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Der letzte Augenblick

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Lord Marchmain lag bis zur Mitte des Juli im Sterben, erschöpfte sich im Kampf um sein Leben. Dann fuhr, da kein Anlaß bestand, eine unmittelbare Änderung zu erwarten, Cordelia nach London, um mit ihrer Frauenorganisation über den herannahenden „Notfall“ zu sprechen. An diesem Tag verschlechterte sich Lord Marchmains Befinden plötzlich. Er lag still und ganz stumm da, atmete mühsam; nur seine offenen Augen, die bisweilen durch das Zimmer schweiften, verrieten, daß er bei Bewußtsein war.

„Ist das das Ende?“ fragte seine Tochter Julia.

„Unmöglich zu sagen“, antwortete der Arzt, „wenn er stirbt, wird es wahrscheinlich so sein. Er kann sich von dem jetzigen Anfall erholen. Man kann nur eines tun: ihn nicht stören. Die geringste Aufregung wird tödlich sein.“

„Ich gehe Pfarrer Mackay holen“, sagte sie.

Das überraschte mich nicht. Ich hatte es ihr den ganzen Sommer hindurch angesehen. Als sie fort war, sagte ich zum Arzt: „Wir müssen diesen Unfug verhindern.“

Er entgegnete: „Ich habe mit dem Körper zu tun. Es ist nicht meine Sache, Diskussionen zu führen, was für einen Menschen besser ist, weiterzuleben oder zu sterben, oder was mit ihm nach dem Tode geschieht. Ich versuche lediglich, ihn am Leben zu erhalten.“

„Sie haben doch gerade gesagt, daß jede Aufregung ihn töten würde. Was könnte schlimmer sein für einen Mann, der den Tod fürchtet wie er, als daß ein Priester zu ihm gebracht wird — ein Priester, den er, als er noch die Kraft dazu hatte, fortschickte?“

„Ich glaube, es kann ihn töten.“

„Dann werden Sie es also untersagen?“

„Ich habe nicht die Befugnis, etwas zu untersagen. Ich kann nur meine Meinung äußern.“

„Cara, was denken Sie?“

„Ich will nicht, daß er unglücklich gemacht wird. Das ist alles, was man jetzt hoffen kann,- daß er stirbt, ohne es zu wissen. Aber trotzdem würde ich den Priester gern hier haben.“

„Wollen Sie versuchen, Julia zu überreden, daß sie ihn nicht zu ihm kommen läßt — bevor es vorbei ist? Nachher kann er keinen Schaden mehr tun.“

„Ich will sie darum bitten, Alex glücklich zu lassen. Ja.“

Eine halbe Stunde später war Julia mit Pfarrer Mackay zurückgekommen. Wir versammelten uns alle in der Bibliothek.

„Ich habe Bridey und Cordelia telegraphiert, sie sollen kommen“, sagte ich. „Du bist doch hoffentlich auch der Meinung, daß nichts geschehen darf, bevor sie da sind.“

„Ich wollte, sie wären schon hier“, sagte Julia.

„Du kannst nicht allein die Verantwortung übernehmen“, erklärte ich, „alle anderen sind gegen dich. Doktor, sagen Sie ihr noch einmal, was Sie eben zu mir gesagt haben.“

„Ich habe gesagt, daß der Schock, einen Priester zu sehen, ihn unter Umständen sehr wohl töten könnte; ohne so etwas kann er diese Attacke überleben. Als sein Arzt muß ich dagegen protestieren, daß irgend etwas getan wird, was ihn aufregen könnte.“

.Cara?“

„Julia, Liebste, ich weiß, daß du das Beste willst, aber du weißt doch, Alex war nie ein frommer Mensch. Er hat sich immer darüber lustig gemacht. Jetzt ist er schwach, aber wir dürfen das nicht ausnutzen, um unser eigenes Gewissen zu beruhigen. Wenn Pfarrer Mackay ihn aufsucht, während er bewußtlos ist, kann er doch begraben werden, wie es sich gehört, nicht wahr, Hoch würden?“

„Ich will nachsehen, wie es um ihn steht“, sagte der Arzt und ging hinaus.

„Herr Pfarrer“, sagte ich, „Sie wissen, wie Lord Marchmain Sie begrüßt hat, als Sie das letzte Mal hier waren. Halten Sie es für möglich, daß sich daran etwas geändert hat?“

„Dem Himmel sei Dank, bei Gottes Gnade ist so etwas möglich.“

„Vielleicht“, meinte Cara, „könnten Sie sich hineinschleichen, während er weist; und dann will ich ihm Gottes Vergebung bringen. Und nachher, obwohl es nicht wesentlich ist, will ich ihn salben. Es ist weiter nichts, eine Berührung mit den Fingern, bloß etwas öl aus diesem Bürhschen hier, schauen Sie, es ist reines öl, nichts, was ihm schaden kann.“

„Ach, Julia“, rief Cara, „was sollen wir bloß sagen? Laß mich mit ihm sprechen.“

Sie ging in den chinesischen Salon; wir warteten schweigend; zwischen Julia und mir stand eine Feuerwand. Bald kam Cara zurück.

