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Der Lebenskampf des japanischen Volkes

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Tajimi, Japan, im September. Die Landflucht und Stadtsucht zu bannen, ist heute auch in Japan eine wichtige Aufgabe der Realpolitik. Durch den radikalen Abbau der Rüstungsindustrie setzte auch in Japan selbstverständlich eine Rückkehrbewegung zum Lande ein. Aus den amtlichen Büros liegt darüber zwar noch kein klares Zahlenbild vor, aber die kirchlichen Statistiken in unseren Industriestädten zeigen zum Beispiel eine Abwanderung von christlichen Kyushubauern in ihre ländliche Heimat zurück. Schon während des Krieges hatte die schwierige Ernährungsfrage jeden der 100 Millionen Bewohner dieses Insel-reiches gezwungen, jedes noch unbebaute Fleckchen Landes zu bestellen und das schon bebaute noch besser auszunützen. „Zooka“, auf deutsch NPV = „Nahrungsproduktionsvermshrung“, das war das Schlagwort, das täglich in Radio und Presse auf uns einhämmerte. Und es hatte Erfolg. Jeder verfügbare Wegsaum wurde in ein kleines Feld verwandelt, jeder Straßen- und Bahndamm mit Gemüse bepflanzt. Wenn auch für die Fruchtbarmachung größerer Brachstücke die berufenen Leute nicht frei waren, so vermochten Schulkinder ein Erstaunliches an Feld- und Nahrungsvermehrung zu leisten. Ausländische Agrarexperten, die nach dem Kriege kamen, und alle Tatsachen und Möglichkeiten der Landwirtschaft bis ins kleinste untersuchten, rechneten dem japanischen Volke statistisch vor, daß es sich auch ohne Kolonialgebiete vom eigenen Land und Boden ernähren könne. Es kann jedoch kein Volk von einem Minimum leben und zu einem Minimum verurteilt werden. Reis ist ja in Japan die Hauptnahrung neben Kartoffeln und Buchweizen. Täglich ein halber Liter Reis für jeden Erwachsenen ist augenblicklich die rationierte Tagesausgabe. Andere Nahrungsmittel sind frei, werden aber öfter anstatt Reis als Ration verausgabt. Naturkatastrophen suchen jährlich das Land heim, aber die eigentümlich langgestreckte Lage des Inselreiches ergibt immer wieder zum Glück, daß Ernteausfall in gewissen Gegenden durch Erntereichtum in anderen ersetzt wird. Dazu kommt, daß fast die ganze Fettversorgung, das heißt Fleisch-bc:chaffung, ohne Weideplätze, nämlich von den umfließenden Ozeanen, im Fischfang gerntet wird. Japan ist zur Seefahrt vorbestimmt. Nicht zum Länder-erobern, aber um sein eigenes Land zu ernähren hat Gott diesem Volk das Talent zur Beherrschung des Meeres gegeben.

Demokratisierung der Agrarwirtschaft möchte ich nennen, was ich letztes Frühjahr vielenorts bewundern konnte. Der Europäer hat in seinem Vorstellungskreis die poetische Gestalt des Sämanns. In Japan gibt es keinen Sämann. Zur Zeit der Aussaat tritt das ganze Dorf an. Hunderte von kräftigen Männern und Frauen, von Jungmännern und Mädchen und von Schulkindern, stehen dann durch einige Tage in den Wasserflächen der zu bebauenden Reisfelder, und jede einzelne Reispflanze (für die 100 Millionen Esser) wird einzeln in einer vorgezeichneten Linie gesetzt. Als ich letztens einen Aufseher dieser Arbeit fragte: „Ist das der Jungmann- und Jungmädchenverband eures Dorfes, der hier die Feldbestellung vornimmt?“ gab er zur Antwort: „Nein, sondern alle Dorfbewohner tun sich zusammen, um g e-meinsam die F e 1 d p a r z e 11 e n jeder einzelnen Familie zu bestellen.“ Alle arbeiten für den einzelnen und jeder einzelne für jeden andern, ohne daß ein System oder die Polizei dahinter steht. Also buchstäblich

Volk arbeitet hier als Volk.

