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Der Mensch des Dorfes im Heute

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Obwohl auf vielen Kursen und Tagungen immer wieder von der Krise des Dorfes die Rede ist, obwohl führende Zeitschriften Artikelserien, ja Sondernummern zu diesen Fragen gebracht haben, ist der Effekt bedrückend. Die Entfremdung zwischen Stadt und Land wird von Tag zu Tag größer, und hüben und drüben macht sich ein merkwürdiger Unernst bemerkbar: man kann sich wohl bei Referaten und Debatten ereifern, aber es fehlt der Widerhall, es werden nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen, man geht wieder zur Tagesordnung über. Auch weit in die bäuerliche Jugend hinein ist diese seltsame Lethargie festzustellen. Gewiß ist hier schon viel geschehen, es gibt viel ehrliche Sammlung und redliches Wollen — der Schreiber dieser Zeilen steht ja selbst inmitten dieser Bestrebungen der österreichischen Landjugend —, hüten wir uns aber vor Überschätzung! Es gibt nun seit Jahren Hunderte von Fortbildungsschulen und Kammerkursen, es gibt bäuerliche Volksbildungsheime und Jugendverbände, und doch geht es noch immer bergab, noch ist die Landarbeitsflucht nicht zum Stillstand gekommen, im Gegenteil. Sicherlich würde es viel schlimmer sein, wären all diese Einrichtungen nicht geschaffen worden, sicherlich braucht es Geduld und Weile, bis diese vielen Bemühungen fruchtbar werden. Es ist aber noch ein anderes: es fehlt in unserer bäuerlichen Jugend nicht selten der gute Wille zum Denken, zur Besinnung, zu geistiger Arbeit, ja es kann vielfach sogar Überheblichkeit gegen alles, was nicht unmittelbar nützlich scheint, festgestellt werden. Es ist noch viel zuwenig Kern und viel zuviel Schale, ein ängstliches Klammern und Sorgen um die Oberfläche, um raschen, billigen Lebensgenuß. Ein Siebdrücken um die großen unumgänglichen Lebensfragen.

Und doch ist es vorab für Stadt und Land nötig, eine klare Erkenntnis dessen zu haben, was sich im bäuerlichen Raum geistig ereignet und worauf es ankommt.

Das Dorf ist heute der Schauplatz gewaltiger geistiger Umschichtungen. Deutlich erkennbar wiederholt sich im bäuerlichen Raum das gleiche, was das Bürgertum im 18. und das Arbeitertum im 19. Jahrhundert erlebt haben: der Einbruch des Materialismus auf breiter Front. Diesmal aber zu einem Zeitpunkt, in dem dieser an den Universitäten sichtlich in Überwindung begriffen ist und durch die neue ganzheitliche Schau der Naturwissenschaften mit ihrem Vorstoß in die Transzendenz immer stärkere Erschütterungen erfährt. Hier liegt aber nun gleich die entscheidendste Aufgabe jeder modernen bäuerlichen Volksbildung vor uns: diesmal zu sorgen, daß diese neuen Erkenntnisse von oben

rascher ins Dorf kommen, da der starke Substanzverlust der bäuerlichen Bevölkerung, die in Österreich derzeit nur noch 22 Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßt, es uns nicht erlaubt, zu warten, bis diese neuen Erkenntnisse von allein in die bäuerliche Welt gelangen. Hier haben wir heute aber auch die einmalige Chance, die inzwischen ja historisch gewordenen Fehlentwicklungen des Bürgertums und Arbeitertums im Bauerntum zu vermeiden.

Der bäuerliche Mensch muß also die Schwierigkeit seiner Situation genau erkennen und innerlich bereit sein, einmal selbst alles Notwendige zu tun, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Die

genaue Kenntnis dessen, was sich geistig in der bäuerlichen Welt vollzieht, ist aber auch für den Städter nötig und besonders für den Gebildeten, der den einfachen Menschen des Dorfes in dieser Schicksalsstunde nicht allein lassen darf. Es ist bedrückend, wie oft sehr gebildete Menschen glauben, am Dorf und seinen Menschen vorbeileben zu können, auch solche, die draußen leben. Hier muß sich immer klarer die Erkenntnis durchsetzen, daß dies Fragen sind, die alle angehen. Wir alle sind mitschuldig am geistigen Niedergang des Dorfes, wir sind daher auch mitverantwortlich. Es sind hier viele' Sünden gutzumachen. Sünden jener liberalen Bildungsschicht des Dorfes, die sich ihrer Verantwortung und der Bedeutung ihres Vorlebens für das Dorf jahrzehntelang nicht bewußt gewesen ist.