„Ich glaube, er hat nichts gehört“, berichtete sie. „Ich hatte mir zurechtgelegt, wie ich es machen soll. Ich habe gesagt: ,Alex, du erinnerst dich an den Priester aus Melstead. Du warst sehr häßlich, als er zu dir kam. Jetzt ist er wieder da. Ich möchte, daß du ihn siehst, nur mir zuliebe, damit ihr euch aussöhnt.' Aber er hat nicht geantwortet. Wenn er bewußtlos ist, kann es ihn doch nicht unglücklich machen, daß der Priester zu ihm kommt, nicht wahr, Doktor?“

Julia, die ganz stillgeblieben war und nichts gesagt hatte, trat schließlich vor.

„Danke für Ihren Rat, Doktor“, sagte sie. „Ich übernehme die volle Verantwortung für alles, was passieren könnte. Pfarrer Mackay, wollen Sie jetzt, bitte, zu meinem Vater kommen“, und damit führte sie ihn, ohne mich anzublicken, zur Tür.

Wir alle folgten. Lord Marchmain lag da, wie ich ihn am Morgen gesehen hatte, aber seine Augen waren nun geschlossen; die Hände ruhten mit den Flächen nach oben auf der Decke; die Pflegerin hatte ihre Finger am Puls der

öffnete seine Augen und stieß einen

Seufzer aus — so, hatte ich mir immer vorgestellt, müßten Menschen im Augenblick des Sterbens seufzen — aber seine

Das Literaturfireisaussekreihen der „Furcht

Für das in den Nummern 15—17 bekanntgegebene Preisausschreiben der „Furche“, das einem Wettbewerb für die beste Erzählung galt, sind 818 Arbeiten termingerecht eingetroffen. Ein großes Preisriditerkollegium hat die Einsendungen in mehreren Lesungen geprüft.

Keiner der eingereichten Arbeiten konnte der erste Preis zuerkannt werden. Für den Platz des zweiten Preises stehen jedoch drei gleichwertige Arbeiten in Wettbewerb. Die Redaktion hat deshalb über Antrag der Jury die für den ersten' Preis vorgesehene Summe von 1000 S in zwei weitere Preise von Je SOO S geteilt, Es erhalten somit die nachstehenden drei Autoren für ihre eingereichten Arbeiten je einen mit 500 S dotierten zweiten Preis:

Liselotte Matiasek: „Die Bürger von Calais“;

Friedrich Parent: „Grigori“;

Erich Landgrebe: „Sonntagsfrieden“.

Der dritte Preis in der Höhe von 300 S wurde Karl Bauer-Debois für die Erzählung „Der Negus“ zuerkannt.

Den Gewinnern der zwanzig Trostpreise sowie jenen Autoren, deren Arbeiten zwar keinen Preis erhalten haben, aber von der Redaktion angekauft werden, geht eine entsprechende schriftliche Verständigung direkt zu. Die übrigen Manuskripte mittein wir den Autoren zurück.

Wir freuen uns über den starken Widerhall, den unsere Einladung gefunden hat und sagen allen Teilnehmern an unserem Preisausschreiben verbindlichsten Dank für ihre Mitwirkung.

Die Redaktion der „österreichischen Furche“ schläft und die Absolutionsworte über ihn sprechen; dann würde er gar nichts davon merken.“

„Ich habe so viele Männer und Frauen sterben gesehen“, antwortete der Priester. „Ich habe nie die Erfahrung gemacht, daß es jemand bedauert hat, mich in seiner letzten Stunde bei sich zu haben.“

„Aber das waren Katholiken. Lord Marchmain ist nie einer gewesen, höchstens dem Namen nach — jedenfalls seit vielen Jahren. Er war ein Spötter, das hat Cara gesagt.“

„Christus ist nicht gekommen, die Gerechten zur Buße aufzurufen, sondern die Sünder.“

Der Arzt erschien wieder. „Keine Veränderung“, meldete er.

„Doktor“, fragte der Priester, „wie könnte ich jemand erschrecken?“ Er wandte sein freundliches, unschuldiges, nüchtern-sachliches Gesicht erst dem Arzt, dann uns andern zu. „Wissen Sie, was ich tun will? Es ist etwas ganz Winziges, ohne jedes Gepräge. Ich ziehe mich gar nicht um, wissen Sie, ich gehe hinein,, wie ich bin. Er weiß jetzt, wie ich aussehe. Da kann ihn nichts bestürzen. Ich will ihn bloß fragen, ob er seine Sünden bereut. Ich will, daß er irgendein kleines Zeichen der Zustimmung gibt; ich will bloß, daß er mich nicht abeinen. „Kommen Sie herein“, sagte sie in flottem Ton, „jetzt können Sie ihn nicht stören.