Kein Einzelner ist bevorzugt. Früher, im Feudalsystem, bearbeiteten die Pachtbauern außer ihrem eigenen Feldstück das des Grundherrn, und ganz früher, in China und Japan, besorgten sie auch noch den Reisbedarf der kaiserlichen Hofhaltung. Heute gibt es keinen Großgrundbesitz mehr in Japan. Ein Reformgesetz nach dem Kriege hat mit einem Federstrich und gegen eine minimale Bezahlung die Pächter zu Besitzern ihrer Parzellen gemacht, und keiner hat mehr, als er mit seinen eigenen Leuten bestelle kann. „Herr“ und „hörig“ hat sich über Nacht aufgelöst, aber die Bewirtschaftung der Scholle ist ihrer Form nach die gleiche geblieben. Nur das Gefühl für die Landarbeit, die Liebe zur Scholle, ist bei den arbeitenden Menschen eine neue geworden.

Zur Zeit der Feudalherren, im alten China wenigstens, hatten je acht Familien für ihren Herrn und den Kaiser mit-zusorgen. Das chinesisch-japanische Zeichen für Brunnen

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718 V zeigt die Abteilung von neun Arbeitsparzellen. In der Mitte lag der Brunnen, der zur Bewässerung des Ganzen diente. Das mittlere Stüde erfuhr also die beste Bewässerung, und es war kein Niemandsland, sondern Staatsland. Daß damals das Volk wegen dieser Mehrarbeit an diesem kaiserlichen Lande gerade unglücklich gewesen sei, behauptet heute kein Wirtschaftsgeschichtler. Auch im demokratischen Staat muß man schließlich in irgendeiner Form Steuer zahlen. Viel gesungen und gelacht wird beim gemeinsamen Reisbau von den jungen Leuten. Es gibt keinen „Erntetanz“. Aber mitten im Sommer, wenn die erste und größte Unkrautrupfe vorbei ist (jedes Reisfeld wird zwei- bis dreimal ganz durchgerupft), wenn die Tage heiß und die Nächte kühl sind, feiert man in ganz Japan das Ahnenfest. Die kürzeste Zeit dalvji währt wenigstens eine Woche. Dann wird um die Ahnentempel getanzt bis in den Morgen hinein. Allerdings nur in Reigentänzen oder in Kunsttänzen einzelner. Die Tanztrommeln, die ursprünglich zum Verscheuchen der Spatzen gedient haben mögen, beherrschen acht Tage und Nächte hindurch das Dorfleben. Zwischen diesen fröhlichen Tagen und der endgültigen Erntefreude kommen aber noch ein paar angstvolle, oft schreckliche Tage. Man nennt sie einfach den „zweihundertzehnten“ und den „zweihundertzwanzigsten“ (Tag) nach der Aussaat. Nach dem Mondkalender werden sie zwar gezählt, also nach Jahren verschieden; es sind die Tage anfangs und Mitte September, da stürmen die großen Taifune aus den südlichen Ozeanen her; sie bringen oft derartige Regenschauer oder gar Hagelschläge mit, daß oft in ein paar Stunden die Arbeit und Sorge und Hoffnung langer Monate vernichtet wird. Wenn diese Tage vorüber sind, beglückwünscht man sich gegenseitig und rüstet zur Ernte.

Wenn die Aussaat auch gemeinsam geschah, den Schnitt und die Ernteeinfuhr hält jede Familie für sich allein. Wenn man bedenkt, daß Japans Bevölkerung trotz des rapiden Aufstieges der Industrie in den letzten Jahren immer noch zu 65 % auf dem Lande lebt und ihre Existenz findet und es nur etwa 35 Städte mit mehr als 100.000 Einwohner gibt, so muß man Japan immer noch einen Agrarstaat nennen.

Die Berufsstaiistik der japanischen Bevölkerung gibt folgendes Bild: Von den beruflich tätigen 46% der Bevölkerung sind beschäftigt im

Daß Japan existieren kann, verdankt es dem Meer und der Geschicklichkeit der Reisfeldbestellung. Japan zieht statistisch nachweisbar den höchsten Prozentsatz Reis von allen reisbauenden Völkern, und die Qnalität ist so gut, daß das Inselreich an alle reisbauenden Länder seinen eigenen guten Reis ausführen und von dort billigeren einführen kann für seine weniger zahlkräftige Bevölkerung. Diese Bevölkerung wächst jährlich, aber eine Erhöhung der Nahrungsproduktion ist kaum mehr möglich. Man hat dem japanischen Volke Kindereinschränkung anempfohlen, die Einbürgerung des „weißen Todes“, und ein Landesgesetz erlaubt sie neuerdings. Man muß es tief beklagen, daß man diesem tüchtigen Volke nichts anderes zu bieten sich bemüht hat.

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