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Der Mensch nebenan

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NEBEN DER GLASTÜRE hängt ein eingerahmtes, kunstvoll mit der Hand geschriebenes Plakat im Format 30 X 20 Zentimeter, der Anfangsbuchstabe schön rot als Initiale mit etlichen Schnörkeln verziert: „Allen unseren werten Kunden wünschen wir fröhliche Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr.“ Ein Herr bietet dem Ankömmling — wieviel er wert ist, wird sich gleich zeigen — einen Platz vor seinem Schreibtisch an, auf dem etliche Aktenmappen, einige beträchtlich angeschwollene und zwei sehr abgemagerte, liegen.

„Sie suchen also ein Zimmer in Untermiete. Soll es ein Komfortzimmer sein, ein Appartement oder ein übliches?“ Dabei blättert der Mann in der einen mageren Mappe, sie ist blaßgrün wie die abgestorbene Hoffnung, „das übliche“ zu bekommen.

„Was ist der Unterschied zwischen diesen Gattungen?“ fragt man sofort.

„Der Unterschied liegt für Sie im Preis, für uns auch in der Mühe, ein Zimmer nach den speziellen Wünschen zu finden. Unsere Unterscheidung — sie ist anderwärts vielleicht nicht so — bemißt die Güte des Zimmers nach der Lage, also Stadtnähe oder Cottage, nach Gartenbenützung, Verkehrsverhältnissen, Garage...“'

„Gibt es denn Untermieter mit einem Wagen?“ frage ich erstaunt. Der Mann lächelt milde. „Wir haben bereits einige solche Kunden vermittelt. Reisende großer Firmen, die regelmäßig nach Wien kommen und ein ruhiges Daheim, aber keinen Hotelbetrieb suchen, eine gewisse, hm, Selbständigkeit; auch Künstler, bitte, die auf Tourneen ungestörter in solchen Zimmern proben können, und so weiter ... alle waren bei uns zufrieden, mein Herr, auch Sie werden... darf ich nur fragen, ob Sie alleinstehend sind?“ (Es ist ihm trotz Seitenblicken nicht gelungen, sich von meinem Familienstand zu überzeugen, denn gerade auf der rechten Hand habe ich den Handschuh an.) „Ich meine natürlich,' ob Sie verheiratet sind, hm, etwas anderes, hm, erlaubte ich mir nicht zu fragen, aber wir haben so eigene Vermieter. Ja, und dann ist die Frage, ob Sie, wenn verheiratet, Kinder besitzen und wieviel, ferner — mitunter entscheidend, ob Sie tierliebend sind, ob Sie etwa ein Katze oder einen Hund mitbringen ...“

Das Versteckenspiel ist aus. Ich sage ihm, zu welchem Zwecke ich gekommen bin. Der Herr ist mit einem Male bedeutend weniger geölt. „Was unser Unternehmen betrifft, kann Ihnen solche geschäftliche Auskünfte, deren Tragweite ich nicht übersehen kann, nur unser Chef geben.“

„Dann melden Sie mich bei Ihrem Chef.“ „Der ist auswärts bei einer Ftealitätenver-handlung.“ ',''•

MAN BEGIBT SICH GEWÖHNLICH mit einer Sammlung säuberlich aufgeklebter Anzeigenausschnitte in der Brieftasche auf die Reise quer durch die Stadt. Sie wird zu einer Reise von unten nach oben, von den wannen Regionen menschlicher Stimmung bis zu Eislüften. Da ist einmal jene Stelle, die mich sogleich an den erst so freundlichen Herrn im Büro erinnert, weil man sofort eine Frage stellt: „Sind Sie Trinker? Rauchen Sie?“ Nein — also dann darf man das Zimmer anschauen. Es sieht nicht unfreundlich aus, ist ganz geschmackvoll möbliert — mit Ausnahme der Lichtquelle, die von einem Lampenkranz kommt, der einem Hirschgeweih aufgesetzt ist. Preis: 300 Schilling. „Licht, äquivalent dem Gesamtumfang der Wohnung bemessen, kommt dazu.“ Ob die Wohnung groß sei, frage ich. „Nicht groß, nur drei Zimmer. Ich habe noch ein Zimmer vermietet“, setzt die Dame hinzu. Ich rechne nach: Wenn sie für das andere Zimmer ebenfalls 300 Schilling verlangt, hat sie auf jeden Fall ihre eigene Miete kostenlos, vermutlich aber zumindest 30 Prozent Überschuß.

