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Der Mann mit allen Eigenschaften

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ROBERT MUSIL, SÄMTLICHE ERZÄHLUNGEN. Verlag Rowohlt. 3 6 Selten. DM 10.80. — RATIO UND MYSTIK IM WERK ROBERT MUSILS. Von Elisabeth Albertsen. Verlag Nymphenburger. 195 Seiten. DM 12.80. — IDENTITÄT UND WIRKLICHKEIT BEI ROBERT MUSIL. Von Ulrich Schelling. Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur und Geistesgeschichte. Herausgegeben von Emil S t a i g e r. Atlantis-Verlag. 93 S. sFr. 12.—.

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ROBERT MUSIL, SÄMTLICHE ERZÄHLUNGEN. Verlag Rowohlt. 3 6 Selten. DM 10.80. — RATIO UND MYSTIK IM WERK ROBERT MUSILS. Von Elisabeth Albertsen. Verlag Nymphenburger. 195 Seiten. DM 12.80. — IDENTITÄT UND WIRKLICHKEIT BEI ROBERT MUSIL. Von Ulrich Schelling. Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur und Geistesgeschichte. Herausgegeben von Emil S t a i g e r. Atlantis-Verlag. 93 S. sFr. 12.—.

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Wie sehr der Dichter und Denker Robert Musil das geistige Leben der Gegenwart beeinflußt, das beweist nicht nur die große Zahl der Veröffentlichungen über ihn, sondern vor allem die schriftstellernde Generation nach ihm, die, wenn auch auf den ersten Blick nicht sichtbar, doch das Musilsche Erbe aufgenommen bat, mit dem wahrscheinlich ähnlich wie mit dem Roman Uäisses von Joyce die Wandlung des Romans im konventionellen Sinn verbunden ist.

Nun kann der Verlag Rowohlt erstmalig das erzählerische Werk Musils in einem Sammelband vorlegen, der nicht nur die frühen Veröffentlichungen „Das verzauberte Haus“, jetzt „Die stille Veronika“, und die „Vollendung der Liebe“ enthält, sondern auch die im Nachlaß zu Lebzeiten gesammelten kleinen Erzählungen. Der Name Musil ist unmittelbar verknüpft mit dem eines einzigen Werkes. Um so mehr ist man geneigt, die Erzählungen als poetische Vor- und Zwischenstufen des Romanfragments zu betrachten, als experimentelles Vorfeld für das letzte Experiment, das dann im Nebulösen verschwimmt. Tatsächlich hat Musil schon sehr früh, also vor der Veröffentlichung der Vereinigungen, Skizzen niedergeschrieben, die als Vorstufe des Mannes ohne Eigenschaften gelten können. Doch stellen gerade zu dieser Zeit die Erzählungen poetische Lösungsversuche dar für etwas, das zu umschreiben ebenso schwierig ist wie es schwierig ist, den Inhalt des Mannes ohne Eigenschaften nachzuerzählen. Es ist die Beschreibung eines seelischen Zustandes, wie ihn Veronika und Claudine in den „Vereinigungen“ erleben, die weitab von psychologischer Erhellung und damit ins Erklärbare gerückter Meßbarkeit den feinen Verästelungen und labyrinthi- schen Gängen eines nur momenthaft wirklichen und doch fühlbaren Seins nachspürt, „das zuweilen durch- die gleichgültig geformte Öffnung eines Augenblicks heraufschießt, unter der man sich selbst unerreicht in einem Strom von niemals Wirklichem dahinfließt, dessen, einsamen, weltfern zärtlichen Laut niemand, hört“. Die Beschreibung eines lautlosen Prozesses, der aber doch die Gewalt hat die äußere Wirklichkeit ad absurdum zu führen. So verändert sich die Welt für Claudine innerhalb von 24 Stunden, ohne daß äußere Umstände daran beteiligt wären. In den Erzählungen „Drei Frauen“ geht Musil andere Wege. Hier versucht er, dem Irrationalen nicht in dem Parallelunternehmen Intellektueller Höchstleistung, der Askese der Genauigkeit, beizukommen, sondern mit der Zeichenhaftig- keit einer Symbolik, die die Figuren einem gewissen märchenhaften i

Zauber umgibt, ihnen die beispielhafte Würde etwa der Helden in den Novellen Konrad Ferdinand Meyers verleiht. Sie befinden sich genau auf dem Schnittpunkt, wo die poetischen Lösungsversuche die denkerischen berühren, während sie im Mann ohne Eigenschaften vom Derikvor- gang überwuchert sind. Die Denkaufgabe gilt den Möglichkeiten der Seele in einer als säkularisiert, profanisiert vorausempfundenen Zeit, in der der Verfall der Ideologien als „Kraftakkumulatoren der Seele“ ein Vakuum schafft. Elisabeth Albertsen bezeichnet in ihrer Dissertation, die schon allein wegen des ausgezeichneten Stils, der die Musilsche Sprache in der Erklärung fortzuführen imstande ist, verdient, als Buch zu erscheinen, die Mystik Robert Musils als säkularisierte, profane Mystik, was wohl nur insofern stimmt, als er mit unendlicher innerer Distanz die Möglichkeiten mystischen Erlebens theoretisierend betrachtet und dabei die barocke Feuersymbolik ebenso in seine Erwägungen einbezieht wie etwa die moderne durchaus profane Naturfrömmigkeit. Vor allem in der Aufschlüsselung der Figuren rund um Ulrich leistet E. Albertsen interessante Beiträge. Unmittelbarer stellt sich der Aufsatz „Identität und Wirklichkeit bei Robert Musil“ dem Problem, denn erst die Aufgabe der Identität gebiert den Mann ohne Eigenschaften, gebiert eine ganz neue, revolutionierende Form der Dichtung, den Ahasver mit allen und keiner Eigenschaft, der im kalten Eis der Objektivität in der lässig distanzierten Ironie ständiger Reflexion Erlebnisse auf ihre Haltbarkeit sondiert, um zum Eigentlichen vorzustoßen; zur wirklichen Wirklichkeit.

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