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Der Löwe und seine Raben

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Oft habe ich mich gefragt, zu welcher Zeit England am schönsten gewesen sein mag. Churchill scheint der Ansicht zu sein, dem römischen Britannien müßte, was Eleganz und — Komfort anbelangt, die Krone zuerkannt werden. Klar gegliederte Siedlungen, in denen Kult und Administration ihren richtigen Platz hatten, lagen inmitten eines losen Netzes zentralgeheizter Landhäuser. „Fünfzehnhundert Jahre lang lebten die Nachfahren in kalten, unheizbaren Wohnstätten, in denen sie sich nur gelegentlich an riesigen Feuern wärmten ...“

Ich selbst möchte dem frühen Mittelalter, bevor der schwarze Tod und die soziale Grausamkeit der Tudors alle Gegensätze verschärften, bevor Heinrich VIII. die Schönheit des Landes ebenso zerstörte wie es die Bilderstürmer in den Niederlanden oder Napoleon in Italien getan, den Vorzug geben. Ein wundersames Gleichgewicht zwischen Bewohntsein und unberührter Natur hatte sich damals eingespielt, Städte, Dörfer und Burgen lagen dort, wo es am sinnvollsten schien, die adeligen Häuser waren erstmals mit reichem Blumensaum umgeben, die Gutspächter waren stattliche Leute, die Bauern hatten meist eigenes Land. „Es gibt keinen kleinen Gastwirt“, schrieb damals ein Besucher, „der nicht silberne Schüssel und Trinkbecher auf den Tisch stellt.“

Lieber die ästhetischen Vorzüge des römischen und frühmittelalterlichen Britanniens könnte man lange und mit Anmut streiten, wobei man wahrscheinlich gewisse Parallelen übersehen würde. So hatte das römische und frühmittelalterliche England fast dieselbe Einwohnerzahl — unter einer Million —, auch lagen beide am Rande des großen Geschehens... ferne, nebelverhangene Inseln, auf der das Leben ruhiger und gemächlicher war und sich die Bevölkerung um den Kampf der Großen, von denen die Geschichtsbücher soviel erzählen, kaum kümmerte. Selbst die Plantagenets erlangten nur durch die weiten französischen Gebiete, die sie beherrschten, europäische Bedeutung, die den Königen Frankreichs auch in den demütigendsten Stunden niemals entglitt.

Für unser Weltbild ist die Vorstellung: England am Rande der Entscheidungen, England als kleine Insel an der Peripherie riesiger Landmassen unwirklich. Denn Großbritannien liegt nicht am Rande, sondern ist die für ganz Europa wichtige atlantische Drehscheibe, die Engländer bemannen keinen Außenposten, sondern sind das Brückenvolk nach Amerika hinüber, London ist,darüber hinaus noch der Mittelpunkt eines weltweiten Reiches, von hier aus wurde die „pax britannica“ administriert. Diese Zeiten sind freilich vorbei und mit ihnen die Ruhe und Sicherheit weiter Teile des Globus; die unbekümmerte Pracht der „pax britannica“, der Michael Todds Film „Die Reise um die Welt in 80 Tagen“ ein verspätetes Denkmal gesetzt hat, ist der bekümmerten Düsternis der „pax atomica“ gewichen, die den Wolkenpilz im Wappen führt.

Geblieben ist eines: die Vorstellung, daß

England noch immer sehr viel mehr ist als eine der europäischen Mächte, daß ihm nach wie vor eine Sonderstellung zukommt, daß dieses Land mit anderen Maßen zu messen ist und über eine andere Strahlweite gebietet. Dieser Ansicht pflichten im Grunde auch die bei, die am lärmendsten opponieren. Denn ihr Widerspruch weist eine Heftigkeit und machtbewundernde Arroganz auf, die sich mit gesicherter Ueber-zeugung fast nie verbinden. Wie aber wird die Zukunft aussehen? Wird England eines Tages auf die Bedeutung zurücksinken, die es in den Tagen der neunten Legion oder des ersten Tudor-königs innegehabt: Lind sollen nicht gerade jene, die die grünen Inseln rief ins Her geschlossen haben, die in der Welt weder die englische „gentleness“ noch die bezaubernde Vielfalt des Lebens drüben missen möchten, die Frage stellen? Nicht mit dem üblichen, lärmenden Hohn, sondern mit Respekt und liebender Anteilnahme?

