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„Der kleine Sekretär... “

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Dies zeichnet Swetlana auf, mit der Stalin anderthalb Jahrzehnte zuvor, wann immer er von ihr getrennt war, ein eigenartiges, nach dem Tod ihrer Mutter (seiner zweiten Frau) von ihm selbst erdachtes Briefspiel gespielt hatte. Dabei ging es. darum, daß Swetlana, noch ganz Kind, von ihm zur Hausfrau, Befehishaberin, zur „Herrin“ ernannt war, ihm „Befehle“ zu erteilen hatte, woraufhin er meldete, daß die Befehle ausgeführt seien, und als „Der kleine Sekretär, der arme I. Stalin“ unterzeichnete.

Allein dieses Briefspiel steint, wie zahlreiche weitere Passagen der Memoiren, eine wahre Fundgrube für Tiefenpsychologen und Psychiater dar. Was war der Erhebung des kleinen Mädchens zur Herrin und Befehishaberin vorangegangen? Der Tod ihrer Mutter durch Selbstmord, und zwar nach einem Auftritt, den diese aus scheinbar geringer Ursache bei einer Abendgesellschaft mit Stalin hatte.

Man hatte die Tote am folgenden Morgen blutüberströmt neben ihrem Bett in ihrem abseits gelegenen Schlafzimmer gefunden, eine kleine Walther-Pistole in der Hand. Stalin war in den Tagen nach diesem Ereignis gebrochen gewesen und hatte erklärt, nicht mehr weiterleben zu wollen. Diese Stimmung schlug in Haß um, weil er sich nicht zu erklären vermochte, warum ihm Nadja diesen „Schlag in den Rücken“ versetzt, wofür sie ihn durch ihren Tod hatte „strafen“ wollen. Ein Abschiedsbrief völler furchtbarer persönlicher und politischeir Anklagen, der unverzüglich vernichtet worden war und dessen Inihalt Swetlana nie erfahren durfte, gab ihm seinem Ermessen nach nicht vollen Aufschluß.

„Duschä moja“, meine Seele, sagt der Slawe zu der Frau, die er liebt. Mit dem Schuß aus der Walther-Pistole hatte sich Stalins Anima, von ihm unmenschlich vergewaltigt, Gestalt geworden in Nadja, im Zug eines Strafgerichts sondergleichen losgesagt. Dies hatte er instinktiv begriffen, wonach er in einem Rachefeldzug in den Foigejahren alle Freunde und Anverwandten, die Nadja etwas bedeutet hatten, aus dem Haushalt entfernte, viele von ihnen verfolgen, ins Gefängnis werfen ließ. Eine Anzahl kam um, andere waren für immer gebrochen. Gleichzeitig wurde die ganze freundliche weibliche Ordnung des Hauswesens, die Nadja errichtet hatte, planmäßig zerstört, Möbel, Kunstgegenstände, Andenkenstücke, die an sie gemahnten, entfernt, jeder faßbare Erinnerungsrest an sie (mit Ausnahme einer Photovergrößerung) vollends getilgt

Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse

Swetlana aber wurde der Selbstmord verheimlicht, für sie war die Mutter eines natürlichen Todes gestorben. Und in dieser Zeit entfaltete sich die Gemütslage Stalins, in der er das Briefspiel ersann, die Zeit, in der ein unschuldiges. Kind (bezeichnenderweise das Mädchen, nicht der Sohn Wassja) zu seiner stellvertretenden Anima, zur Herrin und Befehishaberin des „armen I. Stalin“ gemacht werden sollte. Ein verzweifelter Versuch, zurückzuerobern, was für immer tot war.

Für die konkrete Geschichts-

betrachtung mag Swetlanas Bericht kaum sonderlich ergiebig- werden, da die Forschung über die meisten wesentlichen Zusammenhänge der Periode besser informiert ist als sie. Da und dort ein wenig erhebliches Detail, ein kleiner Mosaikstein, der sich ini Bild des ganzen Zeitabschnitts fügt, das ist alles, was sie diesbezüglich liefert. Ein reiches Material, authentisch und durch keine Autorenkünsite transformiert, bietet sie dagegen Gesellschaftswissenschaftlern aller Sparten, Soziologen, Verhaltensforschern, Erforschern der Kollektivpsyche zumal. Da nehmen wir einerseits die Reaktionen des zum Glauben an übermenschliche Fähigkeiten Stalins erzogenen Volks wahr, anderseits die schicksalswendende Kraft des Generationsgegensatzes, durch dessen unablässige Wirksamkeit von der kommunistischen Ideologie der Früteeit kaum mehr übrigblieb als eine Reihe von anläßlich der Staatsfeiertage hervorzuholenden Phrasen ohne virulente Formkraft. Wir erleben die Sterilität des militanten Atheismus, der den Menschen kein Äquivalent für abgeschaffte Religionsiformen zu bieten vermochte, und es ist erregend, mitanzusehen, wie Swetlana, atheistisch erzogen, in ihren Reifejahren plötzlich zu einem (überkonfessionellen) Gottasglauben fand. Aus vielen Abschnitten ist die verheerende Wirkung einer mit dem Anspruch der Omnipotenz auftreten-

