist eine Verwirrung der Werte. Diese aber; ist symptomatisch. John W. Aldridge, damals noch ein junger Kritiker, hatte bereits 1951 in seinem aufsehenregenden Buch „After the Lost Generation“, in dem er sich mit einer Reihe von Nachkriegsschriftstellern befaßte, darauf hingewiesen: „Diese Schriftsteller wurden ständig behindert durch die Leere der Personen und Situationen, über die zu schreiben sie gezwungen waren. Weil sie eine Welt ohne Werte geerbt haben, weil sie keine andere Wahl haben, als ihren Stoff aus dieser Welt zu nehmen, mußten sie sich mit etwas Wertlosem befassen. Das kann aber niemals die Grundlage einer verheißungsvollen Literatur sein.“ Damals hatte Aldridge sich auch mit Cabotes Roman „Other Voices, other Rooms“ befaßt. Darin wird ein Knabe geschildert, der seinen Vater sucht und in trüber Homosexualität strandet. Aldridge vermerkte dazu, daß diese Schilderungen „keine Welt von äußerer Bedeutung schaffen. Sie bleiben stets in der Illusion, die Capote erweckt hat, außerhalb ihrer tun sie nichts und sind sie nichts“. Diese harte Kritik gilt noch mehr für das neue Werk. Es ist beängstigend, zu sehen, wie ein Autor von den Qualitäten Truman Capotes in anderthalb Jahrzehnten diesbezüglich nichts hinzugelernt hat.

Vermutlich hat Malcolm Cowley nicht unrecht, wenn er seine Untersuchung „Literatur in Amerika“ (Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1963) mit folgenden Worten beschließt: „Die jüngste

Periode der amerikanischen Literatur war ein Interregnum Bloße Begabung ist verhältnismäßig allgemein gewesen: es fehlten Überzeugung und Charakter. Das Ergebnis ist eine schwimmende Situation, in der der Einfluß eines einzigen großen Schriftstellers sich als entscheidend erweisen könnte, so wie Hemingway für die zwanziger Jahre und Faulkner für eine Gruppe von Schriftstellern in den Südstaaten entscheidend gewesen sind. Wenn ein anderer ähnlich großer Schriftsteller auftaucht und neue Formen schafft, neue Mythen und Heldengestalten für dieses Zeitalter, dann werden die weniger großen, aber begabten Männer und Frauen rings um ihn sich einer neuen Ordnung fügen, gleich Eisenspänen um einen Magneten.“ Nichts von einer solchen neuen Ordnung zeichnet sich bislang ab. Capote hat mit seinem Mörderroman weder den humanen Bestrebungen um eine Justizreform und um eine Reform der öffentlichen Meinung gegenüber den Psycho- tikern noch der Literatur gedient. Kaltblütig aber (so der Ttiel seines Buches) ist der Mut zu nennen, mit der er die Unordnung der „schwimmenden Situation“ vergrößern half.

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