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DER KINDERFREUND

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Wovon kann schon die Rede sein? Von den Kindern natürlich. Sie sind ja ungemein notwendig. Der Staat kann ohne sie nicht existieren. Und für uns sind sie so etwas wie - Wachablösung. Wir hoffen und bauen auf sie, und manchmal stellen wir auch gewisse Spekulationen an. Weil wir Erwachsenen nämlich von unseren dummen, spießbürgerlichen Gewohnheiten nicht lassen können. Die Kinderchen aber, die heranwachsen, werden diese Unkultur bestimmt auswetzen. So daß wir in dieser Hinsicht die lieben Kleinen geradezu auf Händen tragen sollten und jedes Stäubchen von ihnen pusten und die Naschen ihnen putzen müßten. Ganz abgesehen davon — ob es unser Kind ist, oder ein fremdes! Aber gerade das ist in unserem Leben nur selten zu sehen.

Wir erinnern uns da an eine diesbezügliche Begebenheit, die sich vor unseren Augen im Zug nach Noworossijsk abgespielt hat.

Die in unserem Wagen saßen, wollten fast alle nach Noworossijsk. Und es fuhr in dem Wagen unter anderen auch ein junges Weibchen. Eine Frau mit einem kleinen Kind. Sie hält den Kleinen im Arm und fährt mit ihm also. Sie fährt zu ihrem Mann nämlich. Alles in bester Ordnung: im Arm das Kind, auf der Bank Bündel und Reisekorb I Und in solchem Aufzug also

Zeichnung: Teresa Fugger

fährt sie nach Noworossijsk zu ihrem Mann. Der Kleine auf ihrem Ami. abersist ein riAtet£^ch“reihals^'^arr^üii^cp4rJ einem fort. Scheint krank zu sein. Gewiß hat ihn das 'Bauchweb auf der Reise gepackt. Entweder hat er zuviel rohes Obst gegessen oder gleich was darauf getrunken... Kurzum, es hat ihn unterwegs erwischt. Darum brüllt er. Mit einem Wort — ein Kindl Versteht es ja noch nicht, wieso und warum und weshalb sein kleines Bäuchlein revoltiert. Wie alt mag er sein? Vielleicht zwei, allerhöchstens drei Jahre alt. Ohne eigene Erfahrung ist das schwer zu schätzen. Was aber klar zu sehen ist: er ist ein Oktoberkind. Er hat nämlich einen knallroten Brustlatz um.

So also fährt der Kleine mit seinem Mamachen nach Noworossijsk. Und unterwegs hat ihn — welch ein Ärger! — das Bauchgrimmen gepackt. Und eben darum quengelt er, will dies und will das und braucht Pflege. Und läßt natürlich sein Mamachen keinen Augenblick in Ruh'. Sie hält ihn schon den zweiten Tag im Arm. Kann kein Nickerchen tun und auch keinen Tee trinken gehen.

Vor der Station Lichny nun wendet sie sich an die Mitreisenden: „Ich bitte um Verzeihung!“ sagt sie. „Könnten Sie sich nicht für einen Augenblick meines Kleinen annehmen? Ich lauf nur mal schnell in Lichny ins Bahnhofsbüfett und esse eine Suppe. Mir“, sagt sie, „klebt schon die Zunge am Gaumen. Ich weiß mir sonst nicht mehr zu helfen. Ich fahre“ — sagt sie — „nach Noworossijsk zu meinem Mann!“

Die Passagiere, versteht sich, geben sich die allergrößte Mühe, nicht hinzuschauen, wo die Bitte herkommt. Sie wenden sich ab. Sozusagen: was nicht gar! Tagelang brüllt er und quengelt! Und jetzt — gib dich auch noch ab mit dem mißratenen Balg! Womöglich setzt ihn das Mamachen aus, denken die Mitreisenden. Hängt natürlich ganz von dem Mamachen ab. Manch eine ist schnell dazu bereit! Und wiewohl es dazu beileibe nicht kommen sollte, und diese liebende Mutter zu ihrem Kindchen zurückkehrte, so konnten die Mitreisenden das natürlich nicht im voraus ahnen und verhielten sich deshalb der Bittenden gegenüber ziemlich abweisend. Mit einem Wort: sie sagten nein! Sie nehmen das Kind nicht!