Worauf basiert also, wenn man es nüchtern und ehrlich betrachtet, heute die Sonderstellung Englands? Offensichtlich auf zweierlei: auf die Tatsache,'daß. England der mächtigste und verläßlichste Bundesgenosse der amerikanischen Supermacht ist und daß es noch immer zu weiten Gebieten der Welt ein Bündnis oder Herrschaftsverhältnis aufrechterhält, zu den Commonwealth-Ländern ein ökonomisch fundiertes Bündnisverhältnis, zu den verbliebenen Kolonien ein strategisch untermauertes Herrschaftsverhältnis. Es gilt nun zu untersuchen, wie weit diese beiden Fakten in die Zukunft hineinragen. Nimmt man an, daß die Länder der Montanunion allmählich in einem festen Block verschmelzen und daß die fast 160 Millionen Deutscher, Belgier, Franzosen, Holländer und Italiener in einem integrierten Wirtschaftsraum leben und arbeiten werden, so wird zweifellos dieser Bundesstaat von morgen schon kraft seiner ökonomischen und militärischen Kapazität zum natürlichen Bundesgenossen der USA werden. Nicht alle sich daraus ergebenden Konsequenzen müssen für England, das beispielsweise heute als der Hauptbundesgenosse der USA auf seinem Gebiet die größte bisher bekannte Konzentration von Vernichtungswaffen erlebt, nachteilig sein. Immerhin muß man sich darüber im klaren sein, daß eines der Motive für die Sonderstellung Größbritanniens einen relativ kurzen politischen „Halbwert“ besitzen mag. Wie sieht es mit der anderen Komponente aus? Zweifellos stellt das „Commonwealth of Nation“, dieser weltweite Klub, in dem die farbigen Mitglieder bald die Mehrheit erzielen werden, noch immer, einen der großen stabilisierenden Einflüsse in allen internationalen Angelegenheiten dar. Aber man darf sich wohl darüber keine Illusionen machen, daß schon vom rein Wirtschaftlichen her die zentrifugalen Kräfte immer stärker werden, und zwar nicht, weil die Briten in ihrer reichs- und staatenbildenden Aktivität keinen Erfolg, sondern weil sie zuviel Erfolg hatten. Länder wie Kanada, aber auch Australien und Neuseeland sind im Stadium raschen wirtschaftlichen Aufstiegs, während Großbritannien im wesentlichen das hält, was es gewonnen hat. Die Vorstellung, daß diese Länder wie zur Zeit der Königin Viktoria mit England ideale Austauschgebiete bleiben können, ist daher absurd und auch das monotone, heisere Empiregebrüll der Beaverbrook-Presse kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß all diese Länder immer mehr nach neuen und anderen Märkten Ausschau halten müssen und daß gleichzeitig von neuen Zentren industrieller Macht Kapital in die Commonwealth-Räume einströmen wird, Kapital, das London eben nicht mehr im entsprechenden Ausmaße bereitstellen kann. Bleiben die Kolonien. Gebiete, die noch lange nicht zur Selbstverwaltung fähig sein werden, und solche, wo es sich nur noch um Jahre und Modalitäten handeln kann. Lieberall aber waltet das Gesetz, nach dem die Briten als Weltreichsherrscher angetreten sind und das sich selbst in den Schriften und Verordnungen sehr früher indischer Verwältungsbeamten nachweisen läßt. Das Gesetz der Treuhandschaft, der Gedanke schließlicher Uebergabe in andere Hände. Was wird bleiben? Geblieben wäre nach 1945 die erste Stellung in einem großeuropäischen Reich. Die Führung des Kontinents, das, wonach die Europäer in der Stunde ihrer großen Prüfung im Grunde genommen verlangten.