EINE ENERGISCHE STIMME RUFT LAUT: „Herein!“ Ein Mann in einer Trachtenjoppe öffnet, hinter ihm steht eine Frau im Schlafrock. Sie schiebt den Mann gleich auf die Seite, als sie hört, es beträfe das annoncierte Zimmer. „Sie sind ja glücklicherweise kein Student“, beginnt die Unterhaltung. „Mit denen habe ich nur schlechte Erfahrungen gesammelt. Lange in die Nacht hinein auf, Schlüssel verloren, lange Dispute mit Freunden — ja, was ich noch sagen wollte, Sie können mit uns fernsehen, das ist im Preis nicht inbegriffen! Haben Sie einen Transistorenempfänger? Nein? Das ist gut, ich kann zwei Radios zugleich nicht hören.“ Ganz meinerseits, versichere ich und frage nach dem Preis für das „gepflegte“ Zimmer, wie man es nennt, das mir aber keineswegs so vorkommt. „Zweihundertachtzig“, lautet die Antwort.

NOCH VIELE ANDERE ERLEBNISSE habe ich gesammelt. So etwa in dem stadtnahen Heim, wo man für ein möbliertes Zimmer („mit Badbenützung“, hebt man hervor) mir fünfhundert Schilling abzuverlangen gesonnen ist. „Eine Musikstudentin war bereits hier und hat mir — im Vertrauen gesagt — sechshundert geboten. Aber ich kann kein Gefiedel ausstehen.“ Dabei erinnere ich mich zufällig an ein vor kurzer Zeit gelesenes Inserat, worin eine Musikstudentin bis zu 700 Schilling für ein möbliertes Zimmer mit Bad geboten hat. Musik scheint auch bei den Vermietern der Musikstadt Wien in hohem Kurs zu stehen. Bei der nächsten Adresse kam ich schon als zweiter. Ein Ingenieur aus Linz, der zeitweise geschäftlich in Wien zu tun hat. hatte das angebotene Zimmer bereits zum Preis von 600 Schilling gemietet.

DIE SCHÄTZUNGEN SCHWANKEN und die veröffentlichten Zahlen über die Untermieter sind nicht immer ganz zuverlässig in Wien. Man redet von 20.000, ja von 30.000 Untermietern — aber inwieweit sie „echte“ Lintermieter sind, hat noch keiner gek'ärt. Echte: also dem Vermieter fremde Personen, durch keine verwandtschaftlichen Bande verknüpft; nicht der Sohn, nicht die Tochter, nicht einer der beiden als Verheiratete bei den Eltern, nicht die Schwiegermutter, die Großmutter und so fort. Klar aber ist, daß die Zahl der Untermieter mit dem Industrialismus wuchs und verstärkt wurde durch die Pendlerbewegung. Die Pendler wohnen nicht immer bei den Familienangehörigen, sie sind die Woche über in der Stadt, oft länger, wenn man am Samstag und Sonntag Überstunden macht. Diese Erscheinung des „Menschen nebenan“ wirkt keineswegs bedeutungsloser als vor 40 Jahren. Zugleich erhebt sich die Frage, ob der Hauptmieter — wie einst — aus wirtschaftlichen Gründen allein vermietet, auf die Zubuße angewiesen ist; oder ob er die Untermiete als erwünschte Erhöhung seines Standards betrachtet; als die Finanzierung des Fernsehapparats, vor dem der Untermieter mitunter kostenlos (!) zuschauen darf; als Beitrag für den abzuzahlenden Eisschrank, dem ein Mixer, dem eine amerikanische Küche und der wieder etwas anderes folgt; als ein raffiniert durchdachtes System, wie man als Alleinstehender eine große und zuweilen nicht billige Wohnung dennoch halten kann, weil Untermieter das Defizit zum Hauptmietzins bequem decken. Man darf aber auch nicht übersehen, wie schwer sich die in Wien fremden Studenten aus den Bundesländern mangels der in nötigem Maße fehlenden Studentenheime und Internate tun. Mancher tüchtige Facharbeiter — ich kannte einen in Oberösterreich — und mancher fleißige Bauer mit viel Kindern kann seinen Sohn nicht in die Stadt schicken, weil das Wohnproblem unlösbar ist; nicht jede Familie hat Verwandte in der nächsten Hochschulstadt, nicht jeder junge Mensch einen Industriellen zum Vater, der (wie kürzlich inseriert wurde) für seinen Herrn Sohn ein Zimmer mit Komfort, Frühstück, Bad und Telephon mieten kann.