den Staatsmaschinerie abzulesen, die der Wirtschaft ebenso wie zahlreichen anderen Zweigen individuellen und gemeinschaftlichen Tuns den Lebensatem raubt. Immer wieder aber ist es die russische Frau, sind es Swetlamas Großmütter, Tanten, sind es getreue Gouvernanten, Haushälterinnen, Köchinnen, Kindermädchen, die, was auch geschieht, Hüterinnen der Menschlichkeit und des Familiensinns sind und es auf unerklärliche Weise fertigbringen, allen tödlichen Exaltationen der Doktrin und allen Säuberungswellen zum Trotz die elementaren und natürlichen Werte des Guten den Kindern und der Jugend unverlierbar einzupflanzen So ist es kein Zufall, wenn Swetlana einen der ergreifendsten ihrer zwanzig Briefe, aufrichtige Treue liebevoll vergeltend, ihrer Kinderfrau Alexandra Andrejewa widmet, die dreißig ihrer Lebensjahre begleitete, wobei sie folgende Worte findet: „Hätte mich dieser mächtige, warme, gute Ofen nicht mit seiner beständigen Wärme erwärmt, ich weiß nicht, ob ich nicht längst in irgendeinem Krankenhaus an Neurasthenie zu-

grunde gegangen wäre. Und sonderbar — oder vielleicht ist ea im Gegenteil gar nicht sonderbar —, daß von allen Verlusten und Einbußen, die mich getroffen haben, der Tod der Kinderfrau, der ^Babusja' (Großmütterchen), wie meine Kinder und ich sie nannten, in mir zum erstenmal das Gefühl erweckt hat, einen wirklich nahen, zutiefst verwandten, einen geliebten und mich wiederliebenden Menschen verloren zu halben.“

Verständnis für die Probleme des Sowjetvolkes

So viel Schmerz und Unglück diese Frau zu ertragen hatte, mit einer Erleidenskraft, die uns heroisch erscheint, nirgendwo trüben

Haß oder Rachsucht die einfältige Größe ihrer Worte. Sie verlor ihren Halbbruder Jascba, den Stalin aus deutscher Kriegsgefangenschaft einzutauschen grausam verzichtete, verlor den Bruder Wassja, das als Opfer des Personenkults im 41. Lebensjahr als Trinker starb, verlor eine Schar Anverwandter durch Stalins unfaßbare Rachsucht, verlor die Mütter durch Selbstmord infolge Stalins Schuld, verlor auch ihn als Vater dadurch, daß er, selbst ein Verlorener, in den Anfällen von Verfolgungswahn seines letzten Lebensjahrzehnts fast alle Personen seiner Umgebung, auch Swetlana selbst, der Verräterei bezichtigte, und dadurch, daß er Millionen Unschuldiger in den Tod trieb. Sie verlor den einzigen Geliebten ihrer Jugend, Peter Kapler, der seine Neigung zu ihr, weil er Jude war, mit zehn Jahren Verbannung büßen mußte, sie verlor ihren ersten und ihren zweiten Gatten nach Ehen, die in der unguten Kremlatmosphäre scheitern mußten — aber sie verlor nicht ihr Vertrauen in das Gute und sie gewann aus tausend unnennbaren, heimlichen Quellen den Glauben an Gott. Darum trifft uns ihr Bericht (in dem sie, aus der Optik der Tochter in Irrtum befangen, unverhältnismäßig mehr grausame Schuld bei Berija finden zu müssen glaubt als bei Stalin) mit der ganzen Heilskraft, die eine unendlich redliche und reife Frauenseele zu schenken vermag. Swetlana Allilujewa hilft uns wie kein noch so glänzender Geist vor ihr, die gegenwärtigen Nöte und Hoffnungen, die Schwächen und Stärken des Sowjetvolkes begreifen zu lernen. Durch die Summe ihrer schlichten Aussagen und durch den Weg in den Westen ist Swetlana alles eher als eine Zuträgerin von Propagandamaterial gegen ihr Land geworden, sondern im Gegenteil eine Botschafterin der russischen Seele, des unsterblichen Mütterchens Rußland, eine Botschafterin, die der Menschheit in einer undurchsichtigen Stunde der Weltgeschichte einen Appell überbringt: den Mächten der Finsternis zu widersagen und uns dem Leben zuzuwenden.

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