Einen Augenblick schien diese Vision Churchill in ihren Bann gezogen zu haben, einen

Augenblick schien er die Größe einer Zukunft zu ahnen, die an der Größe des atlantischen und indischen Imperiums hätte gemessen werden können. Dann brach diese Hoffnung in seinem Herzen zusammen. Mißtrauen strömte ein; hatte der große Staatsmann in Den Haag noch mit echter Zuversicht gesprochen, so sollten seine Worte in Straßburg nur noch verdecken, daß er zu zweifeln begonnen hatte und England heraushalten wollte. Was jetzt bleibt, ist nur noch das Schlimmste zu verhindern: England, wirtschaftlich von Europa abgeschlossen, „a fools paradise“ — ein „Narrenparadies“ — in dem man es sich noch einige Jahre, gut abgeschirmt von der industriellen Konkurrenz, Wohlergehen läßt, in dem man Rationalisierung und Modernisierung getrost noch ein Weilchen hinausschiebt, in dem die Kämpfe zwischen Konservativen und Sozialisten (die, wie sich jetzt wieder herausgestellt hat, in ihren Ansichten über Erziehung und Landwirtschaft kaum mehr zu unterscheiden sind) für echte Auseinandersetzungen gehalten werden, „a fools paradise“, in dem man sich den Luxus endloser Streiks, restriktiver Gewerkschaftspraxis, eines veralteten Straßensystems und einer lässigen Arbeitsmoral leistet:

Der gegenwärtige Premier Harold Macmillan, der England auf genau die gegenteilige Weise regiert, wie Eden es getan, nämlich im Gegensatz zu seinem Vorgänger auf sehr lässige Wefse und ohne die Flut nervöser Direktinterventionen, mit Distanz und sehr viel Ueberlegung, gehört zweifelsohne zu den Engländern, die die große Gefahr erkannt haben. Das Studium der zwölfbändigen Historie Englands von Froudes, die er in den letzten Monaten zu lesen Zeit fand, wird ihm zweifelsohne die merkwürdige Tatsache an vielen Beispielen exemplifiziert haben, daß eine Nation oft durch eine ganz bestimmte, enge Pforte schreiten muß. Hinter dieser Pforte liegt ein weites Feld unvorhergesehener und unvorhersehbarer Möglichkeiten; aber keiner dieser Möglichkeiten kann genutzt werden, orine daß zunächst die Pforte durchschritten wird. Die kritische Frage für England ist im Augenblick der Anschluß an den europäischen Markt; hier steht

Schicksalhaftes auf dem Spiel. Würde England wirtschaftlich von dem riesigen europäischen Markt abgeschnitten, ohne bei einem statischen oder schrumpfenden Empirehandel Kompensation finden zu können, müßte es zweifelsohne zunächst den Versuch machen, amerikanische Hilfe zu erlangen, für die es nur in politischer Münze zahlen könnte, eine Münze, deren Silbergehalt, wie wir gesehen haben, von Jahr zu Jahr abnehmen wird. Hier aber ergibt sich eine Doppelironie der Geschichte. Sie besteht einerseits darin, daß ein England, das nach 1945 formend, gestaltend und bestimmend seinen Platz in Europa hätte einnehmen können, wäre es nur innerlich darauf vorbereitet gewesen, nun mühsame und ängstliche Verhandlungen führen muß, um durch die schmale Pforte der Freihandelszone überhaupt Eintritt zu erhalten. Und sie besteht anderseits darin, daß der Pförtner ein

Mann ist, der einmal ganz von England abhängig war und unter dieser Abhängigkeit gelitten hat, und der nun wissen muß, daß England sehr von seinen Entschlüssen abhängig sein wird. Wird de Gaulle klug und weitsichtig genug sein, um einzusehen, daß seine wirtschaftlichen Berater — die England draußen halten wollen — zwar im Detail recht haben, daß sie aber, was die große politische Linie anbelangt, völlig irren? Denn Europa kann England nicht ausschließen ohne einen furchtbaren Verlust zu erleiden, den Verlust von all der Begabung, all dem Talent, der Organisationsfähigkeit, Tapferkeit, Standhaftigkeit, Schrullenhaftigkeit, Vielfarbigkeit, Natürlichkeit, Anmut und nur schlummernder Fähigkeit, sich wieder auf Großes auszurichten, die nun einmal in den 50 Millionen Menschen auf der anderen Seite des Kanals eingebettet sind.

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