JE MEHR MAN HERUMFRAGT, desto häufiger stößt man auf Fälle, wo das finanzielle Moment für das Vermieten nicht maßgebend ist. Es gibt — neben den angedeuteten materialistischen Beweggründen — aber Fälle, die das Verhältnis vom Hauptmieter zum Untermieter in eine Sphäre rücken, welche eines Philosophen, eines Psychologen, eines Arztes würdig wäre und würdiger der Feder eines großen Dichters. Die Philosophen und Psychologen werden Menschen finden, denen vor dem Alleinsein graut, die sich vor Fremden, welche an ihre Türe klopfen, fürchten und in einem ständig anwesenden Mann — besonders ältere Frauen neigen dazu — eine Art Sicherheitskette Nr. 2 vor der Türe sehen. Der Arzt hinwieder erzählt von Fällen, wo die Furcht, plötzlich hilflos zu erkranken (Leute ohne Verwandte), in einem anfälligen Organismus die nahezu ebenso krankhafte Sucht nach Betreuung auslöst, wenn es auch nur in den Abendstunden wäre. Alte Menschen, die eine Wohnung von den Eltern ererbt haben, wollen sie trotz der Größe nicht aufgeben; zu viele verklärte Erinnerungen haften an den Mauern; halten, halten will man sie, und wenn es um den Preis eines Untermieters wäre.

OFT ABER BILDET SICH EIN BAND zwischen dem Vermietenden und dem Mieter. Nicht alle Beziehungen sind weit vom Unpersönlichen, Zufälligen entfernt. Jedesmal, wenn einem eine solche Geschichte von zuverlässiger Seite erzählt wird oder (wie in diesem Fall der jüngsten Zeit) vom Untermieter berichtet wird, rührt sie irgendwie an das Herz. Da ist in den Tagen vor Weihnachten die Sache mit dem versteckten Fichtenzweig gewesen, den die Kriegerswitwe auf dem Vorzimmerschrank aufbewahrte, als wäre er ein großes Geheimnis. „Und doch weiß ich, daß sie jedesmal am Heiligen Abend mir einen Zweig mit einer Kerze darauf hinlegt, während ich im Dienst bin, damit ich, der ich keine Eltern habe, auch weiß, daß Weihnachten ist.“ Solches Wissen um den Menschen nebenan, aus wenig Freude und viel Leid erwachsen, könnte es wirksam sein in einem, wenn auch noch so modernen Ledigenheim mit Lift, Radio, Zentralheizung und Türtelephon? Und denkt man genau nach: wir sind alle Untermieter. Eines Herrn freilich, der keinen Zins einhebt; der nur verlangt, liebreich zum Nächsten zu sein. Das wiegt für manche Menschen mehr als Geld.

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