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Der Kitschroman

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Wem noch nicht die Augen aufgegangen sind, dem genügt ein Blick auf den Zeitungsstand. Die Überschwemmung mit den Kitschromanheften, bis Ende des Jahres 1947 durch die Papierknappheit mühsam zurückgedrängt, hat heute Ausmaße angenommen, die zu einer kulturellen Gefahr werden. Die Ursache dieser Erscheinung liegt sicher auch in den Zusammenbrüchen kultureller und geistiger Natur, die dieser unglückselige Nachkrieg über uns verhängt hat. Aber sie sind es nicht allein.

Den erkenntnismäßigen Zugang zu diesem Begriff vermittelt am besten ein psychologischer Aspekt. Es handelt sich um eine für alle Zeiten und alle Phasen der Kitschproduktion verbindliche Begriffsbildung. Wenn es in der Literaturwissenschaft bisher um psychologische Methoden ging, so geschah es zur Erhellung des Schaffensprozesses im Dichter, beziehungsweise zur Erhellung des Erscheinungsbildes der schöpferischen Persönlichkeit schlechthin. Für den Kitschroman ist nun der „Dichter“ oder richtiger der „Fabrikant“ uninteressant. Der Kitschroman ist ja nie das Ergebnis einer genialen künstlerischen Eingebung, er wurde nicht geschrieben, weil er von einem schöpferischen Autor aus einem inneren Drange des Gestaltens heraus geschrieben werden mußte. Er wurde vielmehr geschrieben, um einem ganz bestimmten Publikum als Lektüre zu dienen, er wurde für einen ganz bestimmten Leserkreis zurechtgemacht. Für die große Dichterpersönlichkeit ist ihr Werk in erster Linie Bekenntnis ihres Selbst, erst in zweiter Linie denkt sie an das aufnehmende Publikum. Für den Autor des Kitschromans ist das Publikum alles, es ist der ungekrönte König, dem er dient. Hiebei handelt es sich aber um ein ganz bestimmtes, begrifflich umgrenzbares Publikum, dessen gemeinsame Merkmale eben in seiner' Psyche gelegen sind. Es sind Menschen mit einem bestimmten psychischen Erscheinungsbild. Dieses ist charakterisiert durch einen ganz eigentümlichen Erstarrungsprozeß. Das Denken bewegt sich n festgefügten, festgefahrenen Geleisen, es haben sich feste Begriffe, feste Anschauungen gebildet, die nicht mehr modifizierbar sind. Solche Menschen sind also unbeweglich, geistig uninteressiert, bequem, denkfaul. Neue, ungewohnte Eindrücke suchen sie von sich abzuwehren. Willkommen sind ihnen nur solche Eindrücke, die genau auf dem Geleiseweg ihres Denkens liegen, die von ihrer eigenen Erwartung vorgeprägt sind.

Die psychische Vorprägung vollzieht sich in der Richtung bestimmter, konkreter Wunschbilder. Solche Bilder entstehen automatisch — und Automatik ist überhaupt ein Kennzeichen der Denkbewegung dieser Menschen —, wenn ihnen ein Buch vor die Augen kommt. Es ist, wie wenn man auf den Knopf einer Maschine drückt — alles geht seine streng geregelten, vorgezeichneten Bahnen. Die Psyche dieser Menschen ist ja irgendwo ein Ergebnis des Maschinenzeitalters.

Was nun ausgelöst wird, sind sehr konkrete Wunschbilder, deren Widerspiegelung eben das Buch geben soll. Der Kitschleser will etwas sehr Bestimmtes, genau Vorgezeichnetes lesen, das mit dem von seiner Phantasie genährten Wunschbild aufs Haar übereinstimmt. Die Erfüllung seines Wunschbildes hat ihm ja das Leben versagt, der Kitschroman soll sie ihm wenigstens vortäuschen. Jede Literatur, die in ihrer Thematik nicht im Sinne des geforderten Wunschbildes gehalten ist, wird abgelehnt. Verlangt wird eine Literatur, die inhaltlich einem starren System als Niederschlag des , im Leser gebildeten Wunschbildes folgt. Die überraschende Gleichläufigkeit der verschiedenen Wunschbilder und damit die Gleichläufigkeit in der formalen Bildung der Kitschromanliteratur in ihren Gründen aufzudecken, würde hier zu weit führen. Feststeht jedenfalls, daß wir es beim Kitschroman immer mit starren Schemas zu tun haben. Sie treten an Stelle der literarischen Stoffe und Motive. Die Marlin zum Beispiel, die Ahnin des Frauenkitschromans, baut ihre Romane streng nach einem Schema. Den Inhalt eines Marlitt-Romans erzählen, heißt die aller anderen erzählen. Immer macht ein junges Mädchen Karriere, indem es sich hinaufheiratet. Im Kriminalroman ist es immer der kluge und findige Detektiv, der den Verbrecher überführt und zugleich den dummen Polizeikommissär blamiert. Im Wildwestroman ist es immer der edle Cowboy, der über alle Gegner triumphiert und am Schlüsse sein Mädel heimführt.