Was tut nun not

Not tut zunächst ein großes Emstmachen in Stadt und Land! Wir dürfen uns auch nicht mit Festen und Großveranstaltungen über die wirkliche Situation hinwegtäuschen. Damit soll nicht etwa einem falschen Pessimismus das Wort geredet werden, aber es gibt auch einen richtigen Pessimismus, und der tut uns not. Jener, von dem Guardini in seinem Buch, „Das Ende der Neuzeit“, sagt: „Er ist die bittere Kraft, die das tapfere Herz und den schaffensfähigen Geist zum dauernden Werk befähigt." Aus diesem richtigen Pessimismus und Ernst heraus müssen wir immer den Mut zur Wahrheit haben. Klar sehen, was ist, und die Konsequenzen ziehen, darauf kommt es a n ! Aus diesem tapferen Ernst heraus dann aber nicht nur über die Krise reden — wieviel ist nicht zerredet worden in diesen letzten Jahren! —, sondern immer wieder praktisch versuchen, sie zu lösen. Es wird dabei notwendig sein, oft ganz klein anzufangen, sich nicht zuviel auf einmal vorzunehmen. Für den jungen Menschen des Dorfes etwa wird das heißen, von den gegebenen Bildungsmöglichkeiten intensivsten Gebrauch zu machen, einen Kurs nicht um des Zeugnisses willen zu besuchen, sondern um zu arbeiten und zu lernen, um geistig wirklich lebendig zu werden. Nicht den entscheidendeh Fragen auszuweichen,

sondern mutig in sie hineinzusteigen. Für den Gebildeten aber wird das heißen, Helfer des einfachen Volkes zu sein, weithin volksfremdes Wesen aufzugeben. Es darf heute für ihn auch keinen Urlaub im althergebrachten Sinne mehr geben, auch da hat er noch Möglichkeiten, zu geben und zu empfangen, die nicht ungenützt bleiben dürfen. Von seinem Gespräch mit den Menschen des Dorfes wird viel abhängen. Auch für ihn!

Auch der bäuerliche Mensch hat heute ein Recht, immer klarer zu erkennen, was der Mensch ist und was sein Wesen ausmacht. Zu erkennen, daß das neuzeitliche Menschenbild, das jetzt erst mit dem Fortschrittsglauben seinen Weg ins Dorf nimmt, im Schwinden ist, daß der

Mensch nicht das ist, was der Materialismus und Positivismus, was Idealismus und Existentialismus in ihm gesehen haben, daß er sich weder aus dem tierischen Leben herausentwickelt hat, noch eine „geräuscherzeugende Erscheinung“ ist, daß er sich nicht in mechanische, biologische, soziologische und psychologische Kategorien einschließen läßt, sondern vom Geist bestimmt wird. Daß der Mensch, dessen Bild heute im Heraufdämmern ist, nicht eingebaut ist in einen Reizreaktionsmechanismus, sondern daß er vor allem endliche Person ist, „unaufhebbar in seiner Eigenständigkeit, unverdrängbar in seiner Würde, unvertretbar in seiner Verantwortung" (Guardini). Daß er angerufen ist von Gott und daß er die volle Freiheit hat, die Welt zu bewahren oder zu zerstören. Er kann „nein" sagen, weil er, wie Max Scheier sagt, der Natur gegenübersteht. Als Geschöpf steht er wohl in einem inneren Verhältnis zur Welt. Aber er ist der große Asket, der sich auch enthalten kann, wenn er will.

Um die Sichtbarmachung dieses Menschenbildes, um die Weckung solcher Entscheidungsfähigkeit wird sich die bäuerliche Volksbildung in den kommenden Jahren immer mehr bemühen müssen. Denn auch Untergang oder Aufstieg des Dorfes werden letztlich nicht von wirtschaftlichen und sozialen Fragen ab-

hängen, sondern vom Menschen des Dorfes. Der richtige Gebrauch der Macht aber, die damit in seine Hände gelegt ist, wird von der Gesinnung abhängen, welche die Macht lenkt. Und hier erwachsen die weiteren großen Aufgaben bäuerlicher Bildungsarbeit in der Betonung der charakterlichen Erziehung, in der Schärfung der Verantwortlichkeit des einzelnen und in der Weckung des Gewissens.

Man möge nun nicht glauben, daß es nicht möglich ist, mit bäuerlicher Jugend über diese Dinge zu sprechen. Jeder, der es einmal im lebendigen Gespräch versucht hat, weiß, wie erschütternd der Widerhall sein kann. Der bäuerliche Mensch von 1952 ist nicht mehr der vor 1938. Kriegserlebnis, das Hinausgeworfensein in die Welt, Gefangenschaft und Bedrohung der Heimat haben auch ihn in eine tiefe Existenznot getrieben. Er wartet auf die Durchleuchtung dieser Existenz und ist dankbar, wenn ihm ein Ziel gesteckt wird. Es krempelt sein Leben um und steigert seinen Mut zum Opfer und seinen Willen !zur Ordnung. Wieviel hoffnungsvolle Jugend habe ich bei solchen Gesprächen in den letzten Jahren kennengelernt, und wie verbissen sind sie im Sichbehaupten und -bewähren! Und immer noch hat sich gezeigt, daß sich an das weithin einzige wirkliche Erlebnis des vergangenen Jahrzehnts, das der Kameradschaft, fiuchtbar anknüpfen ließ, daß es die Brücke bilden kann zu jener notwendigen Solidarität vor den kommenden Aufgaben und Gefahren. Dieses behutsam übernommene und gepflegte Kameradschaftserlebnis bildet auch den stärksten Kitt aller heutigen Landjugendorganisationen. Die Entscheidungen werden freilich immer nur dort fallen, wo der einzelne seinem Schöpfer gegenübersteht, wo er von ihm angerufen ist und bereit wird, den ihm durch Wortverkündigung, Seelsorge und Liturgie bekannt und vertraut gewordenen sakramentalen Christus und den des Evangeliums bewußt wieder in sein Leben hineinzunehmen. Erfüllt von einem tiefen Vertrauen auf Gott, und von einer neuen Tapferkeit des Herzens in seiner christlichen Haltung.

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