Es fuhr aber im gleichen Wagen so ein städtischer Genosse. Mit Schirmmütze und Allerweltsgummimantel. Und selbstverständlich in Sandalen. Und dieser wendet sich folgendermaßen an die Mitreisenden: „Das ist doch ...“, sagt er. „Speiübel wird mir bei eurem Anblick! Was seid ihr denn für Menschen?“ — sagt er. „Ich muß mich sehr wundern, Genossen! Wie kann man nur so gleichgültig sein? Die Mutter vor unser aller Augen kommt nicht einmal zum Essen, weil der Kleine ihr keine Ruhe läßt. Hier aber“ — sagt er — „drückt sich ein jeder, Gemeinschaftshilfe zu leisten... Das ist geradezu eine Absage an den Sozialismus!“

Die anderen sagen darauf: „Schau du doch selbst nach dem Balg! Ist mir auch so ein Früchtchen! Avantgardistische Reden im Eisenbahnwagen zu halten...“ Er aber: „Obgleich ich nur ein Junggeselle bin und verteufelt gerne schlafen möchte und das überhaupt keine Männersache ist — so fehlt mir doch jedenfalls eure Gefühllosigkeit in Kinderfragen!“

Und damit nimmt er den Knirps auf den Arm, wiegt ihn und schaukelt ihn und vertreibt ihm die Zeit mit Fingerspielen.

Die junge Frau natürlich dankt ihm auf das herzlichste und steigt auf der Station Lichny aus. Sie geht ins bahnhofsbüfett und kommt lange nicht zurück. Der Zug steht zehn Minuten. Nach diesen zehn Minuten wird das Abfahrtssignal gegeben. Und der Diensthabende winkt mit der roten Mütze. Sie aber ist nicht da.

Schon gibt es einen Ruck, und der Zug beginnt langsam auf den Schienen zu laufen. Die junge Mutter ist nicht zu sehen.

Hierauf tut sich mancherlei im Wagen. Einige lachen frei heraus. Wieder andere wollen die Notbremse ziehen, um den Zug zum Stehen zu bringen. Der in Sandalen aber sitzt ganz bleich da. Schlafen will er gar nicht mehr. Und nach Redenschwingen ist ihm auch nicht mehr zumute. Er hält den Kleinen auf den Knien und hört sich die verschiedenen Ratschläge an.

Nun, die einen raten ihm, ein Telegramm auf eigene Kosten abzuschicken. Die anderen wiederum meinen: „Bringen Sie ihn nach Noworossijsk. und übergeben Sie ihn der GPU. Und wenn die dort den Kleinen nicht nehmen, dann adoptieren Sie ihn halt!“

Der Kleine mittlerweile aber quengelt und plärrt und ist nicht zur Ruhe zu bringen. So vergehen zwei elende lange Stunden, bis der Zug endlich an einer größeren Station hält. Der in Sandalen stellt den Kleinen auf die Beine und will schon hinaus auf den Bahnsteig zur GPU, als plötzlich und unerwartet die Mutter in den Wagen kommt.

„Ich“ - sagt sie — „bitte um Verzeihung. Als ich in der Eile die heiße Suppe ausgelöffelt hatte, war ich plötzlich todmüde. Und da bin ich in den Nachbarwagen gestiegen und habe dort ein Nickerchen gemacht. Ich habe doch“ — sagt sie — „zwei Tage lang nicht mehr geschlafen! Wäre ich hier eingestiegen, wäre ich kaum zur Ruhe gekommen!“

Und damit nimmt sie wieder den Kleinen auf den Arm und wartet und pflegt ihn liebevoll.

Der in Sandalen sagt: „Sie machen es sich leicht, Genossin! Aber weil Sie so dringend Schlaf brauchten, will ich es Ihnen nachsehen. Die Kinderchen“ — sagt er — „sind unsere Wachablösung! Und ich“ — sagt er — „habe nichts dagegen —, auch mal die Kinderfrau abzugeben I*

Im ganzen Wagen brach hierauf ein fröhliches Gelächter los, eine kräftige, nicht endenwollende Lachsalve. War ja auch alles gut und glücklich ausgegangen!

Obertrage von Grete Willinsky

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