Weniger verläßlich als diese starren Schemata sind die äußeren Kennzeichen des Kitschromans: eine übertriebene, schwülstige, auf jeden Fall aber überdeutliche Ausdrucksweise. Dem Leser soll ja das Denken erspart werden, daher muß alles möglichst simpel gesagt sein. Ein übles Zeitungsdeutsch ist häufig aber nicht immer, der Stil des Kitsches.

Nie aber fehlen gewisse Kennzeichen, die mit dem psychischen Erstarrungsprozeß im Leser selbst zusammenhängen. Der Kitschroman ist entwicklungslos, genau so wie es sein Leser ist. Er nimmt gewisse, geistige und soziale Änderungen in seiner Gegenwart einfach nicht zur Kenntnis, er ist konservativ bis zum Exzeß. Die Adelswelt mit ihren prunkvollen Titeln gehört auch heute noch zu den ständigen Requisiten, obwohl sie längst der Vergangenheit angehört. Aber es soll ja keine Rücksicht auf die Wirklichkeit genommen werden, weil ja der Kitsch von der Wirklichkeit wegführen will, eine Atmosphäre unwirklicher Märchen schaffen will. Nur in ihr können sich die Wunschträume ihrer Leserwelt spiegeln und wiedererkennen.

Die vollständige geistige Erstarrung ist in ihr ein — freilich ziemlich häufiger — Extremfall. Sie ist weder von sozialen Bedingungen, noch vom Lebensalter abhängig. Die psychische „Prägekraft“ des Kitsches ist nicht zu unterschätzen und kann oft bei der ersten Bekanntschaft entscheidend wirken. Jugendliche, die mit dem Buch in Form des verkitschten Romanheftes zuerst bekannt werden, sind oft für alle Zeiten verdorben. Hie-mit ist Entscheidendes gegen die diversen „Hinauflesetheorien“ im Volksbüchereiwesen vorgebracht — die bittere Erfahrung hat es nur zu oft bestätigt. Es ist eine gefährliche Illusion, den Leser mit einer Courts-Mahler anlocken zu wollen, um ihn dann sich bis zur Ina Seidel „hinauflesen“ zu lassen. Durch den Kitsch als „Ansprungsbasis“ werden nur Leser herangeführt, die selbst schon weitgehend durch den Kitsch psychisch vorgeprägt sind, die also schon durch die geschilderten Erstarrungsvorgänge gegangen sind. Sie sind nicht mehr zu ändern, ihr Leseniveau zu heben ist ein vergebliches Beginnen. Sie sind höchstens eine Belastung, auf die eine kulturell verantwortungsbewußte Volksbücherei gern von vornherein verzichten wird. Andererseits besteht die Gefahr, daß der als Lockmittel verwendete Kitsch bei noch unerfahrenen Lesern selbst schon prägend und daher für alle Zukunft verderblich wirkt, so daß das Gegenteil der angestrebten Wirkung hervorgerufen wird. Leider haben sich solche — wissenschaftlich längst überholte — Hinauflesetendenzen in lezter Zeit im österreichischen Volksbüchereiwesen, besonders auf Wiener Boden, wieder gezeigt und damit bewiesen, wie weit wir noch immer von einer auch gesetzlich fundierten modernen Volksbücherei entfernt sind.

Es gibt hier keinen goldenen Mittelweg, sondern nur ein Entweder-Oder. Es sei hiebei nichts gegen den sauberen Unterhaltungsroman gesagt. Er wird ja immer auch gewisse Kitschelemente enthalten, die aber gegenüber entscheidenden positiven Werten auf ästhetischem, ethischem und religiösem Gebiete ganz in den Hintergrund treten müssen, sollen wir ihn anerkennen. Solche positive Elemente müssen sich aber wirklich durchgehend und konstruktiv im Unterhaltungsroman äußern und die Sche-matik des Kitsches auf unwesentliche Details herabdrücken. Wir werden uns bei einer solchen sichtenden Wertung des Unterhaltungsromans auch stets im klaren sein, daß der Kitsch nicht nur auf künstlerischem Gebiet, sondern auch auf moralischem negativ wirkt. Es ist hiebei nicht die als „Schund“ bezeichnete Abart des Kitsches gemeint, die gewissen sexuellen und perversen (sadistischen) Trieben im Leser entgegenkommt. Die Absicht, dem Leser die reale Welt durch das Vorgaukeln eines irrealen, märchenhaften Daseins zu verschleiern, ist an sich unmoralisch. Denn so hilft der Kitsch mit, die Weltherrschaft der Lüge zu verbreiten, zu festigen und damit jenen verderblichen Illusionismus zu fördern, der das Verhängnis unserer Zeit ist.

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