„Wollen Sie damit sagen ...?“

„Nein, nein, aber er kann nichts mehr wahrnehmen.“

Sie hielt den Sauerstoffapparat an sein Gesicht, und das Zisdien des entweichenden Gases war das einzige Geräusch am Krankenlager.

Der Priester beugte sich über Lord Marchmain und segnete ihn; Julia und Cara knieten am Fußende des Bettes. Der Arzt, die Schwester und ich standen hinter ihnen.

„Also“, sagte der Priester, „ich weiß, daß Sie alle Sünden Ihres Lebens bereuen, nicht wahr? Machen Sie ein Zeichen, wenn Sie können. Sie bereuen, nicht wahr?“ Doch es kam kein Zeichen. „Versuchen Sie sich auf Ihre Sünden zu besinnen; sagen Sie Gott, daß Sie bereuen. Ich gebe Ihnen jetzt die Absolution. Während ich sie erteile, sagen Sie Gott, Sie bereuen, daß Sie ihn beleidigt haben.“ Er begann lateinisch zu sprechen. Ich erkannte die Worte: j,Ego te absolvo in nomine Patris ...“, und sah den Priester das Kreuzeszeichen machen. Dann kniete auch ich nieder und betete: „O Gott, wenn es einen Gott gibt, vergib ihm seine Sünden, wenn es so etwas gibt wie Sünden“, und der Mann auf dem Bett

Augen bewegten sich, woran wir erkannten, daß noch Leben in ihm war.

Mit einem Male verspürte ich das Verlangen nach einem Zeichen, und wäre es auch nur eines der Höflichkeit, nur um der Frau willen, die ich liebte, die vor mir kniete und, wie ich wußte, um ein Zeichen betete. Es schien so wenig zu sein, worum da gebeten wurde, nichts weiter als die Bestätigung einer Gabe, etwas wie ein Kopfnicken in der Menschenmenge. In der ganzen Welt lagen vor unzähligen Kreuzen Menschen auf den Knien, und hier wurde das Drama wiederum von zwei Menschen gespielt, von einem im Grunde, und der war dem Tode näher als dem Leben; das Drama der ganzen Welt, in dem es nur einen Akteur gibt.

Der Priester nahm das Silberbüchschen aus der Tasche und sprach wieder lateinisch, wobei er den Sterbenden mit einem in öl getauchten Wattebausch berührte; er kam zu Ende mit dem, was er zu tun hatte, steckte das Büchschen ein und sprach den letzten Segen. Plötzlich tastete Lord Marchmain mit der Hand zur Stirn; ich dachte, er hätte die Berührung mit dem Chrisma gespürt und wollte es fortwischen. „O Gott“, betete ich, laß ihn nicht das tun.“ Doch es war nichts zu fürchten; die Hand bewegte sich langsam hinunter zur Brust, dann zur Schulter und Lord Marchmain bekreuzigte sich. Da wußte ich, daß das Zeichen, um das ich gebeten hatte, keine Kleinigkeit war, nicht ein flüchtiges Nicken der Bestätigung, und mir kam aus meiner Kindheit ein Satz in Erinnerung — der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke, von oben an bis unten aus.

Es war vorbei; wir erhoben uns; die Schwester ging wieder zur Sauerstoffflasche; der Arzt beugte sich über seinen Patienten. Julia flüsterte mir zu; „Willst du Pfarrer Mackay hinausbegleiten? Ich bleibe noch ein bißchen hier.“

Draußen wurde Pfarrer Mackay wieder zu dem einfachen freundlichen Menschen, den ich von früher kannte. Ja, nicht wahr, das war ein schöner Anblick. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es immer und immer wieder so kommt. Der Teufel leistet Widerstand bis zum letzten Augenblick, und dann wird die Gnade Gottes zu viel für ihn. Sie sind nicht Katholik, glaube ich, Mr. Ryder, aber Sie werden sich wenigstens darüber freuen, daß die Damen diesen Trost haben.“

Während wir auf den Chauffeur warteten, fiel mir ein, daß Pfarrer Mackay für seine Dienstleistungen bezahlt werden müßte. Ich fragte ihn verlegen. „Aber machen Sie sich doch darüber keine Gedanken, Mr. Ryder. Es war mir ein Vergnügen“, sagte er. „Aber wenn Sie etwas geben wollten, in einem Pfarrsprengel, wie meinem, hilft alles.“ Ich sah, daß ich drei Pfund in meiner Brieftasche hatte, und gab sie ihm. „Oh, das ist aber wirklich mehr als generös. Gott segne Sie, Mr. Ryder. Ich werde wiederkommen, aber ich glaube nicht, daß die arme Seele noch lang von dieser Welt sein wird.“

Julia blieb im chinesischen Salon, bis am Nachmittag um fünf Uhr ihr Vater starb und damit beiden Seiten in diesem Streit, dem Priester und dem Arzt, recht gab.

Aus dem Roman „Wiedersehen mit Budes-head“, Verlag Arnstütz-Herdegg, Zürich.

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