6672585-1961_06_07.jpg
Digital In Arbeit

Der kleine Bruder

Werbung
Werbung
Werbung

Der amerikanische Kontinent begann das neue Jahr mit zwei neuen Präsidenten, die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit John Fitzgerald Kennedy und die Vereinigten Staaten von Brasilien mit Janio Quadros. So verschieden auch beide nach Herkunft, Charakter, Sprache sind, so verwandt sind beide Männer nach ihrem religiösen Credo, ihrem sozialen Gewissen, ihrem politischen Verantwortungsbewußtsein.

In der Abgrundtiefe, in der Jusce- lino Kubitschek sein Land am 31. Jänner zurückgelassen hat, empfand das brasilianische Volk mit seinem neuen Präsidenten Janio Quadros die Herzlichkeit der Botschaft Kennedys an seinen kleineren Bruder anläßlich der Machtübernahme besonders wohltuend. Mit Janio kommt der Vertreter einer Volksschichte ans Ruder, den die Inflation restlos weggeschwemmt hat, des Mittelstandes. „Der kleine Professor mit dem großen Herzen“, der den Damen schon auf die Nerven ging, als er, bereits Gouverneur des reichsten Staates, Sao Paulo, mit unpolierten Fingernägeln, altmodischer Krawatte und struppigem Schnurrbart die Rednerbühne bestieg, verschwand nach dem Erdrutsch am 3. Oktober. Die gestürzten Regierungsparteien, die im Geiste des vor 15 Jahren abgesetzten Diktators Getulio Vargas Politik machten, zeigten keine Lust, ihr Ende stillschweigend hinzunehmen. Sie hatten vorgebeugt, indem sie den Kriegs

minister, den populären, aber politisch ahnungslosen Marschall Lott, ein Typ Hindenburg, als Wahlköder aufstellten. Aber das brasilianische Volk, das politisch einen Riecher hat, fiel nicht darauf herein. Der erwartete Staatsstreich ist ausgeblieben. Nach dreißig Jahren kam mit Janio die Opposition ans Steuer. Mit ihr ist die Bahn für die christlichsozialen Grundsätze geöffnet. Janio Quadros selbst stammt aus der unbedeutenden Christlichdemokratischen Partei.

„Noch nie wurde einem brasilianischen Präsidenten ein miserableres Erbe übergeben, als Janio am 31. Jänner“, schreibt die „Gazetta“. Im pharaonischen Stil wurde in Brasilia der Festtag des Regierungsantrittes gefeiert. In der tausend Meter hoch gelegenen neuen Metropole kühlten die nahen Urwälder die Glut des tropischen Sommers. Aber die Sorgen derer, die morgen verantwortlich für das Schicksal eines 6 5-Millionen-Volkes zeichnen, wurden nicht gekühlt. „Die Flaggen müßten auf halbmast gehißt werden“, flüsterte mir ein Kollege von Ottawa ins Ohr.

„Mit allen Glocken Brasiliens müßte geläutet werden, daß der Märchenspuk JK zerronnen ist“, erwiderte ich. „JK“ war fünf Jahre lang das magische Zeichen Juscelino Kubi- tscheks, der seine Ära mit der Botschaft begann: „50 Jahre Fortschritt in 5 Jahren!“ „Am Sternenhimmel der Präsidenten Brasiliens wird mein Stern

Alles für Brasilia

Niemand zeiht Kubitschek mosko- witischer Neigungen, mangelt ihm doch jedes Gefühl für Grundsätze. Ein Positivist reinsten Wassers, machte er sich keine Sorgen über die Finanzierung seines Mammutprojektes Brasilia.

Unter welchem Strom von Tränen und Gewittern von Flüchen diese Gelder des Volkes in der Wüste von Zentralbrasilien versickerten, darüber haben sich die Lobredner und Lobschreiber Brasilias keine Gedanken gemacht.

Freunde Janios rieten, Rio wieder zur Hauptstadt zu machen. Es wäre ein Verbrechen gewesen. Heute ist es so, wer es sich leisten kann, läßt die Familie in Rio. Rio isf die Stadt der Feste, des „dolce vita“. Brasilia des sauren Lebens.

Wieder steht auf dem Regierungsprogramm der Kampf gegen die Inflation und die Ausgabenwirtschaft als Punkt Nr. 1. Aber nach fünf Jahren ist es endlich Zeit, wieder an die Millionen Hungernden zu denken, an die Aussätzigen und Tuberkulosen, die Analphabeten, die Hunderttausend, die vor der ..Seca“, der Dürre des Nordostens, flüchten. Sich dieser zu erbarmen, daran dachte der größenwahnsinnige JK nicht. In Brasilia brauchte niemand vor Hunger zu sterben, Brasilien hat gutes Land genug, um sogar anderen Völkern Brot zu geben.

Aber die Ruhmsucht der Regenten bevölkert die Friedhöfe.

DIE FURCHE 6/1961 Seite 7 der der um die der den ander

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung